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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

354–356

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Thiede, Werner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Karl Barths Theologie der Krise heute. Transfer-Versuche zum 50. Todestag.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 282 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05632-3.

Rezensent:

Frank Jehle

»Karl Barths Theologie ist eine Zumutung. Sie ist es in allen Phasen seines Wirkens gewesen. Und sie ist es auch in ihrer weiteren Wirkungsgeschichte geblieben. Ob als theologisches Jahrhundertereignis gefeiert oder als Vernebelungsmanöver grossen Stils gescholten: an ihr vorbei lässt sich evangelische Theologie nicht betreiben.« Die Worte Ingolf U. Dalferths anlässlich Karl Barths 100. Geburtstag (EvTh 46 [41 NF] [1986], 402) gelten auch heute – 100 Jahre nach Barths »Römerbrief« und gut 50 Jahre nach seinem Tod. Der hier anzuzeigende Sammelband, zu dem 14 deutsche Theologen Aufsätze beitrugen, macht dies deutlich. Der Ausdruck »Theologie der Krise« im Buchtitel mag verkaufsfördernd wirken, ist aber wenig glücklich. Zuerst wurde »Theology of Crisis« 1925 von Adolf Keller in der britischen Zeitschrift »The Expositor« gebraucht. Als Nächster verwendete Karl Adam denselben Ausdruck 1926 in der Zeitschrift »Hochland«. Durch Emil Brunners Buch »Theology of Crisis« von 1929 (beruhend auf Vorlesungen in den USA) wurde er besonders in der englischsprachigen Welt populär. Barth selbst hätte die weniger dramatische Bezeichnung »Theologie des Wortes Gottes« vorgezogen.
Der Band dokumentiert, wie lebendig Barths Theologie ist. Viele sind von Barth angeregt und ermutigt, andere irritiert, können aber trotzdem nicht von ihm lassen. Die einzelnen Beiträge sind von unterschiedlicher Qualität. Teilweise ist ärgerlich, dass besonders im deutschsprachigen Raum viele wissenschaftlich Tätige sich nicht so schwierig wie nötig, sondern so schwierig wie möglich ausdrü­-cken, wohl um sich in der scientific community zu profilieren!
Ein Juwel ist Wolf Krötkes Abhandlung zu Barths Lehre von der Taufe (237–251). Allein ihretwegen lohnt es sich, das Buch in die Hand zu nehmen. Glänzend geschrieben, stellt sie unbequeme Fragen an die Taufpraxis der evangelischen Kirchen heute. Zu Recht stellt Krötke eine vom Kirchenamt der EKD herausgegebene Broschüre mit dem Titel »Taufe und Freiheit« an den Pranger, die die Kindertaufe »in den Kontext eines religiösen Bedürfnisses von Menschen, die Kinder haben«, einbettet. (239) Die »als selbstverständlich angesehene Säuglings- bzw. Kindertaufe« werde »hier als ein rein durch ihren Vollzug (ex opere operato) wirkendes Sakrament empfohlen, das göttliche ›Lebenskraft‹ verleihe« (238).
Wichtiger als die praktisch-theologische Aktualität ist das Grundsätzliche: Krötke, der Barths Publikationen gründlicher als die meisten kennt, zeigt, wie besonders der späte Barth deutlich sah, dass Gottes »Allwirksamkeit« nicht mit seiner »Alleinwirksamkeit« verwechselt werden darf, und er zitiert, dass Gott gemäß Barth »nicht über Marionetten und Sklaven herrschen« wolle (244). Indem Gott die Menschen »von der Herrschaft der Sünde über das menschliche Leben« frei mache, könnten sie »Mithelfer« des sie »erwählenden und versöhnenden Gottes« werden. »Gott beteiligt Menschen an seinem Wirken. Sie sollen, dürfen und können mithelfen, mit ihren menschlichen Möglichkeiten das Evangelium von der Versöhnung Gottes mit uns Menschen in Jesus Christus zu bezeugen […].« (Ebd.)
Aus räumlichen Gründen ist es nicht möglich, hier alle 14 Beiträge zu erwähnen, geschweige denn zu besprechen. Bemerkenswert ist, dass einige aus der evangelikalen Ecke kommen. Hervorzuheben ist der Aufsatz des methodistischen Systematikers Chris-toph Raedel, geboren 1971 und Vorsitzender des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, über »Barths Schriftverständnis und die historisch-kritische Methode in der Krise« (119–136). Raedel stellt Barths Verständnis der Heiligen Schrift weitgehend richtig dar. Barth lehne die altprotestantische Lehre von der Verbalinspiration ab und werfe ihr vor, das Wort Gottes zu verdinglichen. Die Inspiration werde dabei »von einem Satz über das Sein Gottes in einen S atz über das Wesen der Schrift umgeformt« (128). Daher sei für Barth »jeder Versuch, die Worte der menschlichen Autoren als unfehlbar oder irrtumslos auszuweisen, Bemächtigung des Textes, Verfügbarmachung Gottes«. (Ebd.)
Angesichts seiner Herkunft versteht es sich wohl von selbst, dass Raedel dezidiert Einspruch erhebt: Er beruft sich auf 2Tim 3,16, wo davon die Rede sei, »dass ›alle Schrift‹ von Gott eingehaucht sei« (ebd.). – Zu bemerken wäre hier, dass diese Bibelstelle auch anders verstanden werden kann: Nicht »alle Schrift« ist von Gott eingehaucht, sondern »jede von Gott eingehauchte Schrift ist auch nützlich«!
Wesentlicher sind Raedels grundsätzliche Einwände gegen Barth: Der menschliche Text ist für ihn »nicht lediglich Hülle oder Gewand für Gottes Wort« (verhält es sich bei Barth wirklich so?), vielmehr schafft der Inhalt des Wortes Gottes sich »seine ihm gemäße literarische Gestalt« – eine Gestalt, die die Endlichkeit und Fehlbarkeit ihrer Autoren zwar nicht aufhebt, sie aber zu dem Dienst befähigt, »die sie dem Gotteswort zu tun bestimmt sind« (132).
»Gott entäußert sich wie ›ein Schriftsteller‹ [Raedel beruft sich hier auf Johann Georg Hamann!] in menschliches Wort hinein, bindet sich durch den Heiligen Geist an dieses ›leibliche Wort‹, das als dieses feststehende Wort jeder Weise, in der Menschen sich zu ihm verhalten, vorausgeht – und zwar als Schrift gewordenes Zeichen, das in der Selbstunterscheidung vom Bezeichneten von sich weg weist.« (Ebd.) »Vom Subjekt der Inspiration her, also von Gott her gedacht, müssen der inspirierte Schreiber und der inspirierte Leser […], im Medium des Textes verbunden, aufeinander bezogen gedacht werden.« (133)
Diese auf hohem Niveau vorgetragenen evangelikalen Einwände gegen Barth reizen, dessen Ausführungen über die Heilige Schrift wieder einmal selbst zu lesen.
Zum Schluss sei Werner Thiede, dem Herausgeber und Initiator des Bandes, Reverenz erwiesen: Auch sein Aufsatz über »Karl Barths individuelle Eschatologie und die Krise der Ganztod-Theologie« darf wohl als evangelikal bezeichnet werden – oder auch als esoterisch! Thiede übt an Barth heftige Kritik: Indem er ihn pauschalisierend einen Ganztod-Theologen nennt, macht er ihn verantwortlich dafür, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer heute »nichts wirklich Trostreiches« am Grab zu sagen wüssten. (274) Barths Eschatologie nehme »Gottes Schöpfung als sein über alle Diskontinuität hinweg doch kontinuierlich lebendig Anderes nicht wirklich ernst« (ebd.). Barths Sätze »Unser Tod ist unsere Grenze. Unser Gott ist aber auch die Grenze unseres Todes […]«, »Gott ist [unser] Jenseits«, und die »Befreiung zum ewigen Leben ist […] auch des Menschen Befreiung zu einem natürlichen Sterben« (KD III/2, 743; 770 und 777) genügen Thiede nicht. Im Gegenteil liebäugelt er mit den »Nahtod-Visionen«, wie Raymond A. Moody sie beschrieb (vgl. Raymond A. Moody: Leben nach dem Tod. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 342002). Es gebe ein reales, von Gott unterschiedenes Leben nach dem Tod!
Thiede geht noch weiter: Aus der Erzählung von Barths Hausarzt, als Barth am 10. Dezember 1968 tot in seinem Bett aufgefunden worden sei, habe er sich »auf dem Rücken liegend, zugleich strikt zur Fensterseite geneigt und habe mit riesig weit geöffneten Augen nach dort geschaut: ›Er muss anscheinend im Moment des Sterbens ein ihm hoch Erstaunliches gesehen haben‹« (271), zieht Thiede den Schluss: Barth habe am Ende seines Lebens selbst eine »Nahtod-Vision« gehabt, die seine Ganztod-Theologie widerlegt habe (272)! Es ist verdienstlich, dass Thiede den hier angezeigten Sammelband angeregt und herausgegeben hat, aber hier geht er zu weit!