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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

447–449

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Frenzel, Nina

Titel/Untertitel:

Betender Anfang. Identitätsstiftende Momente christlicher Morgenliturgie im Dialog mit dem Judentum.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2017. 301 S. m. 24 Abb. = Studien zu Judentum und Christentum, 32. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-506-78557-2.

Rezensent:

Benedikt Kranemann

Eigentlich ist es verwunderlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, anhand der Morgenliturgie jüdische und christliche Liturgie miteinander ins Gespräch zu bringen. Nina Frenzel hat sich in ihrer Bonner liturgiewissenschaftlichen Dissertation dieser Aufgabe gestellt und eine sehr anregende Studie vorgelegt. Im Hintergrund steht die Vorstellung, das Eigene besser im Gegenüber des Anderen verstehen zu können (61).
Dabei geht F. im ersten Kapitel »Die Liturgie am Morgen vor dem Hintergrund heutiger menschlicher Erfahrungen« (16–26) insbesondere der Frage nach, wie Laudes und Shacharit in der Ge­genwart zur Identitätsstiftung für die Betenden beitragen können. Dafür werden beide Liturgien in den Kontext heutiger Identitäts- und Sinnsuche gestellt und mit Vorstellungen von Zeit und Ritual konfrontiert. F. ist ein ritualtheoretischer Einstieg gelungen, der auf der einen Seite grundlegende Aspekte heutiger Religiosität erläutert, auf der anderen Seite die Ritualbedürftigkeit des Menschen gerade im Blick auf Identität und Umgang mit Zeit konzis darstellt. Solche Gottesdienste entsprechen einem Grundbedürfnis des Menschen, weil sie Raum eröffnen für die innere Sammlung und die Ausrichtung auf Gott zum Tagesbeginn (24 f.). Allerdings wird schon zu Beginn kritisch die Frage gestellt, ob die heutige römisch-katholische Tagzeitenliturgie nicht zu sehr durch das Breviergebet geprägt ist, um ein solches theologisches Programm verwirklichen zu können.
Im zweiten Kapitel »Die Liturgie am Morgen im Judentum und Christentum« (27–64) schließt sich zunächst eine gelungene Darstellung zentraler Aspekte von Nostra aetate, der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, sowie zur Entstehung und Rezeption des Dokuments an. Für Letzteres wird die besondere Rolle der Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. herausgearbeitet. Zugleich werden die Irritationen, die insbesondere das Motuproprio »Summorum Pontificum« unter Papst Benedikt XVI. hervorgerufen hat, thematisiert. F. betont einerseits, dass seitens der katholischen Theologie vom ungekündigten Bund Israels gesprochen wird – auf andere Konfessionen und Theologien geht sie dabei leider nicht ein –, ohne dabei andererseits mit Blick auf Judentum und Christentum »die vorherrschende Asymmetrie […] in ihrer Komplexität« (41) zu überspielen. Damit ist für die Laudes auf die Verschränkung von Theozentrik und Christozentrik hingewiesen, wo das Gebet im Shacharit allein theozentrisch ausgerichtet ist.
Diese Spannung durchzuhalten und konstruktiv wie kreativ zur Sprache zu bringen, zählt sicherlich zu den Stärken des Buches. F. stellt heraus, dass gerade die Liturgien hier wie dort Einblick in Glauben und Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften ge­ben. Die Basis für die Vergleichbarkeit beider Liturgien sieht sie in der »Gemeinsamkeit von Texten« wie den Psalmen (50), aber auch im verbindenden Gottes- und Menschenbild (51). Gebet werde in beiden Religionen »dialogisch verstanden, weswegen die Beziehung zwischen Gott und Mensch als responsives Verhältnis zu charakterisieren« sei (51). Für die Analyse der Laudes mit ihrer Struktur aus Lobpreis und Bitte – die Studie bleibt dabei stark auf die normativen Texte liturgischer Bücher bezogen – berücksichtigt sie Benedictus, Bitten, Hymnen, Psalmen und Orationen, also in großem Umfang Texte. Für das Shacharit mit Lobpreis Gottes und der Schöpfung sowie Gedächtnis der Erlösung greift sie auf P’sukei D’Zimrah und das Sh’ma mit rahmenden Texten zurück. Vergleichsweise spät werden Leser und Leserin über die »Zielsetzung und Methodik der Arbeit« informiert (60–64). F. befragt die Liturgie auf Kosmologie, Anthropologie und Theologie hin, untersucht Zeit-, Menschen- und Gottesbild, um dadurch identitätskonstituierenden Momenten auf die Spur zu kommen. Bemerkenswert ist die Zielstellung, dass nämlich erfragt werden soll, »wie Judentum und Christentum angesichts der zugrundeliegenden Berührungspunkte und Übereinstimmungen gemeinsam einen kulturellen Beitrag zu einem gelungenen Tagesbeginn in der pluralen Gesellschaft leisten können.« (61)
F. geht es insgesamt um ein liturgietheologisches Anliegen. Die »Analyse der zugrundegelegten Texte« (65–246) enthält gut gearbeitete liturgiewissenschaftliche Textinterpretationen. Das gilt beispielsweise für die Analyse des Benedictus im Kontext der Liturgie oder der Bitten, deren reiche Motivik ausgelotet wird. Für die Ar­beit an der Tagzeitenliturgie wird man zukünftig auf diese Kapitel immer wieder gerne zurückgreifen. Gleiches gilt u. a. für die Interpretation ausgewählter Hymnen (122–139) und Psalmen (139–152). Deutlich wird nicht nur, was der einzelne Text mit Blick auf Identitätsstiftung und Bekenntnis leistet, sondern auch, wie viel hier die Intertextualität und damit das Zusammenspiel der Texte innerhalb der Gesamtliturgie einträgt. Ein sehr hilfreiches Kapitel des Buches befasst sich mit der Analyse von Elementen des Shacharit. Es stellt eine Reihe jüdischer Gebetskommentare zusammen und führt kurz in sie ein (169–174). Die Textarbeit, beispielsweise zu verschiedenen Psalmen und Berakoth, ist ähnlich zu würdigen wie die zum christlichen Gottesdienst (174–246). Auch hier erkennt F. das identitätsstiftende Moment des Gottesdienstes und weist auf das Zusammenspiel von liturgischem Vollzug, Kontext, Zeitpunkt und Inhalt wie Sprache des Gebets hin (246). Identität steht im Zusammenhang mit Anamnese. Sie erinnert die Geschichte Gottes mit den Menschen und ermöglicht u. a. »eine identifikatorische Vertrauensbekundung aus der Gegenwart heraus« (248), aber drückt auch Hoffnung auf Erlösung aus. Die Kontinuität im Glauben besteht über Räume und Zeiten hinweg. Das macht in beiden Religionen die besondere Bedeutung der Liturgie aus.
Überzeugend arbeitet F. in der Schlussreflexion noch einmal die Bedeutung der morgendlichen Liturgie für jüdisches und christliches Selbstverständnis heraus. Mensch und Welt sind existenziell auf Gott verwiesen. Zeit erweist sich als mit Sinn gefüllt, das morgendliche Gebet dient der Selbstvergewisserung vor Gott. »Ein Begegnungsraum mit Gott in der Liturgie am Morgen steht repräsentativ dafür, was für den ganzen folgenden Tag gilt: eine Ausrichtung des gesamten Lebens auf Gott.« (258) F. gelingt es abschlie ßend, dieses noch einmal anthropologisch einzuholen. Eigens er­wähnt sei der Anhang, der u. a. beide Liturgien schematisch darstellt (282 f.) und die behandelten Gebetstexte dokumentiert.
Insgesamt liegt eine sehr gelungene und anregende Studie vor. Daran können auch einige Kritikpunkte nichts ändern. Man kann nicht behaupten – und die Aussage passt auch zum inhaltlichen Duktus des Buches nicht –, dass »die Psalmen erst im Stundengebet der römischen Tradition innerhalb der Struktur des Gebets einen eigenen Wert« besitzen (54). Das hieße, diese biblischen Texte in ihrem Eigenwert nicht ernstzunehmen, und würde auch die jüdische Rezeption in Frage stellen. Es ist richtig, dass die Doxologie nach den Psalmen eine »christliche« (richtig wohl: christologische) Sichtweise einbringt (164), aber es gibt auch Liturgien, die dieser Doxologie die Antiphon vorausgehen lassen, um den Psalm zu­nächst als solchen zur Wirkung kommen zu lassen. Mehrfach wird betont, dass die Identitätsstiftung im Gottesdienst u. a. auch mit »den äußeren Umständen wie dem Zeitpunkt oder der Umgebung« (246) zusammenhängt. Aber die Zeitgenossenschaft, um es einmal so auszudrücken, das Fragen und Suchen, die rückläufige Vertrautheit vieler mit biblischen und liturgischen Traditionen wird zu wenig oder gar nicht in Rechnung gestellt. Das aber müsste reflektiert werden, um von beiden Liturgien als »kairologische[n] Mo­mente[n]« oder als »Unterbrechung des Alltags« (260) sprechen zu können. Über Identitätsstiftung und Liturgie wird hier auf der Basis von Gebetbüchern gearbeitet. Das aber müsste stärker kul turanthropologisch kontrastiert werden. Dann würde man die Überlegungen, wann und wo und vor allem für wen Morgenliturgien identitätsstiftende Momente enthalten, noch erheblich vertiefen können. Das vorliegende Buch bietet dafür bereits eine sehr gute Basis.