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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

322–324

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Warner, Megan

Titel/Untertitel:

Re-Imagining Abraham. A Re-Assessment of the Influence of Deuteronomism in Genesis.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XIV, 250 S. = Oudtestamentische Studiën, 72. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-90-04-35583-5.

Rezensent:

Urmas Nõmmik

Der Einfluss des Deuteronomiums (Dtn) und der dem deuteronomistischen Historiker (DtrH) zugeschriebenen Texte auf die Abraham-Erzählungen und auf die Genesis insgesamt ist der Autorin Megan Warner zufolge komplex und nicht im Sinne von deuteronom(ist)ischen Redaktionen lösbar. An vielen strategischen Stellen der Abraham-Geschichten begegneten späte Zufügungen, die die deuteronom(ist)ischen (D) und priesterschriftlichen (P) Sprachmerkmale, Motive und Themen kombinieren, in ihrem unmittelbaren Genesis-Kontext die von Dtn und DtrH abweichenden Funktionen erfüllen und aus den (deuteronom[ist]isch geprägten) David-Erzählungen monarchisch anklingenden Narrativmodelle entleihen. Diese würden aber zum innovativen Umbau der Erzvätererzählungen verwendet, um für Israel eine Alternative zur auf das Königtum bezogenen Gründungsgeschichte zu verfassen und damit Israel in der nachexilischen Zeit neue Hoffnung zu geben. Durch Abraham werde die an David gegebene Verheißung demokratisiert, die gescheiterte Konditionalität des Sinai-Bundes überwunden und eine universale Vermittler-Figur geschaffen, die allen Nationen der Erde göttlichen Segen vermittele. Mithin sei die langjährige Forschungsfrage über die mögliche deuteronom(ist)ische Herkunft vieler strategischer Passagen in der Genesis negativ zu beantworten. Die Aufmerksamkeit solle künftig stattdessen auf die späten, dem Heiligkeitsgesetz nahestehenden Pentateuch-Bearbeitungen (H) gerichtet werden. Das ist in etwa das Fazit der von W. an der University of Divinity in Melbourne, Australien, vorgelegten, von Howard Wallace und Mark G. Brett betreuten Dissertation und ihrer überarbeiteten Fassung in Form des vorliegenden Buches. W. arbeitet zurzeit zwar als wissenschaftliche Mitarbeiterin am King’s College in London, vertritt aber mit dem Buch ausgesprochen überzeugend und wissenschaftlich fördernd die australische alttestamentliche Forschung. Letztere habe manchmal den Luxus, gegen über der europäischen, amerikanischen und israelitischen Wis-senschaft zu den »blockfreien Staaten« zu gehören, wie Brett im Vorwort formuliert (XI).
Die Studie will klären, ob die Abraham-Erzählungen in Genesis von deuteronomi(sti)schen Redaktionen betroffen sind oder nicht (2.6). Vier Genesis-Stellen werden in ihrem nächsten Zusammenhang gelesen und analysiert: Neben dem ganzen Kapitel 15 noch 18,17–19 im Kontext von Gen 18–19; 22,15–18 im Rahmen von Gen 20–22 und 26,3–5 innerhalb des 26. Kapitels. Den methodischen Hauptimpuls gibt die Behandlung von Hans Ausloos über den Deuteronomismus im Tetrateuch (2015): Das vermutlich deuteronomi(sti)sche Material wird einer zweistufigen Prüfung unterworfen, indem, erstens, die tatsächliche Verbindung gezeigt und, zweitens, die Richtung der Abhängigkeit festgestellt wird (20–22). Dabei wird das feine Kontextgespür der einstigen Genesis-Bearbeiter vorausgesetzt und meistens überzeugend begründet. Darüber hinaus ist W. beim Evaluieren der inneralttestamentlichen Parallelen und Determinieren der Richtung der Abhängigkeit konsequent und vorsichtig: Jeder Fall wird selbständig behandelt. Dabei lässt sich die Analyse aber generell sehr leicht lesen.
Nach dem einleitenden Kapitel (1–30) behandelt W. die ausgewählten Texte in umgekehrter Reihenfolge, Gen 26 im zweiten Kapitel (31–76), Gen 20–22 im dritten (77–127), Gen 18–19 im vierten (128–174) und Gen 15 im fünften (175–214). Überall begegnen gründliche Vergleiche mit der David-Überlieferung (vgl. Gen 26 und 1Kön 2; 11 f.; Gen 20–22 und 2Sam 24; 1Chr 21 [2Chr 3,1]; Gen 18–19 und 2Sam 10; Gen 15 und 2Sam 7) und anderen Texten (Gen 26 und Ex 32,13; Gen 20–22 und Gen 23; Dtn 12–13; Ps 127; Gen 18–19 und vor allem Ez 14; Gen 15 und Jos 24; Jer 34). Das sechste Kapitel (215–238) fasst die Ergebnisse im oben beschriebenen Sinne zusammen.
Das Buch ist insgesamt reich an Detailbeobachtungen und Einzelanalysen. Das von ausgesprochen feinem Gespür für Kontext und scharfer Analyse der Sprache, Motive und Themen in biblischen Parallelstellen unterstützte Argument übertrifft so manche bisherigen diachronen und synchronen Studien. Zahlreiche Tabellen mit parallel angelegten Textstellen machen die Vergleiche dankenswert übersichtlich. Das Buch bildet einen bemerkenswert starken Beweisgrund für die nicht-deuteronom(ist)ische Herkunft der behandelten Stellen und wird Pflichtlektüre für die künftige sowohl historisch-kritisch als auch exegetisch-theologisch angelegte Genesis-Forschung werden.
Die Studie provoziert – ganz im guten Sinne – mehrere Fragen, speziell der bereits erwähnte mögliche Kontext der H-Bearbeitungen. Dazu gehört sicherlich auch die in der Studie nicht thematisierte Frage, inwieweit die »monarchische« (royal) Sprache und entsprechende Motive und Themen an einem viel komplexeren redaktions- und motivgeschichtlichen Zusammenhang partizipieren. Die lange Entstehungsgeschichte der Genesis-Texte wird vorausgesetzt, gleichzeitig wird aber an manchen Stellen, wenn es zur breiten und wesentlichen Textbasis der David-Erzählungen kommt, die Notwendigkeit einer viel detaillierteren Analyse spürbar. W. kommt hauptsächlich zum Schluss, dass die späten Redaktionen in der Genesis von David-Narrativen abhängen; dementgegen muss eine lange und gegenseitig einflussreiche Entstehungsgeschichte beider Textkorpora auch den Einfluss der früheren Schichten in den Erzvätererzählungen auf den David-Zyklus voraussetzen. Darüber hinaus stammen einige behandelte Motive und Themen sehr wahrscheinlich aus dem vorexilischen und damit wirklich monarchischen Kontext; manchmal werden sie in beiden Zyklen mitgeschleppt, manchmal können Genesis-Motive auch z. B. in 2Samuel übernommen werden.
Die Studie nimmt ihren Anfang im Grundunterschied der Behandlungen von David M. Carr und Konrad Schmid (23–28 passim): Sind die fraglichen Texte deuteronomi(sti)sch oder eine Mischung aus P und D? Setzen sie den pentateuchischen oder hexateuchischen Horizont voraus? Wurden die Redaktionen vor oder nach dem Zusammenschluss des P- und nicht-P-Materials verfasst? Weiterhin führt W. einen akkuraten Dialog mit sehr vielen anderen wichtigen Studien. Überraschend ist dabei jedoch, dass manche grundlegenden Werke selten oder nicht in Erscheinung treten – so etwa Rainer Kessler (1972), Erhard Blum (1984; 1990), Reinhard G. Kratz (2000), John Van Seters (der in 2013 seine früheren Ansichten zumal in Bezug auf Gen 26 korrigiert hat) und sicherlich der reiche und komplexe Befund bei Christoph Levin (1993). Es wäre insgesamt auch wünschenswert gewesen, ein ausführliches Verzeichnis der Literatur hinzuzufügen.
Diese Kritik vermindert den Wert der Studie auf keinem Fall. W.s Monographie nimmt einen festen Platz in der Landschaft der Genesis-Forschung ein.