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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

309–312

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nagel, Peter

Titel/Untertitel:

Codex apocryphus gnosticus Novi Testamenti. Bd. 1: Evangelien und Apostelgeschichten aus den Schriften von Nag Hammadi und verwandten Kodizes. Koptisch und deutsch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVII, 397 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 326. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-153343-3.

Rezensent:

Uwe-Karsten Plisch

Eine Neuausgabe bereits edierter koptischer Texte samt deutscher Übersetzung bedarf zunächst der Begründung. Peter Nagel gibt diese im Vorwort (V–VIII). Konzipiert ist die Ausgabe als koptisches Gegenstück zu Lührmanns Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (2000). Ein solches Werk gibt es tatsächlich noch nicht. Geplant ist eine zweibändige Ausgabe entsprechend den Schriften des Neuen Testaments. Der hier zu besprechende erste Band enthält Evangelien und Apostelgeschichten. Bei der Gattungsbestimmung lässt sich N. von den Selbstbezeichnungen der antiken Zeugnisse leiten, nicht berücksichtigt sind daher z. B. Dialogevangelien wie die Erste und Zweite Jakobusapokalypse aus Nag Hammadi Codex V. Einen Grenzfall stellt das hier aufgenommene Evangelium Veritatis dar, das in Nag Hammadi Codex I titellos überliefert ist. Mit Recht nicht berücksichtigt sind das Ägyptische Evangelium (auch irrtümlich Ägypterevangelium) aus NHC III und IV, das diesen Titel nur einmal als sekundären Untertitel trägt und eine Kosmogonie plus Taufliturgie beinhaltet und dessen eigentlicher Titel Das heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes lautet, sowie das Unbekannte Berliner Evangelium/Gospel of the Savior, das zwar koptisch überliefert, aber weder gnostisch noch überhaupt ein Evangelium ist. Zu Recht weist N. darauf hin, dass gegenüber der Fülle von Sammelausgaben in Übersetzung (z. B. Hennecke/Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen; Nag Hammadi Deutsch etc.) Sammeleditionen von Quellentexten deutlich in der Minderzahl sind und dass gerade Übersetzungen in Standardwerken dazu neigen, eine eigene »Kanonizität« zu entwickeln. Der von N. gewählte Titel ist übrigens eine Anlehnung an die Apokryphensammlung Codex apocryphus Novi Testamenti des Johann Albert Fabricius von 1703, gewissermaßen ein Gruß an die Gebildeten unter den Liebhabern neutestamentlicher Apokryphen. Aufgenommen hat N. in seine Sammlung auch zwei manichäische Psalmen, was zunächst überrascht, weil N. im gleichen Jahr in einem Beitrag zur Festschrift von Piotr O. Scholz die in der Forschung bisweilen allzu eilfertig vorgenommene Gleichsetzung von gnostisch und manichäisch mit guten Argumenten in Frage gestellt hatte; zugleich verweist die Aufnahme dieser beiden Texte aber darauf, was diese Sammlung über die im Vorwort entfaltete Konzeption hinaus auch ist. N. ist in den Jahrzehnten seines Forscherlebens nämlich immer wieder mit originellen, am Text gewonnenen Lösungsvorschlägen für schwierige oder korrupte Stellen in den Nag Hammadi-Texten hervorgetreten, die häufig überzeugend, immer aber diskutabel waren, jedoch nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit gefunden haben. Was N. im Vorwort über den Hang zur Kanonizität von Standardübersetzungen ausführt, gilt ja leider auch für bisweilen längst widerlegte Lösungsvorschläge insbesondere in Ersteditionen. Der vorliegende Band gibt N. daher nebenbei auch die Gelegenheit, eine Summe seiner eigenen Lösungsvorschläge zu schwierigen Stellen zu präsentieren.
Insgesamt enthält der Band neun Texte, sechs aus dem Bereich Evangelien: Das Evangelium nach Maria (BG 1), das Evangelium Veritatis (NHC I,3), Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), Das Evangelium nach Philippus (NHC II,3), Das Evangelium des Judas (Codex Tchacos 3) sowie einen manichäischen Psalm (PsB II, p. 187), drei aus dem Bereich Apostelgeschichten: Die Tat des Petrus (BG 4), Die Taten des Petrus und aller zwölf Apostel (NHC VI,1) sowie den »Psalm der Geduld« (PsB II p. 142 f.). Da alle Quellentexte bereits ediert sind, werden sowohl der koptische als auch der jeweils gegenüberliegende deutsche Text sinnvollerweise nicht zeilengetreu, sondern nach Sinnabschnitten gegliedert sowie ggf. mit neuen Zählungen versehen geboten, um leichter querverweisen zu können. Allen Texten ist ein textkritischer Apparat beigegeben, so dass sich auch die Forschungsdiskussion um Lesarten, Lakunenfüllungen etc. leicht nachvollziehen lässt. Jedem Text ist eine Einleitung vorangestellt, in der nicht nur die einschlägigen Einleitungsfragen behandelt werden, sondern auch Fragen der Kodikologie. Dabei wird nicht nur das bereits verfügbare Wissen knapp zusammengetragen, sondern die Forschungsdiskussion auch weitergeführt. Der kodikologischen Einleitung zum Evangelium nach Maria kann man bspw. entnehmen, dass der Codex Berolinensis Gnosticus mit Hilfe eines griechischen Briefes aus der Einbandmakulatur (P. Berol. 8508) vor die Nag Hammadi-Codizes datiert werden kann (eher Mitte 4. als Anfang 5. Jh.), daher werden die Texte aus diesem Codex zuerst geboten, die Nag Hammadi-Texte an­schließend in der Reihenfolge der Codizes und die manichäischen Texte jeweils zum Schluss. Nebenher erledigt N. noch die alte, bereits vielfach dekonstruierte These von der vermeintlich klösterlichen Herkunft der Nag Hammadi-Codizes, die, ursprünglich eher aus Naivität etabliert, neuerdings aus eher ideologischen Motiven heraus fröhliche Urständ feiert (3 mit Anm. 12).
Bei der Rekonstruktion der wohl schwierigsten Stelle im EvMar (p. 18,17) lässt N., der alle Texte auch selbst kollationiert hat, m. E. zu viel Zurückhaltung walten. Zwar lässt sich die alte Lesung von Till/Schenke tatsächlich nicht verifizieren, allerdings hatte Schenke die Lesung von Pasquier (der auch andere gefolgt sind) noch einmal selbst mit besserer technischer Ausrüstung überprüft und sie voll bestätigt gefunden, so dass man hier doch mit einiger Zuversicht ntnjpof nan (von Schenke als Wiedergabe der griechischen Parallele im PRyl 463 v interpretiert) lesen kann. Wichtig ist der Hinweis (in den Erläuterungen zu ausgewählten Stellen, 26), dass nthe + nni- auf den generellen Vergleich zielt und daher EvMar p. 18,9 f. korrekterweise mit »wie ein Widersacher« zu übersetzen sei.
In der Einleitung zum Evangelium Veritatis erörtert N. noch einmal die alte Streitfrage, ob das von Irenäus bezeugte Evangelium der Wahrheit mit der titellosen Schrift aus Nag Hammadi-Codex I identisch sei, und scheidet diese Frage säuberlich von der Zuschreibung jenes Evangeliums an Valentinus (die von Irenäus gar nicht behauptet wird). N. kommt zu dem Schluss, dass NHC I,3 EV nicht mit dem bei Irenäus erwähnten identisch sei und die Verfasserfrage offen bleiben müsse, dass aber, der Eigentümlichkeit der Wendung »Evangelium der Wahrheit« wegen, das Zeugnis des Irenäus und der Einleitungssatz von NHC I,3 (»Das Evangelium der Wahrheit ist Frohlocken für …«) sich auf dieselbe Schrift beziehen müssen. N. bietet sowohl den koptischen Text aus Codex I als auch die Fragmente aus Codex XII und versucht eine Einteilung in Teile und Kapitel, wohl wissend, dass sich dieser fluide, nebulöse Text einer Gliederung hartnäckig widersetzt.
Wohl keinem Nag Hammadi-Text hat N. so viele einzelne Aufsätze zur Klärung schwieriger Fragen der Textkonstitution und -interpretation gewidmet wie dem Thomasevangelium, wie ja das EvThom überhaupt der wohl am meisten traktierte NH-Text ist. Hier findet man nun endlich einmal alle Vorschläge und Ideen auf einen Blick, was ihre Rezeption sehr erleichtert. Hervorzuheben ist exemplarisch N.s Entdeckung, dass die unterschiedlichen Schreibweisen des Wortes Sabbat in EvThom 27,2 auch unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen: »Wenn ihr nicht die (ganze) Woche zum Sabbat macht …«. In EvThom 97,2 folgt N. der allein richtigen Lückenergänzung [… ou]hiē (wegen des nachfolgenden Umstandssatzes esouēou) und übersetzt folgerichtig: »Während sie [einen] weiten Weg zurücklegte«.
Anders als beim EvMar sind beim EvThom die griechischen Parallelen aus Oxyrhynchos nicht mitediert, sondern es wird nur jeweils auf sie verwiesen. Das ist angesichts des verderbten koptischen Textes von EvThom 30 besonders schade, weil sich das von N. konstatierte Missverständnis (Anm. 50) mit Hilfe von POxy 1,23–27 leicht aufklären lässt. Der dortige Text ist einfach und klar: »Wo drei sind, sind sie gottlos. Und wo einer allein ist, sage ich: Ich bin mit ihm.«
In der Einleitung zum Evangelium nach Philippus kommt N. zu dem Schluss, dass das EvPhil, dessen Exzerptcharakter unstrittig ist, gleich, welche Gattungsdefinition man zugrunde legt, kein Evangelium ist, und weist darauf hin, dass in Nag Hammadi-Codex II in der subscriptio peuaggelion vor pkata philippos nachträglich hinzugefügt wurde, der Kurztitel also eher allgemein für (Das Buch) nach Philippus stehe. Allerdings lädt die Präposition kata durchaus zur Ergänzung von euaggelion ein.
Textkonstitution, Übersetzung und Gliederung erfolgen in enger Anlehnung an und Auseinandersetzung mit Hans-Martin Schenke, dessen große kommentierte Textausgabe (TU 143) die Referenzgröße für die Arbeit am EvPhil darstellt. P. 56,1 fasst Schenke jiou als bloßen Schreibfehler für jioue stehlen auf, während N. ji-ou etwas nehmen annimmt. In § 63 nimmt N. eine Umstellung der ersten beiden Abschnitte vor (p. 66,9–16 vor p. 66,7–9), die damit syntaktisch und inhaltlich stärker aufeinander bezogen sind. In p. 80,30 f., im Gleichnis vom Hausvater, bietet N. mit ki|[nara …] Artischocken eine besonders originelle, singuläre und auch die koptische Lexik betreffende Ergänzung (vgl. auch die Erläuterungen, 258 f.).
Besonders verdienstvoll ist N.s Aufnahme des Judasevange-liums. Der Sensationscharakter des Fundes und seine schrille Vermarktung hatte ja eine Reihe ebenso überflüssiger wie schludriger Schnellschüsse hervorgebracht. Hier haben wir nun eine sorgfältig erarbeitete koptisch-deutsche Ausgabe, mit der sich trefflich arbeiten lässt.
Im Eingangssummarium folgt N. p. 33,20 der Interpretation des ominösen hrot als Bohairismus und übersetzt ›man‹ konnte ihn als Knaben in ihrer Mitte antreffen. Weitaus näherliegend erscheint mir jedoch die von W.-P. Funk ins Spiel gebrachte Auffassung als Variante von htor, so dass zu übersetzen wäre nach Belieben (d. h., wann es ihm beliebt) findet ›man‹ ihn in ihrer Mitte. Nicht folgen kann ich N. auch bei der Deutung von oustēgē nouote p. 45,6 f. als »begrüntes Dach« (s. a. die Erläuterungen, 308). Näher liegt die Annahme von ouote als fem. von ouōt, also »einziges Dach« bzw., da stēgē auch den Raum unterhalb des Daches bezeichnen kann, »einzigen Raum«. Der Beachtung anempfohlen sei N.s Verteidigung der Lesart [s]ēth p. 52,5 S. 309 (297, Anm. 27 lies: 52,5 statt 58,5). Die Ergänzung des Engelnamens [ez]raēl p. 55,7 ist wegen des vor der Lücke stehenden Artikels unwahrscheinlich. Die Stelle ist schwierig.
Der Evangelienteil des Buches wird abgeschlossen durch den ersten aus der vierten Gruppe der Herakleidespsalmen des manichäischen Psalmenbuches P. II, p. 187 (4Her 1), einer poetischen relecture von Joh 20 (mit einer Lückenergänzung zu [neto] in p. 187,10).
Den Auftakt des Acta-Teiles bildet Die Tat des Petrus, der vierte Text aus dem Papyrus Berolinensis Gnosticus (aus den o. g. Datierungsgründen). Wegen des Namens des Akteurs Ptolemäus hält N. auch einen Ursprung der Schrift in Ägypten für möglich; hinsichtlich der Zuordnung von BG4 zu den alten Petrusakten, die bis zu Molinari unangefochten das Feld behauptet hatte, lässt N. Zurückhaltung walten. Da die Geschichte an einem ungenannten festen Wohnort des Petrus spielt, wird meist Jerusalem als Schauplatz angenommen, N. bringt auch Sidon ins Spiel.
Es folgt die kurze, aber in sich abgeschlossene Apostelgeschichte mit dem Titel »Die Taten des Petrus und (aller) zwölf Apostel«, der erste Text aus Nag Hammadi-Codex VI. Die Schrift selbst ist nicht gnostisch, war aber, wegen des in ihr vertretenen Armutsideals, gnostisch gut zu rezipieren. Hervorzuheben ist insbesondere der Exkurs zum Engel Lithargoel in der Einleitung (338–344), die sicher aktuellste Studie zum Thema mit einem besonderen Fokus auf die nubischen Zeugnisse (die Dissertation von Katharina Stifel von 2016, eine kommentierte Textausgabe, ist erst für 2019 [TU 182] angekündigt).
Beschlossen wird die Sammlung mit dem manichäischen Psalm der Geduld, einem der Sarakoton-Psalmen aus dem zweiten Teil des manichäischen Psalmenbuches (p. 142 f., bis hierher nur in der Edition von Allberry zugänglich). Gegenstand des Psalms sind die Leiden der Apostel und Apostelinnen (nämlich Thekla, Drusiane, Maximilla und Aristobula), die sich in und an der Kirche der Manichäer wiederholen. Quelle des Psalms ist nicht die neutestamentliche Apostelgeschichte, sondern das Korpus der fünf großen apokryphen Apostelakten. Die reihentypischen Register (Namen, Stellen) erleichtern die Handhabung.
Das Buch hat keine Seite zu viel; man wünscht ihm viele Leserinnen und Leser.