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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

362–364

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schole, Jan

Titel/Untertitel:

Der Herr der Zeit. Ein Ewigkeitsmodell im An­schluss an Schellings Spätphilosophie und physikalische Modelle.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIV, 297 S. = Collegium Metaphysicum, 18. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-155784-2.

Rezensent:

Christian Danz

Mit Gottes Ewigkeit und Zeit beschäftigt sich die Studie Der Herr der Zeit. Ein Ewigkeitsmodell im Anschluss an Schellings Spätphilosophie und physikalische Modelle von Jan Schole. Es handelt sich um die »leicht überarbeitet[e]« (V) Fassung seiner im Wintersemester 2016/17 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommenen Dissertationsschrift. Im Ans­chluss an Schellings Spätphilosophie sowie Zeit-Modelle der Physik wird die These ausgearbeitet, »Gottes Ewigkeit« sei als Konstitution seines Bezugs zur Zeit zu verstehen, indem er die Verlaufsform seiner eigenen Zeit bestimmt und »sich in Beziehung zu anderen Zeiten, wie der Zeit der Schöpfung« (1) in Beziehung setzt. Kurz: Gott ist Macht über die Zeit und in diesem Sinne Herr der Zeit. Diese These wird in den sechs Abschnitten der Untersuchung herausgearbeitet und in Auseinandersetzung mit theologischen Positionen sowie den Debatten über den Zeitbegriff in der Physik zu plausibilisieren versucht.
Der Fokus der Arbeit liegt in den Kapiteln drei bis fünf, in denen es zunächst um Die Zeit der Physik (67–171) und sodann um Zeit als Dynamik der Potenzen – Schellings Spätphilosophie (173–239) geht. Beide Kapitel liefern die argumentative Grundlage für das fünfte Kapitel Gottes Macht über seine Zeiten (241–274), in dem ein Modell entwickelt wird, das Gottes Ewigkeit mit der Zeit verknüpft und ihn als Macht versteht, »seinen eigenen Zeitbezug zu bestimmen« (242). Die Einleitung (1–37) erörtert die Fragestellung der Untersuchung sowie deren Aufbau und bietet einen Überblick über traditionelle Ewigkeitsmodelle von Plotin, Augustin und der neueren sprachanalytischen Theologie (5–12) sowie Gott und Dynamik (12–37). S. unterscheidet zwischen der Frage nach der Dynamik und Zeitlichkeit Gottes, deren Diskussion auf ein Gottesbild hinausläuft, in dem Gott weder statisch noch zeitlos zu denken sei (36). Das Argument hierfür ist der Unendlichkeitsgedanke. Unendlichkeit kann, soll sie nicht selbst endlich sein, Zeit nicht ausschließen. Folglich muss Gott ein Verhältnis zur Zeit bzw. zu Zeiten haben. Vor diesem Hintergrund kommt die Leitfrage der Untersuchung in den Blick, »ob und wie Übergänge zwischen verschiedenen Zeitformen und Zeitbezügen widerspruchsfrei denkbar sind« (37). Diese Fragestellung nimmt das zweite Kapitel auf, in dem Konzeptionen von Zeit und Ewigkeit in der neueren [protestantischen] Theologie erörtert werden (39–65). Das erfolgt anhand der Entwürfe von Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann und Ingolf U. Dalferth. Warum diese Autoren herangezogen werden, begründet S. jedoch nicht. Während bei Pannenberg (39–50) Ewigkeit als Explikation der Gotteslehre fungiert, tritt bei Moltmann (50–61) der Gedanke der Zeitmächtigkeit in den Fokus, und Dalferth (62–64) biete einen trinitarisch explizierten Ewigkeitsbegriff, der unterschiedliche Zeitbezüge verschränkt. Die drei genannten Aspekte werden von S. aufgenommen und in den folgenden Kapiteln weiter entfaltet.
Als Zielbestimmung seiner Untersuchung formuliert S., dass es nicht um »eine allgemeine Theologie der Zeit oder einen allgemeinen Ewigkeitsbegriff« geht, sondern darum, »ein Ewigkeitsmodell für den christlichen Gott zu entwickeln« (3). Das erfolgt im Medium einer cum grano salis spekulativen Reflexionsphilosophie, die auf den christlichen Gottesgedanken angewendet wird. In Weiterführung der Überlegungen zu Zeit und Ewigkeit in der neueren protestantischen Theologie gibt das fünfte Kapitel einen Überblick über das Zeitverständnis der Physik. Dadurch sollen »Anregungen für ein Ewigkeitsmodell« sowie »Konsequenzen für die einzelnen Zeitbezüge« (169) gewonnen werden. Prägnant und klar erläutert S. das Zeitverständnis der klassischen Physik (73–81), relativistische Zeit und Kosmologie (81–116), Zeit und Quanten (116–132), Irreversibilität und Reversibilität der Zeit in der statistischen Physik (132–140) sowie quantifizierte Zeit (140–153). Die Ausführungen münden in ein Zeitverständnis, das Zeit als Struktur versteht (153–171). »Zeit ist demnach eine Menge von unterscheidbaren Momenten, zwischen denen gesetzliche Zusammenhänge bestehen.« (170) Vor diesem Hintergrund diskutiert S. das Zeit- und Ewigkeitsverständnis in Schellings später Philosophie. Dessen Philosophie ist deshalb für die Untersuchung relevant, da sich hier ein »Übergang zwischen Ewigkeit als Nicht-Zeit und Zeit« (173) ausgearbeitet finde. »Schelling geht davon aus, dass Gott zunächst zeitlos existiert, aber mit Beginn der Schöpfung zeitlich wird.« (ebd.) Diese Grundstruktur von Schellings später Philosophie, wie sie in der Philosophie der Offenbarung und der Philosophie der Mythologie vorliegt, rekonstruiert das vierte Kapitel der Studie. Im Fokus steht die Potenzenlehre des Leonberger Denkers, die vor dem Hintergrund der neueren Forschung analysiert wird (175–196). Aus ihr resultiert eine in der Freiheit Gottes gründende dynamische Konzeption, die es erlaubt, Ewigkeit und Zeit zu verschränken und einen Übergang zwischen beiden zu denken (196–205). Schelling unterscheidet zwischen einer absoluten Ewigkeit und einer vorweltlichen Ewigkeit sowie zwischen einer wahren Zeit und einer arretierten Zeit (205–237). Das bedeutet, dass sich das »Zeitmodell des späten Schelling« dadurch auszeichnet, »dass Zeit dynamisch entsteht und durch Dynamik fortschreitet« (237).
Die Überlegungen zum Zeitverständnis der Physik und der Spätphilosophie Schellings nimmt das fünfte Kapite I Gottes Macht über seine Zeiten auf und skizziert die Grundzüge eines Modells, das es ermöglichen soll, Gott als Herrn der Zeit zu denken. Gott steht so in einem Verhältnis zu den Zeiten, dass er es selbst hervorbringt. Das setzt auf Seiten Gottes Hintergrundunabhängigkeit, Dynamik und Handlungsfreiheit voraus (242–253). Unter Aufnahme von physikalischen Causal Set Theories und einer imaginären Zeit sollen diese drei Eigenschaften Gottes gewährleisten, »dass Gott verschiedene Zeitformen erfahren kann« (242). Die verschiedenen Zeitformen werden sodann diskutiert (253–266) und in einer Bestimmung von Trinität und Zeit (266–269) sowie Klärungen des Ewigkeitsbegriffs gebündelt (Ewiges Leben für den Menschen, 269–271; Der Ewigkeitsbegriff, 271–274). Gott ist die Dynamik, die den Zeitprozess durch seinen Willen steuert, er setzt seine Zeit und ist ihr nicht unterworfen. »Die Dynamik ist also die Lebensmacht Gottes und der dynamische Gott ist der lebendige Gott, der im Leben existiert, nicht in einem Zustand.« (274) Das von S. vorgeschlagene Modell verbindet Zeitmodelle der Physik mit Schellings Zeitverständnis und arbeitet den Grundgedanken aus, demzufolge »Zeit aus der Dynamik folgt« (277) und diese nicht deren Voraussetzung darstellt, wie in der die Studie abschließenden Zusammenfassung (275–278) formuliert wird.
Auch wenn man den vormodernen Gottesgedanken und die logisch-metaphysischen Voraussetzungen der Untersuchung von S. nicht teilt, so hat er doch eine klare und gut lesbare Studie zum Zeitbegriff vorgelegt, die das Zeitverständnis von Schellings Spätphilosophie konstruktiv aufnimmt und es sowohl auf Debatten der gegenwärtigen protestantischen Theologie als auch der Physik be­zieht.