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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

459–461

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boring, M. Eugene

Titel/Untertitel:

I & II Thessalonians. A Commentary.

Verlag:

Louisville: Westminster John Knox Press 2015. XL, 348 S. = The New Testament Library. Geb. US$ 60,00. ISBN 978-0-66422099-0.

Rezensent:

Udo Schnelle

Der 1. Thessalonicherbrief ist in den letzten Jahrzehnten zumindest in der deutschsprachigen Exegese aus seinem Schattendasein herausgetreten. Die Diskussion um eine mögliche Entwicklung des paulinischen Denkens rückte ihn in das Zentrum, und aktu-elle Kommentare liegen nun auch vor (Stefan Schreiber, Rudolf Hoppe). Etwas anders stellt sich die Situation in der englischsprachigen Welt dar. Hier führte die Konzentration auf den Galater- und Römerbrief im Rahmen der sogenannten »New Perspective« zu einer deutlichen Vernachlässigung des wahrscheinlich ersten Paulusbriefes. Deshalb ist die Kommentierung der Thessalonicherbriefe durch Eugene M. Boring sehr zu begrüßen, zumal er einer der letzten Exegeten aus dem englischsprachigen Bereich ist, der die kontinentale Exegese wirklich kennt und die deutsche Sprache beherrscht. B. startet mit den klassischen Einleitungsfragen (abgefasst um 50 n. Chr. in Korinth); er skizziert die neue Situation des Paulus nach dem Bruch mit Barnabas und Antiochia (eigenstän-d ige Zentrumsmission), die religionsgeschichtliche Situation in Thessalonich und vor allem die zentralen theologischen Themen des Briefes, die zugleich Basis der Erstverkündigung waren: »– There is one true and living God (in contrast to lifeless idols, 1:9). – This God sent his Son to die for us (5:10). – God raised him from the dead and made him the living and reigning Lord (4:14). – The Son of god will soon come again, for the salvation of believers (5:9). – By this gospel, God now calls into being the eschatological people of God, the renewed holy people of the last days (1:4; 2:13; 4:7)« (22). Dieses Kerygma verbindet sich mit intensiven Geisterfahrungen (1Thess 1,5; 5,19) und gewinnt Gestalt in der neuen Gemeinschaftsform der an Jesus Christus Glaubenden. Gemeinsame Versammlungen und Gottesdienste prägen das Gemeindeleben ebenso wie Besuche von Paulusmitarbeitern (vgl. 1Thess 3,2) und die Instruktion der Gemeinde durch den Apostelbrief. Zwar ist der 1. Thessalonicherbrief in die Briefkonventionen seiner Zeit eingebettet, dennoch stellt er eine neue Gattung dar: den Apostelbrief. Seine besonderen Kennzeichen sind: die auffällige Länge; mehrere Absender; Adressaten sind Gemeinden und keine Privatpersonen (Ausnahme: Philemon); die Integration traditioneller und liturgischer Formen; eine kerygmatische Ausrichtung und ein einzigartiger Autoritätsanspruch, denn die Autorität des Apostels ist durch den im Gottesdienst zu verlesenden Brief präsent (1Thess 5,27). Die fortlaufende Einzelauslegung erfolgt in souveräner Kenntnis der Literatur und versteht den Brief aus sich selbst heraus, d. h. sie widersteht der Versuchung, Themen späterer Briefe einzuschreiben. Besonderes Gewicht bekommt 1Thess 1,9 f., denn hier wird die Gemeindesituation sehr deutlich: Die Glaubenden haben sich aus dem Heidentum kommend als Erwählte dem einen, wahren Gott zugewandt und erwarten nun das Kommen des Retters Jesus Christus. 1Thess 2,14–16 wird als authentisch angesehen; der Text reiht sich in die apokalyptische Weltsicht des Paulus nahtlos ein und bezieht sich auf die anhaltende Bedrängnis der Gemeinde. Bei 1Thess 4,13–18 betont B., dass Paulus seine eigene Situation im Endgeschehen zwar später modifiziert (er rechnet dann mit seinem Tod), dennoch aber durchgängig am Konzept der nahen Parusie des Kyrios Jesus Christus festhält. Die Neubekehrten sind nicht nur unsicher über ihren individuellen Status im Ablauf der Endereignisse, sondern über die Chronologie des Endgeschehens insgesamt. Dieser Ungewissheit steuert Paulus mit 1Thess 5,1–11 entgegen, wobei in V. 3 keine anti-imperialen Untertöne vorliegen, sondern Texte wie Jer 6,14; Ez 13,10LXX im Hintergrund stehen. Zugleich weist aber die Rezeption von Jes 59 in V. 8 Besonderheiten auf, denn Paulus rezipiert auffälligerweise die alttestamentliche Gerechtigkeitsterminologie nicht. Im Hinblick auf die im 1Thess fehlende Rechtfertigungsterminologie gilt deshalb: »Although interpreters should not claim that the ›early‹ Paul had not yet thought about these issues, this topic was not yet in sharp focus or permeating his theology as it would in the controversies reflected in the later letters« (184). Am Ende der Kommentierung betont B. noch einmal die große Nähe des Paulus zum Propheten Jeremia. Hier sieht er auffällige Übereinstimmungen: Auch Jeremia ist Briefschreiber (Jer 29), er verstand sich als von Gott berufener Prophet für die Völker, lebte im Land Benjamin, wurde von seinen eigenen Landsleuten zurückgewiesen und widmete das gesamte Leben (ohne Familie) seiner Aufgabe. Allerdings muss natürlich auch B. einräumen, dass sich kein einziges atl. Zitat und somit auch kein expliziter Bezug auf Jeremia im 1. Thessalonicherbrief findet.
Beim 2. Thessalonicherbrief wendet sich B. zunächst ausführlich der Frage zu, ob dieser Brief von Paulus stammt. Während er zu Beginn seiner akademischen Tätigkeit dieser Meinung war, stuft er das Schreiben heute als deuteropaulinisch ein. Dies ist in der englischsprachigen Exegese keineswegs selbstverständlich, denn hier gibt es nach wie vor einflussreiche Forscher, die den 2Thessalonicherbrief für authentisch halten. B. hingegen macht für sein kritisches Urteil vor allem zwei Gründe geltend: »(1) The letter can be more plausibly located in the setting of the Pauline school tradi-tion than in Paul’s own mission. (2) In the work for this commentary, the exegesis of the letter’s text makes more sense on the presupposition of deuteropauline than Pauline authorship.« (210) Dies zeigt sich vor allem im Stil und in der Sprache des Briefes, die zahlreiche Besonderheiten gegenüber den unbestrittenen Briefen ausweisen (Auflistung: 215–219). Hinzu kommen massive inhaltlich-theologische Veränderungen und Besonderheiten. »These point to different authorship and a later date« (223). Abgefasst wurde der Brief zwischen 80 und 120 n. Chr., wahrscheinlich in Griechenland oder Kleinasien. Der 2. Thessalonicher nimmt zwar den ersten Brief als Vorlage, entwirft aber vor allem einen völlig veränderten eschatologischen Fahrplan. Die Verzögerungsproblematik (2Thess 2,6.7) und auch das Auftreten eines eschatologischen Gegenspielers unterscheiden 2Thess 2,1–12 grundlegend von 1Thess 4,13–18; 5,1–11. 1Thess 5,1 lehnt Berechnungen im Hinblick auf die Parusie ausdrücklich ab, demgegenüber findet sich in 2Thess 2,1–12 ein eschatologischer Fahrplan, der Beobachtungen und Berechnungen nicht nur zulässt, sondern sie ausdrücklich fordert (vgl. V. 5). Während bei Paulus immer das Erscheinen des Auferstandenen im Mittelpunkt steht (vgl. 1Thess 4,16; 1Kor 15,23), ist das Parusiegeschehen in 2Thess 2,8 auf die Vernichtung des Antichrist zugespitzt. Hinzu kommt die rätselhafte Gestalt des »Aufhaltenden« (2Thess 2,6), die B. für ein originelles Motiv des Briefschreibers hält. Der richtet sich damit gegen Tendenzen in den nachpaulinischen Gemeinden, das Endgeschehen als bereits angebrochen oder sogar vollendet zu sehen. Besondere Aufmerksamkeit wird schließlich der veränderten Gemeindesituation im Hinblick auf den Müßiggang und die Arbeitsverweigerung gewidmet (2Thess 3,6-15), denn hier unterscheidet sich der zweite Brief grundlegend vom 1. Thessalonicherbrief.
B. hat eine durch und durch überzeugende Kommentierung der beiden Thessalonicherbriefe vorgelegt, die sich durch umfassende Kenntnis der paulinischen und deuteropaulinischen Theologie, der religionsgeschichtlichen Kontexte und der Forschungsliteratur auszeichnet.