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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

209–211

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schilling, Johannes, u. Martin Treu [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Luther-Gesellschaft 1918–2018. Beiträge zu ihrem hundertjährigen Jubiläum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 352 S. m. Abb. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05703-0.

Rezensent:

Martin Keßler

Vor 100 Jahren, am 26. September 1918, wurde in Wittenberg die Luther-Gesellschaft gegründet. Der in der Jubiläumswoche tagesgenau ausgelieferte Sammelband bietet die bislang beste, umfassendste und ansprechendste Dokumentation, die den Verein von seinen Anfängen in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart verfolgt. Am einschlägigsten war bisher eine verdienstvolle Aufsatzreihe von Hans Düfel im »Lutherjahrbuch« (bibliographisch s. 250, Anm. 12), die jedoch nur bis in das Jahr 1948 r eicht und sich überwiegend am gedruckten Schriftkorpus der Luther-Gesellschaft orientiert. Der Band markiert demgegenüber einen Quantensprung: Er nimmt zeitgeschichtliche Fragestellungen auf und bezieht erstmals eingehend das Ar­chiv der Luther-Gesellschaft ein. Der besondere Reiz des Bandes ist es mithin, keine auf Mitgliederperspektiven beschränkte »Vereinsgeschichte« (183) zu schreiben, sondern soziale, politische, theologische und kirchliche Herausforderungen der deutschen Geschichte im Spiegel der Luther-Gesellschaft zu beleuchten und zu erhellen.
Der Band eröffnet mit einem knappen und konzisen »Vorwort« der Herausgeber (5 f.), das die gebotenen Inhalte bündig zusammenfasst und weiterführende Perspektiven entfaltet. Ein Teil der 15 Beiträge von zwölf Autoren und einer Autorin konnte über ein Jahrzehnt wachsen und reifen. 2009 würdigte der Mitherausgeber und seit 1999 amtierende Präsident der Luther-Gesellschaft, Johannes Schilling, zwei seiner Vorgänger, Gerhard Müller und Reinhard Schwarz, anlässlich ihres 80. Geburtstages mit einem Symposion, auf das ein knappes Viertel der Beiträge zurückgeht (s. dazu 5 und vertiefend 178 f.). Zu diesen Texten zählt der Eröffnungsaufsatz von Stefan Rhein, der an inhaltlichem Gewinn, Gefälligkeit in der Präsentation und stilistischer Eleganz kaum zu überbieten ist. Bekanntermaßen verdankt sich die Anregung zur Gründung einer Luther-Gesellschaft dem Jenaer Philosophen Rudolf Eucken, der die Idee im Zuge des Reformationsjubiläums 1917 vorgetragen hatte. Rhein schildert anschaulich und archivalisch fundiert die Wittenberger Akteure, die sich der praktischen Arbeiten im Vorfeld und in der Folge der Vereinsgründung annahmen. Neben Eucken zählen sie zu den »Gründervätern der Luther-Gesellschaft« (16), während sich die Verbindungen zu dem prominenten Jenenser bald als »großes Missverständnis« (10.25) erwiesen. Differenzen be­standen von Anfang an; nach einem Jahr trat Eucken als Vorsitzender der Gesellschaft zurück (25).
Über seinen von 1920 bis 1925 amtierenden Nachfolger Wilhelm von Hegel bietet der Band wenig; auch die vereinsbezogenen Im­pulse oder Initiativen von Karl Holl als Gründungs-, Vorstandsmitglied und Präsident (1925 f.) harren noch ihrer archivalischen Untersuchung. Umso eingehender und perspektivenreicher werden die Zeit nach Holl sowie ein entscheidender Mann der ersten Stunde, wenn auch der zweiten Reihe beleuchtet. Der über Jahrzehnte für Kontinuitäten im Vorstand sorgende Theodor Knolle wird materialreich, quellenkritisch und thematisch sensibel von Andreas Pawlas profiliert. Zu Paul Althaus steuert Notger Slenczka eine substantielle Studie bei. Vor der Wahl zum Vorsitzenden in der Nachfolge Holls vermutet er Emanuel Hirsch als zeitweiligen Alternativkandidaten. Während Althaus’ Amtszeit – der längsten in der Geschichte der Luther-Gesellschaft (1927–1964, mit einer zunächst kriegsbedingten Unterbrechung von zehn Jahren bis zur Neugründung bzw. Fortführung des Vereins 1954) – reagierte der Verein in den frühen 1930er Jahren auf die entstehende »Konkurrenz« (59) durch die Luther-Akademie Sondershausen, indem eine Reihe vielfältiger »Arbeitstagungen« erprobt wurde. Althaus selbst deutete dies im Rückblick als eine Vorwegnahme (82) der evangelischen Akademiearbeit. In die letzten Jahre von Althaus’ Leitung der Gesellschaft fällt auch die Förderung der Luther-Gesellschaft durch die VELKD, EKD und EKU (81), aus der sich teilweise bis heute bestehende Strukturen in der Zusammensetzung des Beirats ableiten (s. dazu 168). Nach Althaus wurde die Luther-Gesellschaft von zwei weiteren Erlanger Ordinarien geführt. Althaus bereitete seine Nachfolge durch Walther von Loewenich vor, den Hartmut Hövelmann lebendig porträtiert. Von Loewenich wiederum bat Gerhard Müller, ihn nach gut zehn Jahren im Amt des Vorsitzenden abzulösen. Müller selbst blickt wie Schilling als nüchterner »Chronist« (vgl. 163) auf die Jahre in der Vereinsführung zurück. So sehr man als Historiker darin geschult wird, den Aussagen von Zeitzeugen zu misstrauen und archivalische Erhebungen in materialer Breite quellenkritisch vorzuziehen, liefert der akkurate Rückblick von Müller doch ein methodisches Lehrstück, indem er den Zeitzeugen beim eigenen Archivstudium zeigt: »Im Protokoll der Mitgliederversammlung steht, ich sei zu einem von sieben Beisitzern gewählt worden (ALGW 123). Ich kann mich aber nicht erinnern, während meiner Zeit im Bischofsamt an einer Vorstandssitzung der Gesell schaft teilgenommen zu haben.« (149, Anm. 4) Mit Reinhard Schwarz wechselte der Vorsitz von Erlangen nach München. Die wichtigen Jahre vom Luther-Jubiläum 1983 über die Wendezeit deutet Hövelmann als »eine Zeit der Team-Arbeit« (161), zu der auch die gegen Ende des Bandes von Pawlas geschilderte Präsenz der Luther-Gesellschaft auf dem Kirchentag zählt.
Die Mitte des Buches markiert der Rückblick von Johannes Schilling, der 2004 die Rückkehr der Geschäftsstelle von Hamburg nach Wittenberg (160.177 f.) koordinierte und noch im selben Jahr die Luther-Dekade inhaltlich und strukturell anregte (180–183). Schillings Beitrag besitzt einen besonderen Wert darin, die Luther-Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Verfassung und Vernetzung zu erschließen. Zugleich beendet er im Band den an Präsidenten orientierten diachronen Durchlauf durch die Geschichte der Gesellschaft. Die zweite Hälfe der Beiträge gilt Strukturelementen und Schwerpunkten der zurückliegenden sowie derzeit bestimmenden Arbeit. Michael Lapp eröffnet einen souveränen Überblick über die sich gleichermaßen von unten nach oben vollziehende Arbeit in den Orts- und späteren Bezirksgruppen. Der durch seine Arbeiten zur DDR-Geschichte ausgewiesene Zeithistoriker Jan Scheunemann bearbeitet die »Luther-Gesellschaft während der deutschen Teilung«, wobei er – wie vor ihm auch schon Slenczka (48 f., Anm. 11) – außenpolitische Interessen und Differenzen (u. a. 225 f.), die sich mit der Luther-Gesellschaft verbanden, identifiziert.
Der Herausgeber des »Lutherjahrbuchs«, Christopher Spehr, und der Redakteur der Zeitschrift »Luther«, Hellmut Zschoch, schildern ihre jeweiligen Periodika mit Akribie, synthetischer Darstellungskraft und Sinn für typographische sowie inhaltliche Akzente (für gute Bibliographien weiterer Veröffentlichungen aus der Frühzeit s. 247, Anm. 4, u. 255, Anm. 42). Einblicke in die ebenso mühe- wie wertvolle Arbeit an der Luther-Bibliographie eröffnet Michael Beyer, der auch Möglichkeiten einer digitalen Präsentationsgestalt umreißt. Martin Treu beschließt den Band, indem er auf den seit 1995 verliehenen »Martin-Luther-Preis für den akademischen Nachwuchs« und das zwischen 1999 und 2009 gewährte »Martin-Luther-Stipendium« eingeht.
Der sorgsam redigierte und indizierte Band erfreut durch gut ausgewählte Illustrationen. Seit ihren Anfängen bemüht sich die Luther-Gesellschaft um eine Balance zwischen wissenschaftlicher Verantwortung und populärer Vermittlung. Der vorliegende Sammelband dokumentiert eine einem Jahrhundert entstammende kreative Vielfalt entsprechender Bemühungen, ein anhaltendes Ringen um Mitglieder sowie eine zunehmende Sensibilität für Ge­nerationenwechsel (s. 166 f. u. 179 mit Anm. 22) und gesamtgesellschaftliche Erneuerungsprozesse. Er wird für einen breiten Leserkreis von hohem Interesse sein.