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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

503–505

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stekeler-Weithofer, Pirmin

Titel/Untertitel:

Kritik der reinen Theorie. Logische Differenzen zwischen Wissenschaft und Weltanschauung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. X, 483 S. = Philosophische Untersuchungen, 46. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-155787-3.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Von Pirmin Stekeler-Weithofer gibt es bisher im Wesentlichen zwei Arten von Veröffentlichungen: einmal Überlegungen zu den formalen Sprachen wie Mathematik, Logik und Physik und dann Kommentare zu den großen Werken Hegels wie der Phänomenologie oder seiner »Logik«. Seine Überlegungen zu den formalen Sprachen gehen in eine ähnliche Richtung wie dieses Buch: In der Art von John Dewey und der »Erlanger Schule« (Friedrich Kambartel war sein Lehrer) fordert er eine Praxiseinbindung »reiner Theorien«, ein Anliegen, das mehr als berechtigt ist, wenn man bedenkt, wie verbreitet ein gewisser Wissenschaftsplatonismus ist, der die formalen Sprachen hypostasiert und der damit ihre Verwurzelung in der Lebenswelt blockiert, wodurch wir nicht mehr verstehen, was eigentlich der Sinn solcher formalen Sprachen ist.
S.-W.s Hegeldeutungen gehen sprachanalytisch vor und haben nicht überall den vollen Beifall gefunden. Er liest auch diesen Autor pragmatisch-sprachanalytisch und gewinnt dadurch ein Vernunftkonzept, das seine Kritik an der »reinen Theorie« unterstützt.
Das vorliegende Werk erhebt einen gewaltigen Anspruch. Die Anspielung auf Kants »Kritik der reinen Vernunft« ist natürlich gewollt. Ging es bei Kant um eine Kritik der erfahrungsfreien Vernunft, die dennoch glaubt, metaphysische Inhalte formulieren zu können, die für die Erfahrung bindend sind, so geht es S.-W. um eine Kritik aller Abstraktionen in allen Bereichen, ein sehr ehrgeiziges Unternehmen.
Insofern in diesem Buch der Faden früherer Arbeiten zur Kritik nicht nur an Verdinglichungen oder Ontologisierungen der Physik, Mathematik und formalen Logik, sondern auch an formalen Philosophien von Carnap bis Quine geübt wird, ist dem vorbehaltlos zuzustimmen. Aber jetzt geht es ja um eine Kritik aller Diskurse, welchen Inhalts auch immer. Kann das gelingen? S.-W. definiert: »Eine reine Theorie ist, wie wir schon gesehen haben, eine rein verbale, eine formale Theorie.« (133)
Solche formalen Theorien gibt es nach S.-W. in allen Bereichen; so z. B. in der Kunstgeschichte, der Philosophiegeschichte oder allgemein der Profangeschichte. Hier arbeiten wir mit Typisierungen, Kanonisierungen, Heroisierungen usw., die die Sachverhalte simplifizieren, etwa wenn wir von der »Renaissance«, dem »Rokoko« und Ähnlichem sprechen. Aber handelt es sich dabei wirklich um die Ontologisierung »formaler Theorien«, wie wenn wir eine Vereinigte Feldtheorie der Physik ein »theory of everything« nennen? Oder geht es hier nicht viel eher darum, Kategorisierungen mehr oder weniger geschickt anzulegen?
Es gibt natürlich auch Bereiche außer Logik, Mathematik und Physik, wo S.-W.s Kritik durchaus greift, wie z. B. in der Sprachphilosophie. Dort hat man allzu lange rein formal gearbeitet, wie im Strukturalismus oder in der Tiefengrammatik Chomskys, so dass S.-W.s Kritik sehr berechtigt ist, allerdings ist sie nicht neu, denn das haben andere auch schon gesehen. Anderes wiederum erschließt sich der Kritik an der »reinen Theorie« gerade nicht. So rechnet S.-W. etwa die Diskussionen um die Gegensätze von Realismus – Antirealismus (72), Kompatibilismus – Libertarianismus (72) und Protopanpsychismus – Emergenzlehren (153 f.) dazu. In einer etwas pauschalierenden Art erklärt er all diese Gegensätze für obsolet. Sie haben ihren Ursprung in seiner Sichtweise in einer Verdinglichung der »reinen Theorie«. Aber warum sollte dies der Fall sein?
Die nicht enden wollende Diskussion um Realismus und Antirealismus scheint doch ein fundamentum in re zu haben, dass wir uns nämlich weder mit der Unmittelbarkeit noch mit der bloßen Vermittlung zufriedengeben können und dass uns Hegels »vermittelte Unmittelbarkeit« zu sehr an seiner Metaphysik zu hängen scheint, als dass sie uns so einfach nur zugänglich sein könnte.
Der Gegensatz Protopanpsychismus – Emergentismus lässt sich auch nicht mit einer Handbewegung vom Tisch wischen. Hier geht es um etwas, nämlich um die Frage, wie wir uns das Entstehen von Bewusstsein und Erlebnisqualität in der Evolution vorstellen sollen. Das hat ebenfalls nichts mit einer Kritik der »reinen Theorie« und ihren Verdinglichungen zu tun. Der Protopanpsychismus nimmt eben an, dass Bewusstsein in Vorform immer schon vorhanden war und dass er nur bei bestimmten Margen von Komplexität in Erscheinung tritt. Dieses In-Erscheinung-Treten versteht S.-W. ganz falsch, indem er es mit einer Erklärung des Bewusstseins verwechselt. In der Literaturliste werden zwei Arbeiten von David Chalmers erwähnt, aber S.-W. scheint sie nicht zu kennen, sonst hätte er bemerkt, dass es im Protopanpsychismus um eine Erwei-terung der Ontologie gegenüber dem verbreiteten Materialismus geht, nicht um eine Erklärung des Bewusstseins.
Auch der Gegensatz Kompatibilismus – Libertarianismus ist nicht einfach so von der Hand zu weisen. Er ist seit Kant ein permanentes Streitthema. Auch hier ist wieder merkwürdig, dass S.-W. im Literaturverzeichnis den dezidierten Libertarianer Geert Keil aufführt, ohne dass man erkennen könnte, dass er dessen fein ziselierte Argumente zur Kenntnis genommen hätte.
Das ist ein ganz allgemeines Problem in diesem Buch: In der Literaturliste finden sich über 50 (!) Titel, die überhaupt keine Spur in ihm hinterlassen haben und bei denen man sich oft fragt, ob S.-W.s Argumentation nicht ganz anders aussehen müsste, wenn er sie nicht einfach nur aufgelistet hätte. Auch das Umgekehrte kommt vor, dass nämlich S.-W. einen Autor zitiert, der im Literaturverzeichnis nicht vorkommt, so z. B. Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« (143), Ferdinand Tönnies’ »Ge­meinschaft und Gesellschaft« (143) oder Holm Tetens’ »Philosophisch Argumentieren« (37), das ebenfalls fehlt. Dagegen führt S.-W. Tetens’ natürliche Theologie dort auf, von der er, zu seinem Schaden, nirgends Gebrauch macht.
Am entschiedensten kollabiert sein Ansatz in Bezug auf die Gottesrede. Die ist seiner Meinung nach reine Mythologie oder Fabel. Gott ist nur eine Chiffre für das Ganze (127.131). Was hat das mit reiner Theorie zu tun? S.-W.s souveräne Unkenntnis der Theologie ist schon erstaunlich. Das einzige Buch, das er gelesen zu haben scheint, ist das Paulusbuch des überzeugten Kommunisten und Atheisten Alain Badiou, der Paulus für einen Aufklärer avant la lettre hält. Ansonsten lässt S.-W. kein cliché aus, so etwa die Verwechslung der Personalität Gottes mit einem alten Mann mit Bart (128) oder Paulus’ Christuserfahrung vor Damaskus als einen Migräneanfall (410). Die Theologen, die er »Gottespropheten« nennt, wüssten nicht, worüber sie reden (138), weil sie die Bibel wörtlich nehmen, usw. (158).
Insofern Gott einfach nur das Weltganze ist, entfällt das Theodizeeproblem, das bei Hegel durch eine Geschichtsteleologie aufgefangen wird, die bei S.-W. ebenfalls fehlt. Daher muss er die Ka-tastrophen der Geschichte kleinreden. Auschwitz und dergleichen seien »Ausnahmen« (179). Das, was er bei Holm Tetens hätte lernen können: dass die Forderung nach einer Gerechtigkeit für die Opfer der Geschichte ein starkes Argument für einen transzendenten Gott ist, ignoriert er vollständig – wohl weil dessen natürliche Theologie lediglich ihren Weg in die Literaturliste fand.
Bei all diesen Mängeln ist dieses Buch von einer Überheblichkeit, die ihresgleichen sucht. Plato, Aristoteles, Leibniz, Kant, Dil-they und Gadamer werden wie Schuljungen abgekanzelt. Seine Lieblingsphilosophen Hegel und Heidegger wurden zumindest bisher nicht verstanden. Seinen Kollegen wirft er eine »übliche Legasthenie« vor (8), »Verwirrung des Geistes« (54), sie seien hohle »Begriffsjongleure« (173) usw. Das sind keine Ausrutscher. Sie kommen auf jeder zweiten Seite vor.
Sollten wir dieses Buch lesen? Eher nicht. Die älteren soliden Ar­beiten von S.-W. behandeln das Problem viel angemessener.