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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

333–335

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Möller, Esther, u. Johannes Wischmeyer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 195 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 96. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-525-10124-7.

Rezensent:

Markus Wriedt

Seit etlichen Jahren beschäftigen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz mit Fragen des Kulturtransfers. Dieses weniger statisch beschreibende als vielmehr Prozesse der Vermittlung berücksichtigende Forschungsparadigma wurde in den 1990er Jahren in Frankreich und Österreich (Michel Espagne, Wolfgang Schmale) entwickelt und erfreute sich zunehmend wachsender Beliebtheit im deutschen Forschungszusammenhang. In der Beihefte-Reihe des Instituts sind bereits einige Veröffentlichungen zu diesem Thema er­schienen, in die sich der vorliegende Sammelband durchaus passend und die Forschungsdebatte weiterführend einordnet.
Das Raumparadigma der neueren, kulturwissenschaftlich in­spirierten Historiographie in Erweiterung des sogenannten »spa-tial turn« aufnehmend diskutiert der vorliegende Band die Frage der Bildungsräume. Im Einleitungskapitel werden von den Herausgebern die mit diesem Konzept verbundenen Koordinaten oder Referenzwerte vorgestellt: Organisation und die Akteure, Ideologien und Diskurse, Räume. Auch wenn man bei der Lektüre zuweilen sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass hier in einer Art »Neuer Sprache« bekannte Phänomene und Bedingungen zusammengefügt werden, liegt der Mehrwert des Ansatzes erkennbar darin, dass bisher vernachlässigte Aspekte der Wechselbeziehungen zwischen all diesen Faktoren berücksichtigt werden und so zu anderen, zuweilen neuen Einsichten gelangen. Zugleich handelt es s ich um wichtige Beiträge an den Schnittstellen von historischer Bildungsforschung und hierbei der Entstehung der modernen nationalstaatlichen Bildungssysteme sowie der theoretischen Konzeptualisierung von Bildung und Erziehung als gesellschaftlicher Aufgabe. Dieser interdisziplinäre Beitrag ist schon für sich selbst gesehen von kaum zu überschätzender Bedeutung.
Der in den Aufsätzen dokumentierte Untersuchungsraum ist sehr groß und die Leser sind gehalten, die einleitend genannten Aspekte immer wieder im Blick zu halten. Sonst könnte leicht der Eindruck von arbiträrer Sammelwut entstehen. Das Zentrum der Beiträge liegt im 19. und 20. Jh. Als geographische Re­gionen werden Indien und Großbritannien, das Großherzogtum Berg, außerdem die Wechselwirkung zwischen deutschen und US-amerikanischen protestantischen Theologen, die Interferenzen zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich, zwischen Deutschland und Italien sowie Frankreich und dem Libanon erörtert.
Sylvia Kesper-Biermann erläutert zunächst die Entstehung und Manifestation von Bildungsräumen. Dieser noch weitgehend theoretisch ausgerichtete Aufsatz erläutert die Anschlussfähigkeit und Flexibilität des Konzepts »Bildungsräume«. Es wird deutlich, dass es um vielfältige Prozesse geht, die sämtliche Ebenen des Bildungswesens betreffen. Deutschland kommt dabei eine besondere Rolle zu. Zugleich betont die Autorin die Wandlungsfähigkeit und Verschiebungsvielfalt der beschriebenen Räume. Bildungsräume sind eben gerade keine statischen Ortsbestimmungen, sondern virtuelle Größen eines andauernden Transformationsprozesses.
Eine geradezu Kulturdifferenzen überschreitende Bildungsform beschreibt Jana Tschurenev am Beispiel des wechselseitigen Unterrichts in Indien und Großbritannien. Hierbei konzentriert sie sich auf die koloniale Zeit der Beziehungen zwischen dem Mutterland Großbritannien und seiner Kronkolonie Indien. Dabei liegt die Frage nach den postkolonialen Debatten nahe, die allerdings im Rahmen des Beitrags kaum zu beantworten ist. Es werden Asymmetrien des Kulturtransfers erkennbar, die allerdings eine weitergehende quellengesättigte Untersuchung erfordern.
Weniger das Modell des Transfers als das der Raumkonfiguration untersucht Bettina Severin-Barboutie am Beispiel der Hochschulreformdebatte im Großherzogtum Berg. Es geht vornehmlich um die Universität Düsseldorf während der napoleonischen Besetzung, in der kurzen Zeit zwischen 1806 und 1813 – dem Jahr des Umbruchs und der beginnenden Befreiungskriege. Bei den ministerialen Verantwortlichen stand sogar die Aufgabe der Universität in Rede. Gleichwohl konnte sie unter den Bedingungen des preußischen Staates nach dem Wiener Kongress bewahrt und weitergeführt werden.
Den schwierig zu fassenden Begriff der Vermittlungstheologie aufnehmend sucht Johannes Wischmeyer in Fortführung seiner Graduierungsarbeit die Debatten der protestantischen Liberalen als Bildungsraum zu rekonstruieren. Er schaut nach dem Transfer, der sich zwischen den US-amerikanischen und deutschen Theologen im 19. Jh. ergab. Er vermag schlüssig nachzuzeichnen, dass sich die deutsche Universitätstheologie dem sonst manifesten Trend zu einer weltweiten Vernetzung der Wissenschaftler teilweise entzieht, insofern nationalistischen Tendenzen stärker nachgegeben wird. Das steht in einem deutlichen Gegensatz zu den vormaligen nordamerikanischen Kolonien nach ihrer Unabhängigkeit. Wischmeyer konstatiert, dass die europäischen Modelle zwar bekannt waren, sich die amerikanische Bildungslandschaft jedoch weitgehend unabhängig davon zu entwickeln vermochte. Die Verwissenschaftlichungstendenzen auf dem nordamerikanischen Kontinent verdankten sich gänzlich anderen Motiven als die in Zentraleuropa, vor allem in Deutschland. Dieser Beitrag gibt Anlass, die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den USA und europäischen Bildungseinrichtungen noch einmal im Licht der neueren Bildungs- transferdebatten zu bewerten.
Mustafa Gencer thematisiert den gravierenden Transformationsprozess, dem sich das Osmanische Reich nach 1912 ausgesetzt sah. Die Beziehungen zum Deutschen Reich wurden aus unterschiedlichen Motiven, dennoch aber ausgesprochen intensiv gepflegt und wirken bis heute nach. Auch wenn das deutsche Bildungssystem durchaus als Vorbild anerkannt war, differierten die Meinungen über den Umfang und die Ausgestaltung des Wissens- und Bildungstransfers erheblich. Gencer konstatiert, dass das deutsche Bildungswissen erheblich zur Nationalisierung der modernen Gestalt des Osmanischen Reiches beigetragen hat. Freilich wurde der fruchtbare Kulturtransfer durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nachhaltig unterbrochen.
Klaus Dittrich gibt einen knappen Literaturüberblick zur deutschen Berichterstattung über die Bildungssektionen der Weltausstellungen seit 1851. Dittrich erkennt einen »leicht subversiven, im nationalen Diskurs marginalisierten und reformorientierten« Diskursbeitrag der sogenannten Experten (154). Unter den drei unterschiedlichen Typen der Berichte wendet er sich insbesondere jenen zu, die auf den Weltausstellungen nach Importgütern zur Fortführung und Weiterentwicklung des deutschen Bildungssystems angeboten wurden. Während französische und japanische Experten sich an ameri-kanischen Verhältnissen orientierten und das eigene Volksschulsystem ausbauten, erwiesen sich die deutschen Bildungsverantwortlichen vor dem Hintergrund eines bereits weitgehend institutionalisierten Grundschulwesens dafür als relativ immun und desinteressiert. Dass es dieser bis in die Gegenwart hineinreichenden Tendenz weiter nachzuspüren gilt, gehört zweifellos zu den wichtigen Impulsen des Bandes.
Francesco Marin untersucht die Debatte um die Ausbildung von Gymnasiallehrern in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s bis 1915. Er geht dabei den engen Verflechtungen zwischen Schule und Universität nach. Er kommt zu der Einsicht, dass die Impulse aus Deutschland zwar insgesamt den akademischen Fortschritt in Italien förderten, die Problematik der Lehramtskandidaten aber nicht nachhaltig zu entwirren half.
Auch Esther Möller geht einer transkulturellen Beziehung, in diesem Falle der zwischen dem Libanon und Frankreich, nach. Sie untersucht die Lehrer an französischen Schulen im Libanon und rekonstruiert aus der Akteursperspektive die Asymmetrien der kolonialen Sekundärerziehung. Aufgrund der Komplexität der Motivlagen kam es immer wieder zu Konflikten. Der Beitrag illustriert eindrücklich die Notwendigkeit transkultureller Bildungsforschung und die Fortentwicklung der dafür erforderlichen historiographischen Methoden und Analyseninstrumentarien.
Der Band dokumentiert in ausgezeichneter Weise die vielfach ge­forderte Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und die un­abdingbare Notwendigkeit des wechselseitigen Austausches. Auch wenn er keine Breitenwirksamkeit entfalten wird, sei er his­torisch interessierten Bildungsforschern zur Lektüre empfohlen.