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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

317–319

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2017. 488 S. m. 4 Abb. u. 25 Tab. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-17-030297-6.

Rezensent:

Markus Witte

Das von dem emeritierten Berner Alttestamentler Walter Dietrich herausgegebene Werk bietet eine originelle Verbindung einer israelitisch-jüdischen Kultur-, Literatur-, Sozial- und Religionsgeschichte. Aufgeteilt auf sechs annähernd gleich umfangreiche Kapitel führen 32 deutschsprachige Alttestamentler und Alttestamentlerinnen unterschiedlicher christlicher Konfessionen in 32 Paragraphen in die Lebens- und Denkwelt der Hebräischen Bibel ein. Nach der Idee des Herausgebers richtet sich das Buch sowohl an Theologiestudierende und Verantwortliche in der kirchlichen Erwachsenenbildung als auch an interessierte Laien und der »Bi-bel Entfremdete« (so der Klappentext). Dementsprechend verfügt das Buch über eine starke didaktische Anlage. Ein feingliedriges In­haltsverzeichnis vermittelt einen guten Überblick über die Schwerpunkte der einzelnen Paragraphen. Ein schlanker Fußnotenapparat ermöglicht ein klares Druckbild. Bibliographien, die durchschnittlich jeweils eine Druckseite umfassen, legen am Ende eines jeden Paragraphen Rechenschaft über die benutzte Literatur ab und geben überwiegend aktuelle und gute Hinweise zur vertiefenden Lektüre. Register zu zitierten Bibelstellen, Namen und Sachen erschließen das Buch. Neben einzelnen Tabellen sind eine Zeittafel und eine Landkarte zu Israel/Palästina beigegeben. Ein umfangreiches Autorenverzeichnis informiert über deren akademische Vita.
Angesichts der bewussten Fokussierung auf die Hebräische Bibel und den Masoretischen Text hätte man sich zumindest eine Stimme aus der jüdischen Bibelwissenschaft gewünscht. Insgesamt nähert sich das Werk einem Handbuch. Um die vom Her-ausgeber angestrebte Funktion als Nachschlagewerk noch besser erfüllen zu können, wären ein Glossar wichtiger kultur-, literatur- und religionsgeschichtlicher Begriffe, ein vollständiges Bibelstellenregister sowie eine abschließende Gesamtbibliographie hilfreich gewesen. Angesichts des im ersten Paragraphen formulierten Programms, demzufolge der Alte Orient »der Verstehenshorizont des Masoretischen Texts« sei (so A. Berlejung, 18), hätte die Beigabe einer Karte Ägyptens, Kleinasiens und Mesopotamiens nicht ge­schadet.
Im einleitenden Kapitel »Umfeld« wird über die Hebräische Bibel als Produkt des Alten Orients informiert (§ 1 [A. Berlejung]), über das Verhältnis von Bibel und Archäologie reflektiert und in die aktuelle Palästinaarchäologie eingeführt (§ 2 [E. Noort]) sowie der besondere literarische und theologische Charakter der biblischen Geschichtsdarstellung beschrieben (§ 3 [C. Frevel]). Alle drei Paragraphen bieten wichtige Informationen zur Geschichte Israels und Judas im 1. Jt. v. Chr. Insofern auch weitere Abschnitte punktuell auf zentrale historische Ereignisse eingehen, die im Hintergrund der Hebräischen Bibel stehen oder sich in dieser spiegeln, wird auf diese Weise kompensiert, dass das Buch keine Gesamtdarstellung der Geschichte Israels und Judas enthält. Gleichwohl wäre ein knapper geschichtlicher Abriss sinnvoll gewesen, der die einzelnen historischen Fäden bündelt.
Ebenfalls noch unter der Überschrift »Umfeld« stehen Ausführungen zu »Bibel, Judentum, Christentum« (§ 4 [B. Ego], eine christliche Hermeneutik des Alten Testaments [!] unter Berücksichtigung des christlich-jüdischen Dialogs) und zu »Bibel, Sprache, Schrift« (§ 5 [M. Rösel], eine kurze Darstellung der vielfältigen Text- und Überlieferungsgeschichte der Hebräischen Bibel). Diese zwei hermeneutisch und kanonsgeschichtlich profilierten Paragraphen, in denen erfreulicherweise auch die Septuaginta (und weitere Übersetzungen der heiligen Schriften des antiken Judentums) sowie die Vielfalt der qumranischen Textformen zur Sprache kommen, hätten auch gut an den Anfang des Buchs gepasst.
Das zweite Kapitel bietet eine insgesamt zu knapp geratene Literaturgeschichte. Hier werden Grundprobleme der israelitisch-jüdischen Literatur als sich im Modus der Fortschreibung und relec-ture selbst auslegende Traditionsliteratur (§ 6 [K. Schmid]) und nochmals Aspekte der Kanonbildung (§ 7 [S. Grätz], vgl. dazu auch schon § 4 und § 6, jetzt aber auch unter Berücksichtigung des deuterokanonischen Sirachbuchs) vorgestellt, bevor dann die Tora (§ 8 [R. Achenbach]), die Geschichtsbücher (§ 9 [T. Naumann], mit gewissen Überschneidungen mit § 3), die prophetischen Bücher (§ 10 [M. Leuenberger]) sowie Poesie und Weisheit (§ 11 [L. Schwienhorst-Schönberger], darin auch eine Klassifikation der Gattungen der Psalmen) behandelt werden. Die Darstellung der einzelnen biblischen Bücher kommt hier teilweise kaum über eine kurze In­haltsangabe hinaus. Zudem sind die Abschnitte material und formal nicht optimal aufeinander abgestimmt.
So werden z. B. die Chronikbücher gemäß ihrer Position in der Septuaginta unter den Geschichtsbüchern behandelt, während später von den Ketuvim gesprochen wird, wo dann nur noch die Psalmen, Sprüche, Hiob, die Megillot und Daniel vorgestellt werden. Dem Jeremiabuch und dem Ezechielbuch sind gerade jeweils eine Druckseite gewidmet, während das Hohelied immerhin auf zwei Seiten behandelt wird. Forschungsgeschichtliche Aspekte kommen nur sehr komprimiert zur Sprache, was der Herausgeber zwar selbst bedauert (16), aber mindestens im Bereich der Tora sowie der Vorderen und Hinteren Propheten für ein Buch dieser Anlage und der mutmaßlichen Zielgruppe im universitären Bereich misslich ist. Auch sind hier nicht alle Paragraphen auf dem aktuellen Forschungsstand, so wenn beispielsweise postuliert wird, die These Martin Noths von einem deuteronomistischen Geschichtswerk habe sich »trotz einer Vielzahl von Modifikationen im Grundsatz bewährt« (so T. Naumann, 130). Dieses Kapitel muss durch die Lektüre einer einschlägigen Einleitung in das Alte Testament ergänzt werden.
Im dritten Kapitel werden Aspekte der Gesellschaft behandelt. So kommen hier sozial- und kulturgeschichtliche Themen wie »Individuum und Gemeinschaft« (§ 12 [J. van Oorschot]), »Familie, Sippe, Stamm« (§ 13 [R. Kessler]), »Königtum und Staat« (§ 14 [W. Oswald], historisch und literarisch sehr differenziert), »Wirtschaft, Stadt und Land« (§ 15 [C. Schäfer-Lichtenberger] mit einer im Verhältnis zu den anderen Paragraphen überbordenden Bibliographie und in­haltlichen Überschneidungen mit den Paragraphen 2, 13 und 14) sowie »Krieg und Frieden« (§ 16 [M. Oeming]) zur Sprache. Diese Zusammenstellung erscheint angesichts des Einleitungskapitels und eines eigenen der Anthropologie gewidmeten Kapitels nicht ganz schlüssig. So hätten die Paragraphen 13–15 auch gut mit den geschichtlich orientierten Paragraphen im ersten Kapitel zusammengestellt werden können, wodurch einige Doppelungen hätten vermieden werden können. Die stärker literaturgeschichtlich profilierten Paragraphen 12 und 16 hätten stimmiger im Kapitel »Menschenbilder« platziert werden können.
Das vierte Kapitel zeichnet Grundlinien der Religionsausübung Israels und Judas von der späten Bronzezeit bis in die römische Zeit nach. Hier werden »Orte der Heiligkeit« (§ 17 [W. Zwickel] mit einigen Sonderthesen und ausgesprochen wenigen Literaturhinweisen), der »Gottesdienst« (§ 18 [H.-P. Mathys]), »Opfer und Sühne« (§19 [I. Willi-Plein], mit einer klaren Bestimmung dessen, was Begriffe wie Opfer, Schuld, Sühne und Stellvertretung in der Hebräischen Bibel meinen) sowie »Gebet und Gesang« (§ 20 [A. Wagner], wo u. a. erneut die Gattungen der Psalmen, vgl. § 11, vorgestellt werden) beschrieben. Im Einzelnen hätten die religionsgeschichtlichen Ausführungen etwas ausführlicher und kritischer gegenüber der literarischen Überlieferung sein dürfen. Dass im Bereich Edoms, »vielleicht übergreifend auch im Bereich des südlich be­nachbarten Midians […] der Ursprung des Jhwh-Glaubens gesucht werden (muss)« (so W. Zwickel, 245), ist keineswegs ausgemacht (siehe dazu Anfänge und Ursprünge der Jahwe-Verehrung, BThZ 30/1, 2013, sowie J. van Oorschot/M. Witte, The Origins of Yahwism, BZAW 484, Berlin/Boston 2017).
Das fünfte Kapitel thematisiert »Menschenbilder« und entfaltet zunächst Grundlinien hebräischer Anthropologie (§ 21 [S. Schroer]), sodann das »Verhältnis der Geschlechter« (§ 22 [I. Fischer]), »Richtiges Leben, Tun und Ergehen« (§ 23 [M. Köhlmoos], eine vor allem anhand der Weisheit illustrierte kleine Ethik der Hebräischen Bibel) sowie »Gewalt und Gewaltüberwindung« (§ 24 [J. Schnocks], und zwar im Blick auf menschliche und auf göttliche Gewalt; hier hätte sich eine Zusammenstellung mit den Ausführungen zu »Krieg und Frieden« [§ 16] nahegelegt, die am jetzigen Ort etwas verloren wirken). Der Abschnitt zu »Schuld und Versöhnung« (§ 25 [B. Janowski]) betrachtet einige schon unter § 19 behandelte Aspekte, exemplifiziert diese aber weitergehend auch an einzelnen Psalmen und an Lev 16. Das Kapitel schließt mit Ausführungen zu »Leiden und Tod« (§ 26 [T. Krüger]), schwerpunktmäßig auf der literarischen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen, so dass hier nochmals die Bücher Hiob und Kohelet, aber auch Gen 2–3 angesprochen werden.
Das abschließende sechste Kapitel bietet unter dem Titel »Gottesglaube« ausgewählte Aspekte einer Theologie der Hebräischen Bibel. Dabei wird zunächst »Gottes Einzigkeit« aus einer religionsgeschichtlich merkwürdigen und insgesamt recht spekulativen Kombination zweier ursprünglich getrennter Gotteskonzeptionen, einer national ausgerichteten, im Nordreich entfalteten Konzeption vom »Exodusgott« und einer universal geprägten, im Südreich beheimateten Konzeption vom »Himmelsgott«, abgeleitet (§ 27 [B. Lang]). Es folgen Ausführungen zu »Gottes Offenbarung« (§ 28 [J. Klein]), »Gottes Schöpfung« (§ 29 [A. Schüle], u. a. mit der Behandlung von Gen 1,1–2,3; Ps 104 und Hi 38–41), »Gottes Liebe und Zorn« (§ 30 [J. Jeremias]), »Gottes Allmacht und Ohnmacht« (§ 31 [W. Dietrich]) sowie »Gottes Zukunft« (§ 32 [E.-J. Waschke], eine kleine Eschatologie, dargestellt an den Motiven des Tags Jahwes, des Messias und des Zions). Die Lektüre einer Gesamtdarstellung der alttestamentlichen Theologie können diese Schlaglichter, so tiefgründig sie im Einzelnen sind, natürlich nicht ersetzen. Bei aller nachvollziehbaren Beschränkung des Umfangs überrascht, dass dem Thema »Bund« hier kein eigener Paragraph gewidmet ist und dass die unterschiedlichen theologischen Vorstellungen einer berît in der Hebräischen Bibel nur knapp im Zusammenhang der Behandlung des Rechts und des Dekalogs vorkommen.
Trotz der kritisch angemerkten Punkte handelt es sich um eine vielfältige wissenschaftliche Einführung in die »Welt der Hebräischen Bibel«, die sowohl am Stück als auch in Ausschnitten, allein oder in einer Arbeitsgruppe, vornehmlich von Theologiestudierenden am Beginn des Studiums, mit großem Gewinn gelesen werden kann.