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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

356–358

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Unruh, Peter

Titel/Untertitel:

Reformation – Staat – Religion. Zur Grundlegung und Aktualität der reformatorischen Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XV, 289 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-155217-5.

Rezensent:

Norbert Janz

Der Wittenberger Thesenanschlag von 500 Jahren hat auch den Präsidenten des Landeskirchenamtes der Nordkirche animiert, die Aktualität des Wirkens Martin Luthers zu untersuchen. Peter Unruh, gleichzeitig außerplanmäßiger Professor an der Universität Göttingen, ist einer der profiliertesten deutschen Staatskirchenrechtler. In seiner Person vereinigt er Praxis und Wissenschaft in solitärer Weise.
Das im Titel »Reformation – Staat – Religion« umrissene, breit angelegte Sujet wird in drei großen Kapiteln aufbereitet. Mittels einer dezidiert historischen Herangehensweise analysiert U. das gemeinreformatorische Gedankengut der Unterscheidung von Weltlichem und Geistlichem, also nach heutiger Diktion von Staat und Religion. Erklärtes ambitioniertes Ziel des Buches ist es, eine Schneise in den Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre zu bahnen, um damit den Weg in das 21. Jh. freizulegen. Es ist U.s feste Überzeugung, dass sich die politische Vielfalt auch und gerade in der Verhältnisbestimmung der beiden Sphären zeigt. Einige der angestellten Überlegungen sind nicht neu. Sie finden sich schon in seinem Lehrbuch »Religionsverfassungsrecht« (4. Aufl. 2018) und sind als solche durchweg kenntlich gemacht. Mitunter wenig lesefreundlich ist die Zitierweise, wenn Mehrfachautoren nicht werkbezogen zitiert sind (z. B. Dreier, 203, Anm. 32 und 33).
Im ersten Abschnitt wird die Zwei-Reiche-Lehre in der Reformation des 16. Jh.s skizziert. Wenig überraschend wird Martin Luther als Ausgangspunkt gewählt. Eine selbstverfasste Gesamtdarstellung seines Denkens liege nicht vor, wohl aber viele einzelne reformatorische Schriften, die einen konsistenten Zusammenhang seiner Position erkennen lassen. Seine Zwei-Reiche-Lehre sei eigentlich eine Rechts- und Staatstheologie. Es gehe also um die theologische Unterscheidung von Staat und Religion, so dass es sich bei Luther nicht um einen klassischen Staatsdenker handele. Instruktive Ausführungen finden sich zum Reich Gottes und zum Reich der Welt sowie zu den beiden Regimenten. Es habe eine Zu­ordnung über den Glauben des/der Einzelnen zu erfolgen. Luther habe sich standhaft gegenüber dem landesherrschaftlichen Kirchenregiment gezeigt. Es folgen Überlegungen zu weiteren be­deutsamen Reformatoren des 16. Jh.s, namentlich zu Melan-chthon, Zwingli und Calvin. Übereinstimmendes, Trennendes und Fortentwicklungen werden deutlich gemacht. Besonders interessant erscheine der Umgang mit Abweichlern. Alle vier theologischen Vordenker stellten Weichen für ein modernes Religionsverfassungsrecht, und zwar bei allen Unterschieden in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion.
Das zweite Kapitel ist Staat und Religion vom 16. bis zum 21. Jh. gewidmet. U. präsentiert einen kursorischen, gleichwohl erhellenden Überblick über die gut vier Jahrhunderte. Die Reformation wird als im Ansatz theologische Bewegung mit einem innerkirchlichen Reinigungs- und Erneuerungsprozess dargestellt, der be­reits im 16. Jh. erhebliche Auswirkungen auf das staatliche Recht und das Religionsverfassungsrecht hatte (Stichwort: Reformationsfolgenrecht). Die vormalige Einheit von weltlicher Herrschaft und Religion wurde durch die Glaubensspaltung in Teilen beendet, was notabene zu einer »Verfassungsstörung« im Reich führte – und auch führen musste. Der Augsburger Religionsfrieden 1555 müsse als rechtliche Kompromissordnung von sich gegenseitig ausschließenden Konfessionen angesehen werden. Das ius reformatio einschließlich des cuius regio eius religio sowie das ius emigrandi als Anerkennung der religiösen Freizügigkeit seien markante Eckpunkte. Dieser Friedensschluss sei zusammen mit dem Westfälischen Frieden 1648 existentiell für die Befriedung der religiösen Spannungen. Ihre Grundgedanken einer rechtlichen Rahmensetzung für die Koexistenz und Parität divergierender religiöser Wahrheits- und Absolutheitsansprüche habe auch im 21. Jh. nichts an Aktualität eingebüßt. Es folgt eine kurze Beschreibung des landesherrlichen Kirchenregiments als Summepiskopus. Dadurch sei die evangelische Kirche weit mehr als die katholische im Einflussbereich des Staates verblieben. Hiernach wendet sich U. der Weimarer Reichsverfassung mit den Kulturkompromissartikeln zu. Der Sturz der Monarchie habe zum Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments geführt. Zu Recht wird die 1919 verfassungsrechtlich fixierte freundschaftlich-hinkende Trennung von Staat und Kirche als Epochalwende bezeichnet. Sehr kurz wird das Dritte Reich beleuchtet. Zwei Phasen werden unterschieden: Dem Versuch der Gleichschaltung folgte der offene Kampf. Endend finden sich ebenfalls knappe Überlegungen zur DDR. Staatliche und innerkirchliche Entwicklungen werden nur ansatzweise benannt.
Im abschließenden dritten Abschnitt »Reformation und Grundgesetz« unterstreicht U. zunächst die Weitergeltung der reformatorischen Unterscheidung zwischen Geistlichem und Weltlichem. Hiernach wird das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes skizziert, und zwar beispielhaft Art. 4 GG sowie via Art. 140 GG die Regelungen des Art. 137 Abs. 1 und 4 WRV. Die anderen WRV-Normen bleiben unerörtert. Es geht um das Aufzeigen der Langzeitwirkung von Martin Luther mit all ihren Kontinuitäten und Differenzen. Die Religionsfreiheit des Art. 4 GG war – wie die anderen grundrechtlichen Gehalte – den Reformatoren fremd. Dennoch seien Impulse bei der Begrenzung der staatlichen Macht und dem Schutz des forum internum zu konstatieren. »Zum Glauben kann, soll und darf niemand gezwungen werden – so hallte die Stimme Martin Luthers hinweg nach bis in das Grundgesetz« (205). Das Verbot einer Staatskirche und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 137 Abs. 1 und 4 WRV) wiesen nur, aber immerhin eine ambivalente Kontinuität auf. U. fragt sodann nach einer (Re-)Sakralisierung des Religionsverfassungsrechts heutzu-tage. Widersprüchliches zwischen Säkularisierung einerseits und »Wiederkehr der Religion« andererseits sei festzustellen. Er wendet sich ausdrücklich gegen verschiedentlich postulierte demokratietheoretische Relativierungen der Neutralität. Gleichzeitig erteilt er einer klaren Distanziertheit von Staat und Kirche eine Absage, Kirchen und Religionsgemeinschaften käme auch heute eine wichtige Rolle zu. Die von Luther skizzierte »Ermahnungsfunktion« der Kirche sei zielführend, wenn sie ihre Beiträge in säkular verwendbare Argumentationsformen gieße.
Fazit: Es handelt sich um eine kluge Schrift, die einen weiten Bogen von der Reformation bis heute spannt. 500 Jahre reformatorisches Wirken im deutschen Verhältnis von Staat und Kirche werden fachkundig ausgemessen. Und die Wirkung geht weiter!