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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

264–267

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Conrad, Anne, u. Alexander Maier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erziehung als ›Entfehlerung‹. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit.

Verlag:

Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2016. 244 S. = Historische Bildungsforschung. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7815-2139-1.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Dieser Sammelband befasst sich mit den Konstitutionsbedingungen von Pädagogik im Kontext der Theologie – unter Berücksichtigung der Geschlechterperspektive sowie »gnostische[r] Tendenzen« (7). Die Beiträge entstammen einer internationalen Tagung, die die Fachrichtung Katholische Theologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken 2015 veranstaltete. Im Zentrum stand die Frage, ob sich mit Erziehung die Welt verbessern lasse. Alexander Maier (Saarbrücken) fokussiert seine Vorstellung der Beiträge unter dem Aspekt der Entfehlerung, jener »emendatio« bei Comenius, die dieser vor eschatologisch-chiliastischem Hintergrund denkt und in einem Blick- und Perspektivenwechsel als von Gott geschenkte Menschlichkeit begreift (9–16).
Der erste Teil befasst sich mit »›Entfehlerung‹ in heterodoxen und esoterischen Konzepten von der Frühen Neuzeit bis zur Ro­mantik«. Dabei treten recht unterschiedliche Ausprägungen dieser Vorstellung zutage.
Anne Conrad (Saarbrücken) weist darauf hin, dass der Prozess der Konfessionalisierung die Subjektivierung religiöser Erfahrungen und Bedürfnisse verstärkt habe. Entsakralisierung sei keine Auflösung des Sakralen, sondern Entgrenzung der Verbindung von Sakralem und Profanem im Sinne einer Überschreitung in Richtung auf Selbsterlösungskonzepte. Entfehlerung wird dabei aus nicht-heteronormativer Geschlechterperspektive in den Blick genommen, die im pädagogischen Kontext als gnostisch-esoterisches Erlösungsstreben erscheinen könne (17–28). Ernst Rohmer (Regensburg) befasst sich mit Georg Phi-lipp Harsdörffer als Opponent des Comeniusschen Bildungsplans, dem er die »Unsicherheit menschlichen Wissens« gegenüberstellt. Während sich Comenius für das Einüben entscheidet, geht es Harsdörffer um das »Spiel« als Möglichkeit des Ausprobierens. Der Entfehlerung (Comenius) stellt er die Zu-­ versicht des Gesprächs entgegen, in dem sich Sprache als Schlüssel zur Welt erweist (29–40). Joseph Freedman (Montgomery) stellt Gedanken des herme-tischen Philosophen und Rosenkreuzers Heinrich Nollius (1582–1626) vor: Frauen und Männer gehörten zwar der gleichen Species an, jene erweisen sich aber als weniger perfekt als ihre männlichen Artgenossen (41–68). Lucinda Martin (Gotha/Erfurt) befasst sich mit pietistischen Netzwerken, die insbesondere über Korrespondenzen wirkten. Bleiben die offiziellen Institutionen den Frauen der Frühen Neuzeit verschlossen, so erweist sich doch auch im 17. Jh. das allgemeine Priestertum als Grundprinzip des Christentums. Daher greifen Frauen – wie Johanna Eleonora Petersen (1644–1724) – um der eigenen und anderer Bildung willen auf das Medium der Briefs zurück (69–80). Fritz Oster-walder (Bern) zeichnet jene sich dem Mainstream entziehende, spezifische Frömmigkeit des Jansenismus nach. Insbesondere die Mädchen wurden an das »Kloster im Herzen« gewiesen und erhielten ein spezielles, zur Wahrnehmung des Selbstverhältnisses anleitendes Lernprogramm. Dadurch, dass die Frau ihr Handeln selbst überprüfen sollte, gelang es ihr, im familiären Leben Ordnung und notwendige Abgeschlossenheit herzustellen. Damit lässt sich aber ein die Forschung bislang dominierendes Verständnis korrigieren, demzufolge die fast ausnahmslos von Frauen geführten Pariser Salons eine Spannung zwischen Feministinnen und Antifeministinnen bedienen: im späteren Jansenismus entfehlert die starke Frau die Welt (81–98). Martina Bär (Zürich) stellt die Gedanken des frühen Schlegel vor. Zwar gilt ihm Liebe als Frucht der Gottheit, auch ermögliche die Kunst der Selbstwerdung die Verbindung zum Unendlichen, das in Liebe aufgehe. Gleichwohl nimmt er geschlechtsspezifische Wesensbestimmungen – die Frau als Natur-, der Mann als Kulturwesen – vor, die seine durchaus ironisch gegen die Gesellschaft gerichtete Selbstwerdungstheorie un­terlaufen, jedoch zum Ideal eines androgynen »Abbild des Höchsten« (108) beitragen (99–110).
Im zweiten Teil steht die Frage nach der »Pädagogisierung von Theologie oder Theologisierung von Pädagogik« im Vordergrund. Das Thema wird nicht unbedingt kontrovers behandelt, wohl aber im historischen und geographischen Kontext verschieden diskutiert.
Katrin Moeller (Halle-Wittenberg) weist darauf hin, dass das private Schulwesen im 18. Jh. seine »Bildungsreformation« (113) erfährt. Standesspezifische Barrieren verlieren durch die Gedanken der Aufklärung an faktischer Wirksamkeit, so dass auch Mitglieder anderer sozialer Schichten und zunehmend jenseits geschlechtsspezifischer Beschränkungen am funktionalen, d. h. erwerbsspezifischen Lernen teilnehmen. Gleichwohl entspreche der institutionellen Erfolgs- eine ideelle Verlustgeschichte (u. a. Fenelon, Francke): die Frauenrechte werden im frühen 19. Jh. zunehmend eingeschränkt. Dabei spielt eine Rolle, dass Erziehung als »quasi transformierter spiritueller Weg einer neuen Menschlichkeit von Gleichgestellten« (128) an Bedeutung verliert. In den 1830er Jahren kommt es zum Ende der Koedukation (113–130). Heinrich Richard Schmidt (Bern) stellt das Denken Philippe Adalbert Stapfers (1766–1840) vor, der als Minister für Wissenschaften und Künste, Gebäude und Straßen spezifische Bildungsabsichten verfolgte. Bürgerlicher und ethischer Naturzustand seien im Blick auf das Reich Gottes, das er als Idee des ethischen Gemeinwesens fasst, zu überwinden. Jenes Ideal, das den Schriften Immanuel Kants entstammt, suchte er dem Erziehungssystem zugrunde zu legen. Die Schweiz wurde damit als Experimentallabor gedacht, in dem sich reformierte und etatistische Positionen sowohl »top down« als auch »bottom up« verbanden (131–144). Monika Jakobs (Luzern) befasst sich mit der Entwicklung der Lehrerinnenbildung, die nach dem Ende der Helvetik (1798–1803) in der Bildungspolitik Kontroversen entfachte. Gleichwohl waren die konfessionellen Unterschiede geringer, als es die verhärteten Fronten erwarten ließen, da die Bildung von Mädchen nirgends gleichheits-, sondern differenztheoretisch begründet wurde. Darüber hinaus liegt die Vermutung nahe, dass im 19. Jh. eine Umkehrung des Säkularisierungsparadigmas erfolgte: Die Einführung der obligatorischen Volksschule eröffnete ver schiedenen bildungspolitischen Playern – insbesondere den Kirchen – die Möglichkeit, Schule ideologisch zu beeinflussen (145–158). Guido Estermann (Zug) stellt die Auseinandersetzung um Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1826) vor. Während nationale Kräfte Pestalozzi zur schweizerischen Gallionsfigur erklären wollten, setzten sich katholische Pädagogen mit seinen Auffassungen zur Sittlichkeit, aber auch zur natürlichen Anlage des Kindes in Sachen Religion zum Teil höchst kritisch auseinander (159–168). Alexander Maier stellt den Quickborn als eine spezifische Organisationsform vor, mit der katholische Pädagogen und Theologen im frühen 20. Jh. versuchten, Moderne und Christentum zu verbinden. Die fehlgeleiteten Subjekt-Entwürfe der Moderne sollten dadurch »entfehlert« werden, dass am Abstinenzideal unter Rekurs auf den Gralsmythos gearbeitet und zugleich auf die Proexistenz Christi verwiesen wurde. Dabei zeige sich eine erstaunliche Parallelität im Denken des Subjektivierungsprozesses zwischen Hermann Lietz und Romano Guardini (169–182).
Der dritte Teil thematisiert »Bildung zwischen Säkularisierung und Sakralisierung« aus einer überwiegend an der Gegenwart orientierten Perspektive. Dabei kommen verschiedene Konzepte, die sich jetzt explizit mit Säkularisierung und Sakralisierung befassen, zur Darstellung.
Rahel Katzenstein (Zürich) betont am Beispiel Friedrich Salomon Vögelins (1837–1888), dass aufklärerisches Denken nicht vor Entdifferenzierung schütze: so abrogierte der Volksapostel und -prediger die Möglichkeit eines neutralen Religionsunterrichts insofern, als er religiöse Wunder grundsätzlich zu eliminieren trachtete, dabei jedoch seinerseits dogmatisches Denken erkennen ließ. Normative Erwartungen zivilreligiöser Art können die Errungenschaft ausdifferenzierter Gesellschaften aufs Spiel setzen (185–198). Jean-Marie Weber (Luxemburg) begreift die Psychoanalyse als Entfehlerung der Pädagogik. Der Erzieher habe Unmögliches zu leisten: stehe er doch zwischen dem unwissenden Kind vor ihm und dem verdrängten Kind in ihm. Aus dieser Spannung erwachse eine pädagogisch nicht zu lösende Aufgabe, aus der allein die Psychoanalyse herausführe, die helfe, das Ich als Mängelwesen zu akzeptieren. Es sei eine Befreiung zu entdecken, dass man nicht völlig Meister im eigenen Hause sei (199–210). Florian Heßdörfer (Leipzig) zufolge teilen Religion und Pädagogik jene Auffassung, dass die Dinge nicht sind, wie sie sein sollten. Beide Felder bzw. Disziplinen bearbeiten sich in der Postmoderne verändernde Potentiale, die eine Verbesserung bzw. Optimierung des eigenen Lebens eröffnen. Am Beispiel der psychometrischen (Schüler-)Erfassung werden mit Michel Foucault Gefahren aufgezeigt, die sich für den Pädagogen ergeben können: er übernimmt nicht länger die Aufgabe eines »Arbeiters an der Natur« (218), sondern wird als Manager der natürlichen Potentiale des Individuums »zum ausführenden Arm der Schöpfung selbst« (222). Angesichts dieser Entwicklung seien Adornos Ausführungen zu den uneingelösten Versprechen der Theologie als freiheitlicher Appell zur bewussten Unterlassung in Erinnerung zu rufen (211–226). Matthias Wallich (Saarbrücken) plädiert für eine Abgrenzung von begründendem Diskurs und nicht begründetem Denken, um jenen Raumkosmos zu eröffnen, der es erlaubt, in Gott nicht länger einen Gegenstand zu betrachten. Pädagogische Beschreibung, die die theologische Dimension außer Acht lasse, sei unvollständig. Dies gelte, insofern der Bildungsbegriff nicht nur ein Wissen, sondern auch ein Unverfügbares avisiere, das sich weniger durch Offenbarung, als vielmehr durch jene Beziehung einstelle, die auf Nichtobjektivierbares vertraut. Das Bilderverbot gebe es nicht wegen der Ferne Gottes, sondern wegen seiner Nähe zu den Menschen, die Wallich mit Levinas, aber auch Zizek diskutiert (227–244).
Steckt der erste Teil einen breiten Rahmen ab, so fokussiert der zweite Abschnitt auf geschichtliche und regionale Erscheinungsformen. Der dritte Teil handelt demgegenüber fast ganz von der Gegenwart. Zwar dürfte sich ein direkter Vergleich der in den einzelnen Unterkapiteln verhandelten Fragen als schwierig erweisen. Die Beiträge avisieren aber durchaus ähnliche Kernthemen.
Entfehlerung erweist sich im ersten Teil als interessante Perspektive, unter der höchst unterschiedliche Konzepte von Mann und Frau vorgetragen werden: Differenztheoretische Ingebrauchnahmen beschreibender (Rohmer, Freedman, Bär) und (re-)konstruierender Art (Conrad, Martin, Osterwalder) erweisen sich als deren mögliche Kontextualisierungen. Demgegenüber lässt sich die Ausgangsfrage des zweiten Teils auf phänomenologischer Ebene zugunsten der »Theologisierung von Pädagogik« beantworten. Im 19. Jh. ist im Schul- und Bildungswesen allenthalben eine vormalige Vielfalt einschränkender Entwicklungen (Moeller, Schmidt, Jakobs, Estermann) zu konstatieren. Dies erstaunt insofern, als bislang zumeist lineare Entwicklungen im Sinne des Säkularisierungsparadigmas befundet wurden. Entsprechende Einsichten dürften nicht nur die pädagogische, sondern auch die religionspädagogische Forschung vor neue Herausforderungen stellen. Vor einer Übertragung dieser Konzepte in die pluralistische Postmoderne wird gleichwohl gewarnt (Maier). Im dritten Teil werden An­regungen vorgestellt, die auf die in erstem und zweitem Teil be­schriebenen Entwicklungen reagieren: die Frage nach normativen Entwicklungen zivilreligiöser Art (Katzenstein), eine funktionale Betrachtung der Psychoanalyse, die als Erlösungsreligion in theologische Entfehlerungsdynamiken einrückt (Weber), der Ap­p ell, uneingelöste Versprechen der Theologie in der bewussten Unterlassung zu suchen (Heßdörfer) sowie ein theologisch die Beziehung reflektierender Bildungsbegriff (Wallich). Die Frage, ob man mit Erziehung die Welt verbessern kann, erweist sich bei näherem Hinsehen als durchaus komplex, insofern die jeweiligen Antworten nicht ungeprüft zur Kenntnis genommen werden sollten.
Summa summarum: Die Frage nach der Entfehlerung erweist sich als höchst anregend, insofern sie nicht nur gewohnte Denkbewegungen in Frage stellt, sondern auch zu neuen Sichtweisen einlädt. Nicht zuletzt darin besteht das große Verdienst und Potential des Tagungsbandes für weitere Forschungen.