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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

525–527

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kirchmeier, Bernhard

Titel/Untertitel:

Glaubensempfehlungen. Eine anthropologische Sichtung zeitgenössischer Predigtkultur.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 448 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 67. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-374-05136-6.

Rezensent:

Volker A. Lehnert

Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Dieses Buch von Bernhard Kirchmeier muss man gelesen haben! Es handelt sich um eine von Wilfried Engemann betreute Dissertation an der Evangelisch-theologischen Fakultät Wien. K. sichtet aktuelle und öffentlich zugängliche Predigtmanuskripte auf ihren anthropologischen Ge­halt hin, genauer: Er analysiert dessen Qualität. Dabei geht er in drei Schritten vor.
Im ersten Schritt entfaltet er sein Verständnis von Predigt als »Glaubensempfehlung«, betont aber zugleich, dass diese Auf-fassung nur eine bestimmte Perspektive auf die Predigt darstellt. Ausgehend vom Leitbegriff der Kommunikation des Evangeliums (Lange, Grethlein) vollzieht sich für K. Predigt nicht nur durch Menschen, sondern »immer auch um der Menschen willen« (25). Verkündigung dient dabei der Rehabilitation der Menschen als »Subjekte ihres Lebens und Glaubens« (32). Im Anschluss an Grethlein beschreibt K. den »christlichen Grundimpuls … als etwas, das den Menschen dazu befähigt, einen ungewohnten Blick auf das eigene Leben zu wagen, der mit einer individuellen Neuausrichtung einhergeht« (38). Predigende tragen dazu durch »menschengemäße Glaubensempfehlungen« (39) bei. Mit dem Empfehlungsbegriff korrespondiert die »appellative Dimension der Kanzelrede« und damit die Fokussierung auf die Wirkung der Predigt (51). In einem Durchgang durch einige relevante homiletische Entwürfe (Gräb, Otto, Lange, Denecke, Härtner/Eschmann, Grözinger, Nicol, Deeg, Schlag, Conrad) geht K. dieser Spur nach und zeigt, dass die Auffassung der Predigt als Glaubensempfehlung in der homiletischen Literatur zu finden ist. Es folgen breite Reflexionen über den Empfehlungsbegriff, den Glaubensbegriff und den Bezug des Glaubens auf Jesus Christus, ohne den er kein christlicher Glaube wäre. Gleichwohl markiert K. hier ein hermeneutisches Problem: »Heute spricht man kaum mehr von göttlichen Offenbarungen, sondern wieder häufiger von menschlichen Einsichten, nur noch selten von der göttlichen Selbstmitteilung des Wortes« (116), eine Beobachtung, die angesichts der Schleiermacherrenaissance in der Prak-tischen Theologie nicht verwundert, allerdings doch zu Fragen An­lass gibt. Allen voran die Frage, in welchem Verhältnis der Ertrag konsequenter Exegese zu humanwissenschaftlichen Erkenntnissen steht. Dieser Frage geht K. in der Studie aber nicht nach.
Im zweiten Schritt analysiert K. konkrete Glaubensempfehlungen mittels eines von W. Engemann entwickelten »semantisch-orientierten Methodeninstrumentariums« (127). Er befragt die Predigtmanuskripte auf ihre Zeichenbildung (»Mikrocodierung«), ihre Interpretationsmuster (»Strukturcodierung«) und ihre semantische Systembildung (»Systemcodierung«) (127). Sein Datenmaterial besteht aus 34 Predigten, die den Begriff »Glauben« explizit verwenden, aus einem Sonntagsgottesdienst stammen, der nach dem 01.01.2000 gefeiert wurde und in gängigen und allgemein zugänglichen Datenbanken zu finden sind.
K. untersucht, wie die ausgewählten Predigten auf die Themenbereiche Stolz, Fragilität, Rationalität, Willensfreiheit und Autonomie, Sexualität und Zärtlichkeit, Kritik, Anfechtung und Unsicherheit, Weltflucht, Gemeindezentrierung und Gesellschaftskritik sowie Lebendigkeit, Lebenspraxis und ewiges Leben eingehen. Die Ergebnisse sind ernüchternd. So erscheint etwa die Kategorie Stolz durchweg unter negativer Wertung. Stolz ist etwas vom Glauben her zu Überwindendes (133 ff.). Als dahinterstehenden Traditionszusammenhang identifiziert K. die Sünden- bzw. die Tugendlehre Augustins. Ein Blick auf die gegenwärtigen psychologischen und philosophischen Diskurse zeigt das genaue Gegenteil. Stolz ist ein Integral der Menschenwürde. Kinder brauchen die Empfindung von Stolz zur Persönlichkeitsentwicklung (Rüdiger Posth). Während der zeitgenössische humanwissenschaftliche Diskurs Stolz als Ressource zur Subjektwerdung versteht, macht christliche Predigt das genaue Gegenteil. Dadurch wird eine Ressource zu etwas von Gott her zu Überwindendes.
Im Themenbereich Fragilität untersucht K. die Stichworte Trauer, Angst, Krankheit, Sorge und Leid. Hier zeigt sich ein ähnliches Bild (149 ff.). Die analysierten Predigten interpretieren auch diese Fragilitätsmomente als zu überwindende. Eine positive Würdigung als Ressource erfahren sie nicht. Als Traditionszusammenhang identifiziert K. hier das Bild vom leidenden Christus, aus dem der Auftrag zum Tragen des Leides abgeleitet wird, sowie einen anscheinend immer noch wirksamen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der Leiden als Folge von Fehlverhalten und nicht als Chance zur Reifung auffasst. Auch hier wieder ein Blick auf gegenwärtige Trauerforschung. Die klassischen Phasenmodelle, die mit der Überwindung der Trauer enden, sind längst abgelöst worden durch einen Blick auf Trauer, der diese als »schöpferischen Pro-zess des Neubeginns und der Selbstwerdung« (Sylvia Brathuhn) versteht. K. zeigt, dass hier theologische und kirchliche Klischees transportiert und nicht kritisch reflektiert werden. Die anthropologische Ressource gerät gerade durch die Glaubensempfehlung aus dem Blick.
Im Bereich Rationalität sieht es nicht anders aus. Glauben wird als Nichtwissen deklariert, Kopfglauben als unbiblisch disqualifiziert und die Unbeweisbarkeit Gottes als kritisches Potential ge­genüber der Naturwissenschaft eingebracht (180 ff.). Traditionszusammenhänge bestehen unter anderem in der antiken Ablehnung der Gnosis und in Luthers bekannter Abwertung der Vernunft als durch die Sünde korrumpierte »Hure«. Kant scheint lange vergessen. Zeitgenössische Diskurse wie etwa die Überlegungen der Philosophen Robert Pfaller und Christoph Menke oder die hochinteressanten Thesen von Sabine Wettig zur Imagination als moderner Denkungsart scheinen nicht bekannt zu sein. Auf diese Weise wird die Rationalität in der Verkündigung nicht in dem Maße als anthropologische Ressource genutzt, wie es der Fortentwicklung christlichen Denkens guttäte.
Bei den verbleibenden Themen zeigt sich ein ähnlicher Befund. Der menschliche Wille wird mehrheitlich negativ konnotiert (207 ff.). Sexualität erscheint nach wie vor erstaunlich oft unter negativen Vorzeichen (235 ff.). Zweifel erscheint nicht als Integral des Glaubens, sondern als Gefahr für den Glauben (281 ff.). Die säkulare Gesellschaft rückt in semantische Opposition zur positiv konnotierten Gemeinde (289 ff.). Der Lebensbegriff allerdings wird höchst unterschiedlich gedeutet (328 ff.).
Im dritten Schritt fragt K. nach der »Zukunftsmusik« (375 ff.). Wie könnte eine lebensdienliche Predigtkultur aussehen? Lebensdienlichkeit hat ein hoher Stellenwert zuzukommen. Lebensdienlichkeit besteht nicht in allgemeinen Wahrheiten, sondern in subjektiven Aneignungen. Lebensdienliche Predigt ist relevant, praktikabel und richtet das Subjekt auf. Predigende müssen Menschen sein, die ein »Gespür für den Lebensfluss« haben »und das eigene Leben als unendlich reich empfinden« (Kunstmann) (393).
K.s Studie macht betroffen. Sollten die untersuchten Predigten in der Tat die Breite zeitgenössischer Predigtkultur repräsentieren, ist unmittelbar klar, warum moderne Menschen von der Predigt nichts mehr erwarten. Die Predigten sind wohl weder konsequent exegetisch, was K. leider nicht untersucht, noch befinden sich de­ren anthropologische Implikate auf der Höhe zeitgenössischer Diskurse noch sind sie lebensdienlich. Die analysierten Predigten liefern Glaubensempfehlungen, die sich offensichtlich in Klischees bewegen, die gewissermaßen am Leben vorbei empfehlen. Hier stellt sich allerdings die kritische Frage nach der Auswahl der Datenbasis und es wäre zu überprüfen, ob es nicht in gleichem Umfang Predigten gibt, die sich auf der Höhe der humanwissenschaftlichen Diskurse befinden, zumal Pfarrerinnen und Pfarrer genau dies im Studium und in der Seelsorgeausbildung gelernt haben (sollten).
Sollten die ausgewählten Beispiele jedoch repräsentativ sein, wäre das Ergebnis allerdings alarmierend und die kritische Selbstreflexion der Homiletik müsste durch diese Dissertation mächtig Schwung aufnehmen.
Fazit: Diese Studie muss man gelesen haben. Zum einen wegen der hervorragenden und instruktiven Aufarbeitung der humanwissenschaftlichen Diskurse und zum anderen wegen ihres äußerst nachdenklich machenden Ergebnisses.