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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

349–352

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

Luthers Provokation für die Gegenwart. Christsein – Bibel – Politik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 167 S. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-374-05700-9.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Das Reformationsjubiläum 2017 war »die Domäne der Historiker«, doch die Systematische Theologie »geriet ins Hintertreffen« (5). Deshalb sichtet Ulrich H. J. Körtner unter der Überschrift »Luther heute« (9–16) den wissenschaftlichen Ertrag des Jubiläumsjahrs. Wie bei Ablasskritik, Rechtfertigungslehre und allgemeinem Pries-tertum sollte »die Sprengkraft von Luthers Theologie« »gerade heute neu bewusst gemacht werden« durch »eine neue Form von radikaler Theologie, die leidenschaftlich nach Gott fragt und auf das Evangelium hört« (15).
Luthers Gottesverständnis »ist und bleibt freilich eine Provokation« (15): »II Der Gott Martin Luthers« (17–38). Auch wenn die Erfahrung der Abwesenheit Gottes zur Signatur unserer Gegenwart gehört, führt Luthers allgemeine Definition »Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott« zu dem »Schluss, dass es niemals eine götterlose Zeit gegeben hat, gibt und geben wird« (18). Nicht nur im Blick auf »Die Wiederkehr der Götter« in der modernen Kultur (F. W. Graf), sondern auch für den interreligiösen Dialog mit Muslimen besteht die Provokation darin, dass Luther nicht »nach Befindlichkeiten fragte, sondern nach der Wahrheit« (19). Im An­schluss an Martin Walser (20.24 f.) zeigt der Vf., »dass die Frage nach der Existenz Gottes keineswegs radikaler ist als jene nach dem gnädigen Gott« (24). Denn eine Gesellschaft, der die Rechtfertigungsproblematik in ihrer radikalen religiösen Dimension abhanden gekommen ist, hat »eine übertribunalisierte Lebenswelt entstehen lassen, die die Vorstellung eines göttlichen Weltgerichts für einen obsoleten Mythos hält, zugleich aber in kleiner Münze tagtäglich das Weltgericht vollzieht, ohne dass es wie bei Luther Aussicht auf Gnade und Vergebung gibt« (25). Den unterschiedlichen Spielarten einer neuen negativen Theologie hält der Vf. entgegen, dass Gott sich verbirgt, um sich in der Menschwerdung Christi zu offenbaren. Von Luther her gefordert sei deshalb eine positive Theologie, zu der heute die offensive Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Skepsis an der Existenz und Wirkmächtigkeit Gottes ebenso gehört wie mit dem religiösen Pluralismus (37 f.).
»III Luther und die Freiheit« (39–57): So konsequent Luther das biblische Evangelium von Jesus Christus neu als Botschaft der Freiheit entfaltet hat, wäre es doch eine unhistorische Betrachtungsweise, Luther zum Ahnherrn der modernen bürgerlichen Freiheiten zu erklären. Trotzdem bleibt die Frage legitim, »ob uns Luther dennoch heute noch etwas zu sagen hat« (43). Daher wird eine »Ethik der Freiheit« entworfen, die den Menschen als rezeptives Geschöpf Gottes begreift und seine Rezeptivität im Hören erkennt. Das Hören des Wortes Gottes weist ein in eine »Ethik des Lassens, die Gott Gott und den Mitmenschen ihn selbst sein lässt, statt über ihn und die Welt eigenmächtig verfügen zu wollen« (55). Die rechtfertigungstheologisch begründete Anerkennung des Anderen drückt sich in der reflektierten Zurückhaltung aus, andere nicht zu verändern und zu verbessern, sondern zu verschonen. Auch im Um­gang mit der Schöpfung besteht diese Freiheit nicht in der Willkür, sondern in der Selbstbeschränkung, der Natur das Ihre zuzugestehen. Diese Verantwortungsethik interpretiert der Vf. mit Wolfgang Huber als kommunikative Freiheit, weil der Mensch seine Freiheit nur in Beziehungen und darum auch nicht ohne Liebe, Verantwortung und Gerechtigkeit leben kann.
Beim Schriftverständnis (IV: 58–80) ist die Ansicht weit verbreitet, Luther habe die herkömmliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn verworfen und nur noch den Literalsinn gelten lassen. Nun sind seit der Aufklärung pluralisierende Bibelhermeneutiken entstanden, die im selben Text viele Sinnmöglichkeiten aufspüren. Außerdem hat die moderne Exegese zwischen der literarischen Gestalt Jesu in den Evangelien und der ursprünglichen Botschaft des historischen Jesus zu unterscheiden gelehrt. Daraus erwächst das hermeneutische Problem, »ob und wie es denn heute möglich ist, Gott bzw. Christus selbst reden zu hören,« d. h. den Logos, der Fleisch geworden ist (62). Deshalb wird anhand von Luthers Evangelienauslegung gezeigt, dass die Alternative zwischen singularisierender und pluralisierender Exegese »zu kurz greift« (62). Luther ging es nicht um eine Harmonisierung von Widersprüchen zwi schen den Evangelien, sondern um das eine Evangelium, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist. Damit betreibt Luther jedoch keine pluralisierende Hermeneutik, sondern eine kanonische Bibellektüre, die von der Bibel im Ganzen ausgeht, in der Chris-tus selbst als der absolute Autor das Wort ergreift, nämlich das Evangelium, das »uns aber durch die menschlichen Autoren überliefert (ist), die von Luther auch als eigenständige Interpreten desselben gewürdigt werden« (78). Durch die Reduktion auf den christologisch interpretierten Literalsinn wurde zwar die Singularisierung verstärkt, doch führen die Fundamentalunterscheidungen von Gesetz und Evangelium, Glaube und Werken zu einer – doch wohl etwas anders gearteten – theologischen Pluralisierung, bei der die Kunst des Unterscheidens zum Maßstab guter Theologie wird.
»V Der gerechtfertigte Sünder. Luthers ›simul iustus et peccator‹« (81–106) reflektiert die Wesensbestimmung des Menschen angesichts der neutestamentlichen Unterscheidung von altem und neuem Menschen, um sie für die Bioethik stark zu machen. Die unterschiedlichen Nuancen in den paulinischen Briefen, bei Luther und Calvin werden differenziert herausgearbeitet. Die re­formatorische Anthropologie mag im bioethischen Diskurs hoffnungslos antiquiert als ideologischer Hemmschuh erscheinen, doch stellt sich vom Neuen Testament her die Frage, ob das Streben nach der biotechnischen Optimierung der menschlichen Natur »nicht auf einer verhängnisvollen Selbsttäuschung beruht, die höchst inhumane Folgen nach sich ziehen kann.« Denn theologisch gesprochen ist es doch nur »der alte Mensch«, der »den Gesetzmäßigkeiten der unerlösten Welt verfallen bleibt« (103). Um der Gefahr einer soteriologischen Überhöhung der modernen Medizin zu wehren, wird einerseits aus dem Gebot der Nächstenliebe die Verpflichtung zum Heilen abgeleitet, andererseits aufgrund des eschatologischen Vorbehalts die Unterscheidung von Heil und Heilung eingefordert, um nicht »vom Geist der Utopie zur Barbarei verführt zu werden« (105). Das kritische Potential reformatorischer Anthropologie ermöglicht »ein Ethos des Sein-Lassens und der Verschonung«, das die Fragmenthaftigkeit des Daseins auf eine höhere Vollendung verweist (106).
»VI Gottesdienst im Alltag der Welt. Geschichte und Zukunft des protestantischen Arbeits- und Berufsethos« (107–130) beschreibt von Max Weber und Ernst Troeltsch ausgehend die gesellschaftlichen Veränderungen mit der Ausweitung des Arbeitsbegriffs auf Trauer-, Beziehungs- und Persönlichkeitsarbeit sowie ehrenamtliche Tätigkeiten. Nach der kritischen Relektüre von Luther und Calvin wird aus der Rechtfertigungslehre eine Ethik des Lassens entwickelt, die vom Zwang zur Selbstrechtfertigung befreit, durch ein neues Verständnis von Arbeit und Beruf der Muße zu ihrem Recht verhilft und auch in der Freizeitgestaltung zur Ruhe kommen lässt.
»VII Protestantismus und Politik. Von geistlicher und weltlicher Obrigkeit zur theologischen Theorie des Politischen« (131–153) skizziert nach Luthers und Zwinglis Sicht die Umformungen der Staatslehre im 20. Jh. Während die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 noch die »klare Unterscheidung zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates« voraussetzt, ist angesichts einer gewissen »Tendenz zur Klerikalisierung der Politik« in der EKD (146) »das kritische Potential der ursprünglichen Zwei-Regimenten-Lehre Luthers und der übrigen Reformatoren neu zur Geltung zu bringen« (147). Mit Wolfgang Huber wird die Vermittlungsaufgabe der Kirche in die Gesellschaft hinein bekräftigt. Bei der Ausdifferenzierung zwischen der Kirche als Institution, in zivilgesellschaftliche Initiativgruppen sowie in der Diakonie wird die ekklesiologisch wie sozialethisch nicht hinreichend bedachte Frage nach der evangelischen Identität zugespitzt: »Wer trägt für diese Verantwortung, und wie ist sie inhaltlich-theologisch zu bestimmen?« (150) Öffentliche Theologie ist ein urevangelisches Anliegen im Sinne des »publice docere« (CA XIV), sollte aber nicht »zum Synonym für eine bestimmte kirchenamtliche Theologie mit quasi lehramtlichem Anspruch verkürzt werden«, wie es der Vf. dem Ratsvorsitzenden der EKD Heinrich Bedford-Strohm vorhält. Öffentliche Theologie ist nicht nur der Transmissionsriemen für theologisch-ethische Grundüberzeugungen, sondern ein gesellschaftlicher Lernort, in dem gerade theologische Grundfragen im öffentlichen Raum neu durchdacht werden (152).
Der Buchtitel klingt reißerisch. Doch angesichts des Defizits der Systematischen Theologie schafft der gehaltvolle Band in der Tat »ein wenig Abhilfe« (5), da er reformatorische Grundeinsichten nicht einfach wiederholt, sondern mit den notwendigen Umformungen für heute kirchlich wie gesellschaftlich relevante Fragen fruchtbar macht. Dass mehrfach ähnliche Überlegungen wiederkehren, spricht für die systematisch-theologische Stringenz der Fallstudien. Da der Vf. sich andernorts ausführlicher geäußert hat, werden viele Impulse sehr konzentriert eher thesen- oder stichwortartig angesprochen, die es wert wären, weiter vertieft zu werden. Die bisweilen provokanten Zuspitzungen versprechen eine an­regende Lektüre.