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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

295–298

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Achtner, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mystik als Kern der Weltreligionen?Eine protestantische Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer (Fribourg: Academic Press Fribourg) 2017. 351 S. m. 1 Abb. = Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, 23. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-17-033946-0.

Rezensent:

Rainer Neu

Die Beiträge dieses Sammelbandes beruhen auf einem Symposion Mystik als Kern der Weltreligionen? auf Schloss Rauischholzhausen bei Marburg, dessen Organisatoren von der Frage geleitet wurden, ob religiöse Erfahrung Grundlage der christlichen Theologie sein kann und soll, nachdem die protestantische Theologie des 20. Jh.s über weite Strecken ein ablehnendes oder zumindest ambivalentes Verhältnis zur religiösen Erfahrung und insbesondere zur Mystik hatte.
In den 18 von Fachgelehrten verfassten Beiträgen dieses Buches erfährt der Leser mannigfaltige und mitunter überraschende Aspekte der neueren internationalen Mystikrezeption. Neben interdisziplinären Perspektiven der Mystik aus Philosophie, Psychologie, Neurowissenschaft, Evolutionsbiologie und Mathematik erhält der Leser Einblick in die Phänomenologie mystischer Erfahrung in den Weltreligionen im Kontext des interreligiösen Dialogs. In einem abschließenden Teil erfährt der Leser von den Bemühungen, die Mystik auch in der protestantischen Theologie wieder heimisch werden und die traditionelle Gegenüberstellung von Mystik und Rechtfertigung gegenstandslos werden zu lassen.
Wer dieses Buch nun allerdings liest, um auf die im Titel aufgeworfene Frage eine Antwort zu bekommen, ob die Mystik – wie in neuerer Zeit gerne behauptet wird – der »Kern« der Weltreligionen ist, wird enttäuscht werden. Tatsächlich widmet sich keiner der Autoren ausdrücklich dieser Frage. Vielmehr scheint die Mehrzahl der Autoren vorauszusetzen, dass es sich so verhält. Nur Michael von Brück, der im Titel seines Beitrages Mystik – gemeinsamer Kern der Weltreligionen? das Thema der Tagung explizit aufgreift, er­wähnt zumindest einleitend, dass »Mystik« zunächst eine Er­scheinung der europäischen Religionsgeschichte und auf diese begrenzt war und der Begriff erst Ende des 19. Jh.s im Kontext der Suche nach einem phänomenologisch begründeten allgemeinen Religionsverständnis ausgeweitet wurde als heuristische Kategorie, die durch interkulturellen Vergleich einen gemeinsamen »Kern« der Religionen ausfindig machen sollte. Mit diesen kritischen wissenschaftsgeschichtlichen Vorbemerkungen geht von Brück dann allerdings unvermittelt zu einer allgemeinen Erörterung der charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mystik über, ohne zu erörtern, ob die Ausweitung des Mystikbegriffs gegen Ende des 19. Jh.s sachlich angemessen war und aus wissenschaftlicher Sicht widerspruchslos akzeptiert werden kann.
Im ausgehenden 19. Jh. vollzog sich in bürgerlichen Bildungskreisen ein religiöser Paradigmenwechsel: In der kulturkritischen Atmosphäre jener Zeit wurde angesichts zunehmender Technisierung, Rationalisierung und Bürokratisierung von zahlreichen Intellektuellen der Verlust an Innerlichkeit und »Seele« beklagt und ein Wiederaufstieg der Religion erwartet. Der berechnende Verstand und die Maxime der Nützlichkeit habe die menschliche Persönlichkeit zerstört. Nur das Erlebnis echter Mystik, so formulierte es der damals vielgelesene Kulturtheoretiker Emil Hammacher, könne den Menschen vom Zwang des Rationalismus befreien. Das Christentum, vor allem die liberale Theologie, wurde als ein Komplize der Verflachung und Mechanisierung des Lebens gesehen. Die Kultur müsse mit einer Dosis neuer Religiosität gestärkt werden und dazu sollten auch die Überlieferungen nicht-christlicher Religionen herangezogen werden.
Aus dieser Haltung heraus wurde im Jahr 1896 der Eugen Diederichs Verlag gegründet, der zu einem breiten Sammelbecken damaliger Erneuerungsbewegungen von den Lebensreformern bis zu okkult-esoterischen Strömungen wurde. In diesem Verlag wurden die Überlieferungen archaischer Religionen wie der Hochreligionen von Fachgelehrten erläutert und herausgegeben. Eine besondere Aufgabe fiel dabei der Mystik zu als einem vernunftkritischen Medium der Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Betonung und das Verlangen nach religiöser Erfahrung hatten zur damaligen Zeit unmittelbaren Einfluss auf neureligiöse Bewegungen wie die Theosophie und die Anthroposophie, die unter Rückgriff auf die Lehren Helena Blavatskys und anderer Okkultisten die kulturkritische Forderung nach einem Vorrang mystischer Erfahrung als ein religionsgeschichtliches Faktum umdeuteten und die Idee von der Mystik als »Urtatsache«, »Kern« oder »Quell« der Religion propagierten. Der amerikanische Psychologe William James, selber Mitglied der amerikanischen Theosophischen Gesellschaft, legte in seinen berühmten Gifford Lectures The Varieties of Religious Experience: A Study in Human Nature (Edinburgh 1901 und 1902) die erste Studie zur Psychologie der Mystik vor und widmete sich ausführlich der Phänomenologie religiöser Erfahrungen. James, für den das Wesen der Religion nur intuitiv zu erfassen war, sah in der Mystik das zentrale Thema der Religionsforschung. Diese religiöse Gestimmtheit um 1900 setzte sich in der ersten Hälfte des 20. Jh.s fort in einem breiten Strom mystisch-pantheistisch gefärbter (und oftmals deutschtümelnder) Romane, die von heute vergessenen Schriftstellern wie E. G. Kolbenheyer und H. Stehr bis zu dem in die Nachkriegszeit fortwirkenden Knut Hamsun reichen.
Gegenüber dieser Überhöhung der Mystik zur »Urtatsache« der Religion erklärte der deutsche Religionssoziologe Max Weber die »prophetische Religion« zum eigentlichen Träger der Religions- und Kulturgeschichte, da nur eine »echte Prophetie« weltgestaltende Kraft entfalte und damit von kultureller Bedeutung sei. Eine vermittelnde Position nahm der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch ein, der »prophetische Religion« und »mystische Religion« als Grundtypen der Religion gleichberechtigt nebeneinander stellte. Troeltschs Typologie wurde dann von den Religionsphänomenologen der Folgezeit wie Joachim Wach, Günter Lanczkowski oder Jacques Waardenburg um andere Grundformen der Religion erweitert, und die Religionswissenschaft sah in der Mystik stets nur eine Form von Religion unter anderen. Diese Vielzahl religiöser Grundtypen wurde jedoch von den im 19. Jh. entstandenen monistischen Strömungen nicht zur Kenntnis genommen und so mündete die Überzeugung von der Mystik als »Kern« der Religion in den 1970er Jahren in den (zunächst wiederum kulturkritischen) Strom der New Age-Bewegung und in einer schlussendlich ausufernden und verflachenden Esoterik.
Der Titel des Buches lässt erwarten, dass die inflationäre Ausweitung und Überbewertung des Mystikbegriffs kritisch hinterfragt und in ihren Auswirkungen untersucht wird. Der Leser ge­winnt jedoch rasch den Eindruck, dass das Fragezeichen des Buchtitels von den Autoren als Ausrufezeichen missverstanden wird. Dabei würde ein religionsgeschichtlicher Blick auf die religiösen Neuschöpfungen der letzten Jahrzehnte in Afrika und Asien genügen, um herauszufinden, dass solche Aufbrüche in den meisten Fällen das Werk prophetischer Charismatiker sind und Webers religionssoziologische These von der führenden Bedeutung der »prophetischen Religion« an Aktualität nichts eingebüßt hat.