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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

453–455

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bearb. u. komm. v. M. Morgenstern.

Titel/Untertitel:

Martin Luther und die Kabbala. Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi.

Verlag:

Wiesbaden: Berlin University Press (Verlagshaus Römerweg) 2017. XX, 298 S. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-7374-1327-5.

Rezensent:

Beate Ego

Das Thema »Luther und die Juden« und damit das antijüdische Erbe des Protestantismus hat das gesamte Reformationsjubiläum im Jahre 2017, das eine breite mediale Präsenz erfuhr, wie ein dunkelroter Faden durchzogen. In diesem Kontext wurde es der evangelischen Kirche nur allzu schmerzhaft ins Bewusstsein gerufen, dass eine antijüdische Grundhaltung über lange Jahrzehnte und Jahrhunderte integraler Bestandteil ihrer eigenen Identität war (s. hierzu die Kundgebung »Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum« vom November 2015).
Eine wichtige Quelle für Luthers Haltung gegenüber den Juden ist die Schrift »Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi« aus dem Jahre 1543. In den einschlägigen Diskursen spielte dieser Text bislang – um mit den Worten Matthias Morgensterns zu sprechen – insofern »ein gespenstisches Dasein«, da er einerseits in den Diskussionen häufig angeführt wird, es aber bislang keine Ausgabe dieses Werks gab, die für Nicht-Fachleute einfach zugänglich war. Dieser Problematik begegnet nun die hier anzuzeigende Übersetzung des Werks, die von dem renommierten Tübinger Judaisten und Historiker Matthias Morgenstern vorgelegt wird. Morgenstern präsentiert Luthers Schrift in neuhochdeutscher Sprache; der Text der Weimarer Lutherausgabe (Band 53, 579–608) wurde dabei orthographisch und stilistisch revidiert, wobei insbesondere die Syntax modernen Gepflogenheiten angepasst und die Schreibung der Eigennamen vereinheitlicht wurde. Zudem wurde der gesamte Text mit einem Anmerkungsapparat versehen, der die für das Verständnis dieses Werks nötigen Sachinformationen gibt und zudem auf weiterführende Literatur verweist. Morgensterns breite Kontextualisierung ist beeindruckend, denn er gibt Hinweise zu historischen Hintergründen, zu biblischen Bezügen, zur rabbinischen Überlieferung, zur jüdischen Mystik und Kabbala und weiteren Traditionen, die in dem Text verarbeitet wurden und die für sein Verständnis bedeutsam sind. Diese Zusammenstellung ist aber nicht nur für das Verständnis des Textes interessant, sondern auf diese Weise erschließt es sich auch auf eindrückliche Art und Weise, welches Wissen Luther im Hinblick auf das Judentum hatte und auf welche Art und Weise er dieses dann für seine Argumentation angewendet hat.
Neben diesen quellen- und rezeptionsgeschichtlichen Ausführungen ist auch das Glossar, das Morgenstern seiner Übersetzung beigefügt hat, sehr erhellend. Hier werden Begriffe, die für das Verständnis des Judentums im Allgemeinen und für die antijüdische christliche Polemik im Besonderen bedeutsam sind, in kurzen Artikeln knapp und verständlich erläutert und mit weitergehenden Literaturangaben versehen (vgl. die Lemmata: Abgötterei, Assassinen, Ba‘al Schem, Bar Kochba, Bastard, Ben Niddah, Benediktion, Beschneidung, Brunnenvergiftung, Buchstaben/Buchstabenmys-tik, Paul von Burgos, Exil/Exilsdeutung, Fluchen/Fluchformel, Ge­matrie, Glossen, Goj/Gojim, Gottesnamen[n], Grammatik/grammatisch, Grundstein des Jerusalemer Tempels, Haman, Hebrais-ten/Hebraistik/Hebräischlehrer, Helena/Helene (Kaisermutter), He­lena von Adiabene, Hieronymus, Himmelskampf, Himmels-reise, Israel/Israeliten; Jesaja 53; Jeschu/Jeschua, Flavius Josephus, Judas Scharioth/Judas Ischariot, Judaskuss, Judaspisse, Judenmis-sion, Kabbala, Konvertiten, Koran, Kraut/Krautstängel, Kreuzfindungstradition/Kreuzfindungslegende, Nikolaus von Lyra, Antonius Margaritha, Maria/Miriam, Mutter Jesu; Marterung des Gotteswortes, Midrasch/Midraschtexte, jüdische Mystik, Sebastian Münster, Opus Operatum, jüdischer Proselytismus, Salvagus Purchetus [Porchetus] des Salvaticis, Raymond Martin/Raimundus Martinus, Raschi, Ricoldus de Montecrucis Ritualmord, Saraze-nen, Sau/Saujuden/Judensau, Schem [Ha]mephorasch, Schlange/ Schlangenbrut, Sefirot/Sefirotsystem, Shiur Qoma, Speien/Spucken, Talmud, Talmudverbrennung, Tataren/Tartaren/Tattern, Tes-timonium Flavianum, Teufel, Teufelskinder, Teufelskindschaft, Tola/Tola-Episode, Toledot Jeschu, Türken, Verführung, Vernunft, Volksbuch/Volksliteratur/Volksüberlieferung, Welt­ende/Weltgericht, Wucher, Zahlbuchstaben, Zauber/Zauberei/Zauberer/Zauberinnen/Zaubermittel, Zerstörung der Welt, Zeugung und Ge­burt des »Antimessias«).
Manche dieser Begriff lassen erahnen, auf welchem Niveau und mit welcher Drastik Luther in seiner Schrift argumentiert. Es sollen hier einige kurze Hinweise genügen: Luther selbst stellt eine Übersetzung der ihm vorliegenden lateinischen Version der »Toledot Jeschu« an den Anfang seines Textes, also eine Spotterzählung zu den neutestamentlichen Evangelien. Dieser Text, der selbst die religiösen Gefühle seiner Zuhörerschaft verletzen kann, bildet dann die Basis für eine äußerst aggressive Kommentierung desselben. Allerdings ist dieser Zugriff auf die jüdischen Tradition selbst bereits irreführend, handelt es sich bei den »Toledot Jeschu« doch um ein jüdisches Traditionsstück, das keineswegs von den wichtigen Vertretern der jüdischen Religion als repräsentativ angesehen wird, sondern ein extrem vulgäres Stück der jüdischen Volksreligion darstellt.
Luthers Ausgangspunkt scheint die Furcht zu sein, dass einige Christen an einer Konversion zum jüdischen Glauben interessiert sind, und so kämpft er mit harten Bandagen, die einem nur schwerlich über die Lippen oder in die Feder bzw. die Tastatur gehen. Er spart nicht mit vulgären und obszönen Ausdrücken, um den jüdischen Glauben verächtlich zu machen und seine Anhänger als verblendet und verdammt zu brandmarken. Ein Thema, das hier von besonderer Bedeutung ist, ist der Vorwurf, dass die Juden den Gottesnamen (»Schem Hamephorasch«) zu magischen Zwecken einsetzen.
Der zweite Teil der Schrift beschäftigt sich mit dem Stammbaum Jesu in den Evangelien, der ebenfalls bei jüdisch-christlichen Kontroversen eine Rolle spielt. Luthers Zielscheibe ist hier die jüdische Schriftauslegung. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik war dadurch aktuell geworden, dass durch das reformatorische Schriftprinzip selbst der hebräische Text der jüdischen Bibel zu­nehmend in das Interesse der christlichen Gelehrten gerückt war und sich insbesondere christliche Hebraisten um die hebräische Sprache und ein Verständnis der jüdischen Auslegungen bemühten. Luthers Position ist hier eindeutig, insofern er klarmacht, dass die Heilige Schrift nicht den Juden gehört, dass Christen nicht bei Juden lernen dürfen, und vor christlichem Judaisieren warnt.
Morgensterns vorbildliche Kommentierung wird durch einen kurzen Essay beschlossen (177–208), in dem der Autor die verschiedenen Traditionen, die Luther in seiner Schrift aufgegriffen und polemisch gegen das Judentum gewendet hat, systematisch zu­sammenstellt, um sie in ihrer Hermeneutik zu entfalten. Am Ende steht, so Morgenstern, »ein deprimierender Eindruck« und für den »Verfasser […] der Ärger, dass der Reformator, der von den esoterischen Traditionen des Judentums doch immerhin einiges in Erfahrung gebracht hatte, im Ganzen so wenig Verständnis dafür aufbrachte. In gleicher Weise bedrückt die Einsicht, dass er das, was er verstanden hatte, mit einiger Niedertracht gegen die Juden kehrte« (203).
Nachdem Matthias Morgenstern bereits 2016 Luthers Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« in einer wissenschaftlich an­spruchsvollen Weise vorgelegt hat, ist ihm nun erneut dafür zu danken, dass er sich mit diesem so komplexen und schwierigen Text beschäftigt hat. Die Lektüre von Luthers Schrift, die nun durch Morgensterns Edition leicht zugänglich ist, ist eine harte Kost und wirkt extrem verstörend. Dennoch – das christlich-jüdische Gespräch muss sich dieser Literatur stellen und es führt kein Weg daran vorbei, diesen Text in seiner Gehässigkeit und Abgründigkeit zur Kenntnis zu nehmen, denn – um es mit Morgenstern auszudrücken: »Die historische Erforschung und Kontextualisierung dieser Texte kann […] dazu beitragen, dass das Aushalten von interreligiöser Polemik, wie unsere Welt sie nun einmal kennt, besser gelingen kann« (203).