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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

329–331

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jongkind, Dirk, and Peter Williams[Eds.]

Titel/Untertitel:

The Greek New Tes-tament, Produced at Tyndale House, Cambridge.

Verlag:

Wheaton: Crossway; Cambridge: Cambridge University Press 2017. 540 S. Geb. US$ 39,99; £ 47,50. ISBN 978-1-4335-5217-5 (Crossway); 978-1-108-44013-4 (CUP).

Rezensent:

Georg Gäbel

Nicht den Text, sondern eine Hypothese über den frühesten rekonstruierbaren Text bieten kritische Editionen des griechischen Neuen Testaments. Nun liegt mit dem vorzustellenden Buch (im Folgenden: THGNT) eine neue Hypothese vor. Die Hauptherausgeber, D. Jongkind und P. Williams, sind Vice-Principal bzw. Principal des Tyndale House in Cambridge, einer evangelikalen Forschungseinrichtung. Ausgangspunkt ihrer Arbeit war die Ausgabe von Tre-gelles (1857–72); doch ist daraus eine eigenständige, neue Edition entstanden. Im Internet ist der Text ohne Apparat kostenfrei zu­gänglich; dazu Wörterbuch, morphologische und grammatische Analyse sowie Konkordanz (esv.org/gnt).
Die Herausgeber bekennen sich zu dem (wie sie hinzufügen: nur annäherungsweise erreichbaren) Ziel, den Autorentext zu rekonstruieren, und beziehen damit in gegenwärtigen Debatten über die Ziele der neutestamentlichen Textforschung pointiert Stellung. Mindestens zwei Mss. (davon mindestens ein vor dem 6. Jh. entstandenes) müssen eine Variante bezeugen, soll sie als ältes-ter Text gelten können; in der Offb weichen die Herausgeber dieses Prinzip der schwierigen Überlieferungslage wegen auf. Minuskeln 69 und 1424 werden durchgehend im Apparat verzeichnet, der sich ansonsten aber, von 1Joh 5,7 und Hebr 2,9 abgesehen, auf Papyri und Majuskeln beschränkt; weitere Mss. wurden ausgewertet, aber nicht im Apparat verzeichnet. Versionen und Zitate bei Kirchenschriftstellern dokumentieren die Herausgeber ebenfalls nicht im Apparat und begründen das damit, dass sie durch dieses Material in keinem Fall zur Revision der textkritischen Entscheidungen genöt igt worden seien, die sie aufgrund der griechischen neutestamentlichen Mss. trafen. Damit wird den Nutzern der Ausgabe die Möglichkeit genommen, sich dazu ihr eigenes Urteil zu bilden. Die Herausgeber nehmen an, dass die Eigenheiten handschriftlicher Textreproduktion, zumal Harmonisierungen, und die Gewohnheiten einzelner Schreiber zur Erklärung von Textvarianten in der Regel hinreichen. Insgesamt legt die Edition einen Schwerpunkt auf die äußere Evidenz; dem liegt die Hochschätzung der »directly verified antiquity« (507) durch die Herausgeber zu­grunde, was im Ergebnis zu einer Dokumentation griechischer neutestamentlicher Textformen in Mss. der ersten fünf Jahrhunderte führt. Das Vorgehen der Herausgeber impliziert gewichtige textkritische Vorentscheidungen, etwa bei der Beurteilung des byzantinischen Textes, bei griechisch schwach, aber versionell stark bezeugten Textformen (wie manchen Western Non-Interpolations), bei Stellen, wo wichtige Varianten von nur einem Zeugen belegt sind, oder bei Stellen, wo die patristische Evidenz wesentlich für die Argumentation zugunsten einer Variante ist.
Das THGNT will einen Text bieten, der dem Zeugnis der ersten Jahrhunderte auch in Orthographie und Textdarbietung nahekommt. Es verwendet dennoch Groß- und Kleinschreibung, Ak­zente, Spiritus, sparsame Interpunktion, Kapitel- und Versangaben. Umgekehrt entfallen scriptio continua, Majuskel und nomina sacra. Schreibweisen mit ει statt ι können, etwa in Formen wie γείνομαι, je nach Bezeugung in frühen Mss. wiedergegeben werden. Das führt zu unterschiedlichen Schreibweisen, manchmal innerhalb einer einzigen neutestamentlichen Schrift, z. B. γεινώ-σκετε Joh 14,7.17 u. ö. neben γινώσκετε Joh 15,18 u. ö. Beides ist jeweils belegt, wie der Apparat zu 14,7 und 15,18 lehrt. Konsistenz ist hier, wie die Herausgeber selbst sagen (516), kaum zu erreichen. Zweifellos ein Gewinn ist die Dokumentation von Lakunen und uneindeutigen Lesungen in manchen Apparateinträgen. Exegetisch sehr anregend ist die Wiedergabe der Textgliederung früher Mss. durch Ekthesis (Ausrückung); welchen Zeugen die Herausgeber dabei jeweils folgen, erfährt man allerdings nicht. Die Akzentuierung, obwohl erst in späteren Zeugen belegt, wurde geprüft und in nicht wenigen Fällen, zumal bei Enklitika, nach Maßgabe der Mss. geändert. Die neutestamentlichen Schriften sind in der Reihenfolge Evv – Apg – Kath. Briefe – Paulinen (einschl. Hebr) – Offb angeordnet. Parallelstellen und Schriftzitate werden nicht vermerkt; es gibt keine kritischen Zeichen im Text.
Im eigenständig verantworteten Text der Ausgabe sehen die Herausgeber deren eigentliche Bedeutung (507). Wo ihnen die Entscheidung zwischen Varianten fraglich blieb, ist die jeweilige Alternativvariante im Apparat mit einem Rhombus markiert. Der Apparat ist äußerst sparsam. Nicht wenige Varianten wird man vermissen, so u. a. das sogenannte Freer-Logion bei Mk 16,14. Doch wird ein textkritischer Kommentar in einem separaten Band angekündigt, der detaillierte Informationen zu Zeugen und textkritischen Entscheidungen bieten soll. Wenn er vorliegt, wird auch der An­spruch der Herausgeber überprüfbar sein, die Schreibergewohnheiten der Mss. in bisher nicht dagewesener Vollständigkeit erfasst und für die Textkritik fruchtbar gemacht zu haben.
Weitere Eindrücke von Text und Apparat des THGNT mögen einige unsystematisch genommene Stichproben vermitteln. In Mk 4,8 kann die Buchstabenfolge εν sowohl als ἐν als auch als ἕν gelesen werden (beides kommt in späteren Mss. vor); THGNT entscheidet sich, anders als Nestle-Aland28, für ἐν. Dass der Apparat dazu auch die altlateinischen Texte zweier Bilinguen, 05 und 037, zitiert (sie lesen das Zahlwort), ist nachvollziehbar (Versionen können frühe Interpretationen solcher uneindeutigen Stellen repräsentieren); angesichts der oben erwähnten editorischen Grundsätze bleibt es aber überraschend. Mk 16,9–20 werden, eingeleitet durch eine aus Minuskel 1 entnommene Bemerkung, im Obertext geboten und erhalten eigene Apparatnotierungen; dagegen erscheint die Pericope de adultera Joh 7,53–8,11 lediglich im Apparat. Lk 22,43 f. stehen im Obertext; im Apparat ist die omissio in P75 u. a. mit einem Rhombus als ernstzunehmende Alternative bezeichnet. Joh 1,18 spricht im THGNT vom »eingeborenen Sohn« (ὁ μονογενὴς υἱός, mit 02 043 017 u. a.). In Röm 5,1 lesen wir den Konjunktiv ἔχωμεν (hier bedauert man das Fehlen patristischer Bezeugung, vgl. den Apparat des UBS Greek NT); diese Variationseinheit könnte angesichts der ebenfalls guten Bezeugung für den Indikativ und der Häufigkeit der ο/ω-Isochronie in den Mss. eine Kandidatin für den Verzicht auf eine Entscheidung zwischen gleichwertigen Möglichkeiten sein. Ein so wichtiger Zeuge des 10. Jh.s wie Minuskel 1739 wird im Apparat einmal (Hebr 2,9) zitiert. Die Aufmerksamkeit der Herausgeber auf die Orthographien früher Mss. kommt dem Apparat zu Offb 4,3 zugute, wo nicht nur ιερεις in 01* und 02 statt ιρις dokumentiert ist (wie auch in anderen Ausgaben), sondern zusätzlich die Form ιρεις in 01C2.
Diese wenigen Beispiele sollen Neugier auf das THGNT und seinen Text wecken. Das Erscheinen einer weiteren, eigenständig verantworteten kritischen Ausgabe ist unbedingt zu begrüßen; die zugrundeliegenden editorischen Grundentscheidungen werden ebenso für Diskussionen sorgen wie textkritische Einzelentscheidungen, erst recht nach dem Erscheinen des versprochenen textkritischen Kommentars. Ausgaben wie den Nestle-Aland und das UBS Greek NT kann das THGNT nicht ersetzen, doch es tritt ihnen als profilierte und anregende Ergänzung zur Seite.