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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

451–452

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Lehnardt, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Judaistik im Wandel. Ein halbes Jahrhundert Forschung und Lehre über das Judentum in Deutschland.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. VI, 239 S. m. 6 Abb. Geb. EUR 69,95. ISBN 978-3-11-052103-0.

Rezensent:

Gerhard Langer

Dieser Sammelband nimmt die 50-jährige Geschichte der modernen Judaistik und der Jüdischen Studien im deutschen Sprachraum zum Anlass, Grundlegendes zum Anliegen der Judaistik, Desiderate und Tendenzen aufzuzeigen. Das vom Mainzer Judaisten Andreas Lehnardt herausgegebene Buch thematisiert einmal in verschiedenen Beiträgen die wechselhafte Geschichte der Disziplin aus der Innen-, aber auch der Außenperspektive.
Marion Aptroot etwa schildert die Entstehung und den Werdegang der Jiddistik in Deutschland, Alfred Bodenheimer die Situation der Judaistik in der Schweiz, Christoph Schulte in bewährt kritischer und perfekt pointierter Weise die Perspektive aus Potsdamer Sicht. Walter Homolka widmet sich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Judentum im Rahmen jüdischer Theologie in einem Beitrag, der vielleicht noch ein wenig mehr kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der jüdischen Theologie überhaupt erfordert hätte. Des Weiteren werden in dem Band sehr verdienstvoll Desiderate eingebracht und Schwerpunkte erläutert. Shmuel Feiner bringt die Sicht von Israel her ein, Noam Zadoff verweist auf die Notwendigkeit der Israel-Studies. Andreas Brämer widmet sich der Historiographie und plädiert für eine verstärkte Einbeziehung der »Innensicht« auf jüdische Geschichte. Nathanael Riemer argumentiert zu Recht für einen Einbezug der Methoden der Materiellen Kulturen in der Judaistik und den Jüdischen Stu-dien.
In seinem hervorragenden Beitrag skizziert Andreas Lehnardt die Bezüge von Geschichtswissenschaft sowie der Theologien und der Judaistik und setzt sich nachdrücklich für Judaistik im Rahmen der Kulturwissenschaften ein, wobei er die Bedeutung der Sprache für die Judaistik (m. E. fast schon zu sehr) herausstreicht. »Judaistik wäre dann zunächst Studium zur Sprachbefähigung, das gleichzeitig ein diachrones Kulturstudium implizieren würde und so durch die Vermittlung literaturwissenschaftlicher und religionsgeschichtlicher Kenntnisse über das Judentum erweitert und ergänzt würde« (69). Angemahnt wird – von Silvana Greco – nach einer grundlegenden Übersicht über die Geschichte der soziologischen Erforschung des Judentums im betreffenden geographischen Raum eine erneute und viel stärkere Einbeziehung der Soziologie in die Jüdischen Studien.
Dazu gesellen sich im Band Beiträge, die sich mit einzelnen Themenfeldern beschäftigen, so etwa – von Rafael D. Arnold – der Er­forschung der sefardischen Sprache, Literatur und Kultur, der jüdischen Musik – in einem wunderbaren und erleuchtenden Beitrag von Jascha Nemtsov zu Mieczysław Weinberg – oder – durch Elke Morlok – Mystikforschung nach Scholem. Dass sie dabei konsequent den Namen meines werten Kollegen Klaus Davidowicz als Dawidowicz falsch schreibt ist eine lässliche Sünde, aber doch störend.
Ein dritter Themenaspekt beschäftigt sich mit einzelnen Problemen oder Projekten innerhalb der Jüdischen Studien. So sieht Tal Ilan in ihrem Beitrag einen Zusammenhang zwischen dem Auslaufen eines Projektes eines feministischen Kommentars zum Babylonischen Talmud und der deutschen politischen Wirklichkeit, in der z. B. ein »Gutachter sich einfach nicht vorstellen (konnte) ein Projekt zu unterstützen, das das Judentum als eine mittelmäßige, bigotte, abergläubische und manchmal geradezu misogynistische Kultur bzw. Religion darzustellen unternimmt« (157). Es bleibt dahingestellt, ob diese Feststellung in ihrer Radikalität stimmt, zweifellos aber muss man den Sondercharakter von Judais-tik und Jüdischen Studien in der deutschen Gesellschaft erstnehmen und thematisieren. Hanna Liss und Kay Joe Petzold widmen sich der Erforschung der westeuropäischen Bibeltexttradition als Aufgabe der Jüdischen Studien. Dabei wird auf sehr erhellende Weise ein Defizit in der Forschung aufgezeigt. Giuseppe Veltri schreibt über das Thema des Skeptizismus in der jüdischen Philosophie.
Insgesamt erweist sich der Band als eine Sammlung von un-terschiedlichen Zugängen, Ansätzen, Betrachtungen und historischen Abrissen, die als schriftgewordenes Ergebnis einer in Hamburg 2015 abgehaltenen Konferenz doch wesentlich mehr als ein Sammelsurium von unterschiedlichen Beiträgen darstellt, auch wenn er – was in solchen Bänden auch kaum zu erwarten ist – eine gesammelte wegweisende Synthese der Desiderate für die Zukunft der Jüdischen Studien missen lässt. In jedem Fall ist der Band äußerst informativ, stellt Kontexte her, thematisiert Problem- und Schieflagen und benennt zumindest in Ansätzen auch notwendige Weiterentwicklungen, über die dringend weiter zu diskutieren ist. Es wäre sehr reizvoll, nein, eigentlich notwendig gewesen, in diesem Zusammenhang auch die Österreichischen Jüdischen Studien zu Wort kommen zu lassen. Aus verschiedenen Gründen ist dies nicht passiert, so dass der Band bedauerlicherweise auch keinen Beitrag über das Institut für Judaistik in Wien enthält, das es zweifellos verdient hätte, als eine der ersten und bahnbrechenden Gründungen der Nachkriegszeit mit allen damit verbundenen Implikationen und Innovationen zu Wort zu kommen. Auch die Jüdischen Studien in Graz und Salzburg hätten wenigstens er­wähnt werden müssen.
Die Jüdischen Studien an theologischen Fakultäten in Deutschland hätten vielleicht auch das Recht bekommen sollen, sich in ihrem Selbstverständnis stärker darstellen zu dürfen, zumal mehrfach auf sie Bezug genommen wird, ebenso wie beispielsweise das interdisziplinäre Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg zu kurz kommt.