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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

570–571

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Di Fabio, Udo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation und die Ethik der Wirtschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VII, 92 S. Kart. EUR 12,00. ISBN 978-3-16-155611-1.

Rezensent:

Ulrich Blum

Wie wirkt der Geist des Protestantismus auf das Modell und die Realität der Sozialen Marktwirtschaft und wo spielt die christliche Ethik, insbesondere die der Reformation, eine wichtige Rolle? Die Antwort auf diese Frage, diskutiert anlässlich einer Tagung im Jahr des Reformationsjubiläums, findet sich in vier Aufsätzen verschriftlicht, die den Sachverhalt aus der Sicht der Wirtschaftsgeschichte, der evangelischen und katholischen Theologie und des (Verfassungs-)Rechts beleuchten.
Werner Plumpe argumentiert in seinem Beitrag »Die ökonomische Bedeutung des reformatorischen Denkens. Zur wirtschaftshistorischen Bedeutung des religiösen Wandels im 16. Jahrhundert«, dass gerne, gerade im Nachlauf der Weltfinanzkrise, Markt- und Wettbewerbsversagen als Folge fehlender Moral angesehen wird, obwohl die Moralfähigkeit des Markts eigentlich nicht im Individuum, wie durch die christliche Lehre zunächst insinuiert, sondern auch in der Institutionalisierung des Marktes liegen müsste, der dann seine eigene Rationalität besitzt. Er zeigt deutlich, dass die Vorstellung von Max Weber, der asketische Protestantismus wäre ein wesentlicher Treiber des Kapitalismus gewesen, nur einige der wichtigen Aspekte erfasst, zumal er zunächst einmal eher als Eliteprojekt gedacht war, der große Erfolg des Kapitalismus aber darin liegt, die Massen erfasst zu haben. Dadurch spielt auch das, was als Sozialdisziplinierung bezeichnet wird, eine wichtige Rolle, nämlich der Wandel von einem Alimentationssystem für Arme und Schwache zu einem System von Fördern und Fordern. Er kommt zu dem Schluss, dass besonders der mit der Reformation verbundene Bildungsschub, also das Herausbilden eines breiten Humankapitals, wichtige Netzwirkungen entfaltete, was sich auch mit quantitativen Analysen des Verfassers dieser Rezension zur Reformationszeit deckt.
In seinem Beitrag »Die katholische Soziallehre und die Herausforderung der Freiheit« zeigt Reinhard Kardinal Marx, dass Freiheit der rote Faden ist, der die Geschichte der Sozialenzykliken seit Rerum Novarum (1891) begleitet. Kreativität wirkt als ursprünglicher Schöpfungsauftrag freiheitsbegründend, und damit wird Wettbewerb auch zu einem Teil eines sozialgebundenen Mittels zur Freiheit. Institutionelle Anforderungen an den Markt können abgeleitet werden, insbesondere an seine Werterückbindung, was auch die Väter des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft, beispielsweise Walter Eucken und Ludwig Erhard, postulierten. Freiheit und Verantwortung stehen in einem Spannungsverhältnis, weshalb es menschliche Vernunft braucht – sittlich unterfüttert –, um diese zu leben. Eine nicht intendierte Folge der Reformation war, so Kardinal Marx, dass die Diskussion über die christliche Ethik ihre Anschlussfähigkeit an den politischen und philosophischen Diskurs zunehmend eingebüßt hat, was auch der damit einhergehenden verstärkten Trennung von Kirche und Staat geschuldet ist. Offensichtlich bedarf es zur moralischen Unterfütterung des Marktes einer Tugendethik, bei der das Individuum nicht nur das tut, wozu es verpflichtet ist, sondern auch darüber Hinausgehendes. Hier nimmt er Rekurs auf Adam Smith, aber auch auf Immanuel Kant, um zu zeigen, dass nur hierdurch der Rahmen für Freiheit gesetzt werden kann. Das Ringen um das Menschenbild wird zum Thema zu verantwortender Freiheit und sozial funktionsfähiger Märkte.
In seinem Beitrag »Weltlicher Gottesdienst zur Aktualität der reformatorischen Wirtschaftsethik« nimmt Wolfgang Huber Rekurs auf die laientheologisch interpretierte Weberthese, dass der weltliche Erfolg Garant für Erlösung sei – an die aber noch nicht einmal Christen in Führungspositionen glauben. Vielmehr sieht Wolfgang Huber in Martin Luther einen Innovator, und der Kern läge in der Rechtfertigungslehre, also der Aussage aus dem Pau-lus-Evangelium, dass der Mensch aus Gnade Gottes gerechtfertigt und dadurch frei sei, was dem Menschen insbesondere auch sozial zu nutzenden Gestaltungsraum gibt. Märkte dürften daher nicht allein ihren Eigengesetzlichkeiten dienen. Jeder Mensch sei gleichzeitig Herr und Diener. In der Erfüllung in der Arbeit leiste er einen weltlichen Gottesdienst. Damit gewinnt der Begriff des Berufs neuen Inhalt. Auch gäbe es keinen besonderen Zugang zur Gnade Gottes für bestimmte Gruppen, insbesondere Mönche – man möchte sagen: Zugang zur Gnade kennt keine Arbeitsteilung.
Udo di Fabio postuliert in seinem Beitrag »Reformatorische Ethik zwischen Logik der Wirtschaft und Privatautonomie des Lebensalltags«, dass die protestantische Ethik eine Folge der interdependenten Entwicklung von Geisteshaltung und Realität des modernen Wirtschaftslebens, insbesondere aus Oberitalien kommend, sei, deren Strömungen Martin Luther synthetisiert. Die alte Kirche sei, nicht nur aufgrund ihrer Traditionsbestände, in Konflikt zur seinerzeitigen Lebensrealität von kirchlicher Korruption und Verwahrlosung geraten. Die Logik des Geldes und der Vertragsbeziehungen habe es erforderlich gemacht, die Wertestrukturen auf einen neuen Pfad zu setzen, der die Verantwortung des Individuums ins Zentrum stellt. Aber: Aus der Sicht Luthers wird der Mensch, ganz wie später auch Theologen wie Søren Kierkegaard oder Philosophen wie Jean Paul Sartre postulierten, in die Welt geworfen, weshalb die Orientierung an den Schriften ein Haltepunkt ist, der eine Rahmensetzung darstellt, um Beruf und andere Pflichten gleichermaßen effizient und sinnvoll auszufüllen.
Fazit: Deutlich wird, wie Martin Luther und auch Johannes Calvin dem Beruf eine ethische Unterfütterung für moralisches Verhalten geben, dem sich auch die katholische Kirche in ihrer Soziallehre nicht entzieht. Im Zentrum stehen Freiheit und Verantwortung, und ihre Widersprüche können nur produktiv durch Ordnung aufgelöst werden, die einerseits durch Religion, ande-rerseits durch den säkularen Staat bereitgestellt wird. Modernes Wirtschaften erfordere eine akzeptierte Werterückbindung auf der individuellen Ebene ebenso wie auf der Ordnungsebene – ob der säkulare diese aber bereitstellen kann, bleibt im Sinne der Böckenförde-These offen.
Weniger klar wird, dass Martin Luther in seiner Rechtfertigungslehre der Schöpfer des modernen, selbstverantwortenden bzw. sich vor Gott verantwortenden Individuums ist, das so zum Ausgangspunkt der bürgerlichen Gesellschaft wird. In ihr ist die Relevanz des Rahmens wichtig – ob weltlich oder göttlich –, der für vernünftiges Handeln gesetzt wird, was eine Traditionslinie von Augustinus über Martin Luther zu Joseph Ratzinger spannt.
Was dem Buch fehlt, ist der Bezug zur auf der Rückseite des Buchs genannten Sozialen Marktwirtschaft, kein einziger ihrer Väter wird genannt. Man hätte zumindest einen Rekurs auf Wal-ter Eucken erwartet, dessen Vater, Literaturnobelpreisträger und kantscher Philosoph, ihn bei der Entwicklung des Konzepts des Ordoliberalismus entscheidend beeinflusst hat. Auch Ludwig Erhard hätte eine Erwähnung verdient, weil eine konkrete Ausformulierung der irenischen Formel von Sozialem und von Wettbewerb bis heute in Deutschland Wohlstand schafft: ohne Soziales kein Wettbewerb, denn gerade die Risikobereiten verdienen der Absicherung; ohne Wettbewerb aber auch nichts Soziales, denn er ist Wohlstandstreiber.