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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

578–580

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ceccarelli, Paola, Doering, Lutz, Fögen, Thorsten, and Ingo Gildenhard [Eds.]

Titel/Untertitel:

Letters and Communities. Studies in the socio-political dimensions of ancient epistolography.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2018. IX, 373 S. Geb. US$ 105,00. ISBN 978-0-19-880420-8.

Rezensent:

Hans-Josef Klauck

In der mit einer ausführlichen Bibliographie versehenen Einleitung (1–39) weist das Herausgeberteam, dessen vier Mitglieder ausnahmslos einschlägige Studien zur griechischen und jüdischen Briefliteratur, zu Plinius und zu Cicero vorgelegt haben, darauf hin, dass der Begriff community aus dem Titel under-theorized bleibt, ebenso auch letter, das als übergreifende Bezeichnung für eine sehr versatile Gattung oder Textsorte aufgefasst wird. Es fällt gar nicht so leicht, community in dem hier angestrebten Sinn ad­äquat zu übersetzen. Die etymologische Entsprechung »Kommunität« alleine wäre unzutreffend, aber auch »Gemeinde« und »Ge­meinschaft« reichen nicht aus, denn teils sind Städte (»Kommunen«), teils soziale Netzwerke und Gruppen gemeint. Als ein schönes Beispiel für die Pflege einer philosophischen Gemeinde/ Ge­meinschaft durch Briefe, auf das der Band selbst nicht mehr zurückkommt, werden Epikur und seine Schule angesprochen und mit christlicher Briefkultur verglichen (10 f.14 f.). Von den 13 Bei trägen des Bandes, die griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Briefen gewidmet sind, greife ich im Folgenden vier heraus, die mir aus dem einen oder anderen Grund besonders ge­lungen erscheinen (über den vollständigen Inhalt gibt die Internetseite des Verlags Auskunft).
Bianca-Jeanette Schröder, »Couriers and Conventions in Cicero’s Epistolary Network« (81–100), beklagt, dass die Rolle von »Briefträgern« aller Art in der Forschung zwar öfter thematisiert, ihr direkter Einfluss auf die Gestaltung von Briefinhalten aber nicht hinreichend reflektiert wird. Der Überbringer schaut dem Autor bei der Abfassung quasi über die Schulter, wird auf seiner Reise zu einem potentiellen Leser und dient den Adressaten als lebendiger Paratext. Diesen Sachverhalt illustriert S. mit schlagenden Beispielen aus dem Briefkorpus Ciceros, der relativ häufig die vorhandene oder mangelnde Zuverlässigkeit eines Briefboten reflektiert und seine Themen darauf abstimmt. Dass Kuriere aus dem engeren Familienkreis nicht schon per se ein Vorteil sind, sondern sogar ein besonderes Problem darstellen können, zeigt folgende Episode: Cicero sendet seinen Neffen Quintus mit einem Brief an Atticus und preist in diesem Schreiben überschwänglich die Fortschritte, die Quintus gemacht hat. Zugleich schickt er auf einem anderen Weg einen Eilbrief los, der Atticus früher erreicht und diesen warnt, das Preislied auf Quintus bitte nicht ganz wörtlich zu nehmen. Dass all dies von Relevanz ist für den Brieftransport in christlichen Zirkeln, liegt auf der Hand.
Mit Paola Ceccarelli, »Letters and Decrees: Diplomatic Protocols in the Hellenistic Period« (147–183), gelangen wir zur Ausgestaltung politischer Machtverhältnisse durch Briefe und Dekrete. Die Briefe stammen in dem Fall von hellenistischen Königen (darunter Attalos I, Antiochus III, Ptolemäus IV), die Dekrete von Städten (darunter Athen und Chalkis). Der Unterschied lässt sich bereits linguistisch festmachen: Präskript, erste Person, Gegenwartstempus und Imperative bei den Königen; ἐπειδή  …  ἔδοξε, dritte Person, Vergangenheitstempus und Infinitive bei den Städten. Zur De­monstration wählt die Autorin ein sehr einleuchtendes Beispiel. Die Stadt Magnesia am Mäander fasste 208/7 v. Chr. den Beschluss, zu Ehren ihrer Artemis Leukophryene (Artemis »von der weißen Augenbraue«) agonistische Spiele im vierjährlichen Rhythmus einzurichten, mit goldenen Siegeskränzen, auf der Rangstufe der pythischen Spiele. Sie übermittelte diesen Beschluss durch Ge­sandtschaften an die ganze Oikumene. Das Unternehmen war ein großer Erfolg. Es liefen über 165 positive Antworten ein, darunter von mindestens fünf Königen und entsprechend vielen Städten. Die Bewohner von Magnesia renovierten daraufhin, wie vorher schon geplant, ihre Agora, bauten einen neuen Tempel für Artemis und meißelten den größeren Teil der Antworten auf einer Wand der westlichen Stoa an der Agora ein, und zwar die Briefe der Könige zuerst an prominenter Stelle und in Großbuchstaben, dann den ganzen Rest. Etwa zwei Drittel dieses Bestands sind erhalten ge­blieben. Der Fund gestattet es der Forschung, detailliert die Formen und die diplomatische Sprache der Texte herauszuarbeiten. Nur auf den ersten Blick wirken sie einförmig. Im Einzelnen ergeben sich feine Nuancierungen, wie oben schon angedeutet. Erwäh nung verdient z. B. der differenzierte Umgang mit der Freundschaftsthematik, die zum festen Inventar der Briefideologie gehört. Die Städte untereinander betonen ihre Freundschaft (φιλία), Vertrautheit (οἰκειώτης) und Verwandtschaft (συγγένεια), die Könige halten sich diesbezüglich vornehm zurück und gerieren sich lieber als die großen Wohltäter, obwohl sie Briefe schreiben. Dieses identitätsstiftende epigraphische Archiv in Magnesia verdient nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil Laura Nasrallah vor Kurzem erst den Vorschlag gemacht hat, die Neigung der frühen Christen zum Erstellen von Briefsammlungen auf solche Erfahrungen im öffentlichen Raum ihrer Städte zurückzuführen (in: Authority and Identity in Emerging Christianities in Asia Minor and Greece, Leiden 2018).
Der Beitrag von Ingo Gildenhard, »A Republic in Letters: Epistolary Communities in Cicero’s Correspondence, 49–44 BCE« (205–236), nimmt schon deshalb für sich ein, weil er sehr gut geschrieben ist, mit treffenden ironischen Spitzen. Der Sache nach geht es um die letzten Zuckungen der römischen Republik, wie sie sich in Ciceros Briefen aus dieser Zeit spiegeln. Ihre Lektüre durch G. führt vor, wie sich aus solchen Texten ein Stück spannender und bewegender Zeitgeschichte konstruieren lässt. Cicero, von Cäsar begnadigt und nach Rom zurückgekehrt, bewegt sich auf dünnem Eis, und er weiß es. Cäsar gegenüber, den er als Alleinherrscher und Gewalthaber bezeichnet, versucht er es mit Appellen an gemeinsame literarische Interessen, die Freude am Bonmot und verbleibende Restbestände von Humanität. Zugleich arbeitet er daran, mit exilierten Republikanern durch Briefe eine virtuelle Kommunität zu schaffen. Es geht ihm darum, ihre Moral hochzuhalten, sie zu trösten, ihnen Aussicht auf Rückkehr zu machen und nicht zuletzt seine eigene Existenz in Rom in der Nähe des Diktators zu rechtfertigen. Echte exegetische Probleme tauchen auf: In einem an Cäsar gerichteten Empfehlungsbrief (Ad fam. 13,15) formt Cicero eine Katene aus mehreren Homerzitaten und einer Zeile aus Euripides, durchsetzt mit anfeuernden Kommentaren unnachgiebiger Republikaner. Der Tenor läuft daraus hinaus, dass Cicero sich als gebranntes Kind in Zukunft bescheiden und nicht mehr nach politischem Erfolg streben wird (hätte er das nur konsequent getan). Die Auslegung steht vor der Frage, wieviel Kontext der Zitate er bei seinen Adressaten zusätzlich evozieren will – eine Situation, die Neutestamentlern, die es mit Zitaten aus dem Alten Testament zu tun haben, nur allzu vertraut vorkommt. Außerdem widmet G. zwei Seiten der conscientia, dem Gewissen. Für dieses Konzept ist Cicero im 1. Jh. v. Chr. unser wichtigster Zeuge überhaupt.
Ein Glanzstück des Bandes bildet der Schlussbeitrag von Catherine Edwards, »Conversing with the Absent, Corresponding with the Dead: Friendship and Philosophical Community in Seneca’s Letters« (325–351). Stichworte sind: Freundschaft, Gemeinschaft, Anwesenheit trotz Abwesenheit, und das über den Tod hinaus. Sehr willkommen ist ihre Feststellung, dass Seneca den brieflichen Charakter seiner Beziehung zu Lucilius als »ultimately more efficaci-ous from the perspective of philosophical development« ansieht »than meetings in person«. Das hilft gegen jede einseitige Privilegierung der Face-to-face-Situation und der mündlichen Kommunikation. Briefe sind »the ideal medium for a truly philosophical friendship« (327). Um die moralischen Briefe von Seneca herum formiert sich, vielleicht schon im Ursprung, eine lesende Kommunität, in deren Mitte Größen aus der Vergangenheit wieder lebendig werden. Seneca projiziert seine epistolare Präsenz auch in die Zu­kunft: »Das sage ich zur Nachwelt« ( Ep. 8,6). Es zeichnet sich so etwas ab wie eine Philosophie des Briefschreibens. Außerdem fällt auf, dass die Eschatologie – wie fast immer – auch hier am Schluss steht, aber das sagt ja schon ihr Name.
Vier Register (Sachen, Namen, Autoren, Stellen) erschließen den gediegen ausgestatteten, fehlerfreien Band in vorbildlicher Weise. Erfreulich ist auch, dass sich bewahrheitet, was in der Einleitung festgestellt wurde: Theologie und klassische Philologie haben sich speziell auf dem Gebiet der Erforschung antiker Briefliteratur nie völlig voneinander getrennt. Briefe verlangen einfach nach einem interdisziplinären Zugang. Wer sich mit antiken Briefen gleich welcher Herkunft beschäftigt, kommt in Zukunft an diesem wichtigen Band nicht vorbei. Alles in allem: ein empfehlenswertes Buch!