Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2019

Spalte:

249–251

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nida-Rümelin, Julian

Titel/Untertitel:

Unaufgeregter Realismus. Eine philosophische Streitschrift.

Verlag:

Paderborn: Mentis Verlag 2018. 141 S. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-95743-130-1.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Dass man für etwas Unaufgeregtes eine philosophische Streitschrift verfassen muss, wirft ein bezeichnendes Licht auf die gegenwärtige Realismusdebatte. Sie wird seit einiger Zeit dominiert von dem selbsternannten »Neuen Realismus« (M. Ferraris, M. Gabriel), dem auch Julian Nida-Rümelin eine Fußnote widmet (12; vgl. 112 ff.). Vieles, was dort als »neu« verfochten wird, wird von vielen seit Jahrzehnten vertreten, auch von N.-R. Sein Realismus ist eine philosophische Grundhaltung, die folgende Züge charakterisiert: Sie ist umfassend (schließt also nicht nur alle natur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen, sondern auch Ethik und Ästhetik ein), unaufgeregt (sie »beruht nicht auf einer spezifischen Metaphysik oder Ontologie«), epistemisch (sie »versteht sich als natürliche Interpretation unserer Praxis, Meinungen und Handlungen zu begründen«) und pragmatisch (sie nimmt ihren »Ausgangspunkt in der Lebenspraxis des Alltags«) (9).
N.-R.s Hauptgegner sind die Anti-Realisten postmoderner, poststrukturalistischer und konstruktivistischer Provenienz, die in den vergangenen Dekaden die öffentliche Diskussion beherrschten und sich in fragwürdiger Weise auf Wittgenstein oder Kant berufen (Christine Korsgaard, Onora O’Neill, John Rawls, Jürgen Habermas). Demgegenüber betont er, dass es nicht die Gewissheiten wissenschaftlicher Forschungsprogramme sind, die für den Realismus sprechen, sondern vor allem »die lebensweltlichen Erfahrungen […]. Wittgensteinianisch formuliert: Es ist die Partizipation an der gemeinsamen humanen Lebensform, die eine bestimmte Variante des philosophischen Realismus nahelegt« (11). Die von ihm privilegierte Vari-ante nennt er unaufgeregt, weil er keine metaphysische Position vertritt, sondern »letztlich nur Trivialitäten verteidigt« (11 f.): dass es um Gründe geht, wo man vernunftgeleitet lebt. Das entfaltet er in drei Teilen: I. Was ist Realismus? (21–78), II. Warum umfassender Realismus? (79–109), III. Inwiefern unaufgeregter Realismus? (110–139). Das Buch endet mit Danksagungen.
Teil I entfaltet einen »epistemischen Realismus«, der von einem robusten Tatsachenbegriff ausgeht – »Tatsachen sind von Wahrnehmungen und Meinungen unabhängig« (28) – und sich »auf zwei Säulen« stützt: »Zum einen die Zurückweisung eines globalen Skeptizismus«, zum anderen »die realistische Interpretation von Gründen, die [von N.-R.] als Grundphänomene der deliberativen Praxis begriffen werden, die […] selbst keiner näheren Explikation mehr bedürfen« (71). Beides wird pragmatisch begründet. Auf eine globale Skepsis muss man nicht argumentativ antworten, »weil globale Skepsis unbegründet ist« (71), es also nichts zu widerlegen gibt. Und Begründungen kann man zwar im Einzelfall, aber nicht grundsätzlich begründen, weil eine »Begründung der Gründe […] in einem regressum ad infinitum« enden würde (71). All das gilt nicht nur für die natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch für Ethik und Ästhetik. Wir führen Gründe für Positionen an, aber wir fundieren sie nicht in einer Metaphysik.
Eben diesem Punkt geht Teil II ausführlicher nach. Weil der epistemische Realismus »von der etablierten Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens, des Urteilens und Bewertens ausgeht« (106), gibt es keinen Bereich des Lebens, in dem er nicht fungieren würde. Genau darin liegt die »Einheit der Vernunft« (79), auch wenn diese in differenzierter Weise zur Geltung gebracht wird, weil in verschiedenen Lebensbereichen Verschiedenes als Grund angemessen ist. Die »Vielfalt der Gründe« ist deshalb ein Implikat und kein Gegenentwurf zur »Einheit der Vernunft«, der Lebenspraxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens.
Teil III schließlich skizziert, inwiefern dieser Realismus unaufgeregt ist. Er geht nicht von einer »epistemischen Wahrheitsdefinition« aus, sondern weist diese ausdrücklich zurück, weil er ein »umfassender Realismus ohne ontologische Hypostasierungen« ist (111). Er widerspricht auch einem »ontologischen Realismus« (128–131) und »naturalistischen Realismus« (131–136). Dem ersten, weil er keine »metaphysischen Konstruktionen« hinter den konkreten Lebensdiskursen sucht, um seine Gründe zu verankern (130), dem zweiten, weil es naiv ist zu meinen, am Ende würde nur die »Naturwissenschaft […] darüber entscheiden, was existiert oder nicht existiert« (131). Naturalismus und Realismus sind unvereinbar, wie sich für N.-R. vor allem »in der Meta-Ehik« zeigt: »Wenn moralische Tatsachen nichts anderes wären als natürliche (physikalische, biologische oder auch sozialwissenschaftlich [behavioristisch] beschreibbare), dann gäbe es diese nicht« (134). Schließlich betont er, dass der von ihm vertretene Realismus ganz immanent sei und keine transzendenten Ansprüche erhebe. »Seine argumentativen Ressourcen be­zieht er aus den in Lebenswelt und Wissenschaft etablierten Diskurs-Praktiken, an denen wir teilhaben.« (136) Dem Religions-Thema wird über das Moral-Thema hinaus keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Unsere Diskurs-Praktiken ändern sich in der Zeit, und insofern ändern sich auch die Gründe, die wir anführen. Aber der Tatsachen-Bezug und das Gründe-Geben und Gründe-Nehmen bleiben. Und das ist das Entscheidende.
N.-R. hat eine kluge Schneise durch den Diskussionswirrwarr der Realismusdebatte geschlagen. Grundlegend ist seine pragmatische Ausrichtung an den Diskursen unserer lebensweltlichen Praxis, die jeder extremen Position abhold ist. »Eine umfassende Realität-Skepsis ist allenfalls als ein philosophisches Gedankenexperiment möglich, nicht als Lebensform. Außerhalb des philosophischen Seminarraums werden alle wieder zu Realisten.« (138) Auch Anti-Realisten dürften dem an vielen Punkten zustimmen, weil ihr Anti-Realismus ja häufig daraus entspringt, dass sie menschliches Leben und menschliche Kultur nicht auf das verkürzt sehen wollen, was auch N.-R. ablehnt: fragwürdige Metaphysik, falscher Konstruktivismus, naiver Naturalismus, moralischer Relativismus. Aber N.-R.s epistemischer Realismus ist keineswegs so me-taphysikfrei, wie er behauptet: Sein robuster Tatsachen- und Wahrheitsbegriff verdankt sich einer bestimmten metaphysischen Haltung, die Philosophie als »eine Fortsetzung lebensweltlicher Praktiken des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens« (29) versteht. Doch lebensweltliche Praktiken sind nicht einfach das Andere der Metaphysik, sondern in sie ist eine Metaphysik eingezeichnet, nämlich ein System von Unterscheidungen, mit deren Hilfe wir uns in praktischen Lebenssituationen orientieren. Für N.-R. ist Metaphysik ganz traditionell der Denkentwurf eines ontologischen Letztbegründungssystems, aber nicht das, was heute unter diesem Titel zur Verhandlung steht: die orientierenden Grundunterscheidungen unserer Lebenspraxis.
Darüber hinaus dürfte die eigentliche Differenz zwischen Realismus und Anti-Realismus gar nicht in dem liegen, was N.-R. verteidigt, sondern in der unterschiedlichen Entfaltung dieser ge­meinsamen Verankerung in den lebensweltlichen Praktiken des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens. Erst wo aus den Trivialitäten alltäglicher Argumentationen philosophische »-ismen« werden, beginnt der Disput. Aus einer Lebenshaltung, die viele teilen, werden dann philosophische Positionen, die sich gegeneinander richten. Die Logik dieser Entwicklungen aufzuhellen, ist nach wie vor ein Desiderat. Aber wenn man sich auf die pragmatischen Selbstverständlichkeiten verständigen könnte, die N.-R. darlegt, hätte man wenigstens das Bezugsfeld definiert, auf dem sich der Streit der »-ismen« entscheiden muss: die lebensweltliche Praxis und nicht die wissenschaftliche Theoriebildung. Dann könnte man noch deutlicher sehen, wie recht Wittgenstein mit seiner Maxime hatte »Denk nicht, sondern schau«. Man muss keinen Realismus oder Anti-Realismus vertreten, um ein kritischer Philosoph zu sein, sondern wird es gerade dann, wenn man erkennt, dass beides vom Leben abstrahiert, weil man zuerst denkt, und dann schaut, anstatt zuerst zu schauen und dann zu denken.
Aber denken muss man auch. Denn alles Schauen geht von einem Ort aus, der selbst nicht ins Gesichtsfeld tritt, aber alles, was man sieht, mitbestimmt. Wenn das kritisch beachtet wird, können sich im Denken Einsichten erschließen, die im Schauen verdeckt bleiben. Der Schritt vom Schauen zum Denken bleibt einem nicht erspart, wenn man kritisch Realist sein will. Realität geht in keinem Realismus auf. Auch das ist eine Trivialität. Aber sie ist theologisch relevant, weil sie auf das hinweist, was unserem Gründe-Geben und Gründe-Nehmen stets vorgeordnet bleibt: die Wirklichkeit des Lebens und seiner Möglichkeiten.