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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

124–126

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schockenhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 759 S. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-451-37812-6.

Rezensent:

Hartwig von Schubert

Mit dem Titel des 759-seitigen Bandes fragt Eberhard Schockenhoff: »Kein Ende der Gewalt?« Diese negativ, knapp und ohne Eingrenzung oder Spezifikation formulierte Frage setzt voraus, dass Gewalt in der Welt ist, dass sie ein Übel ist und dass jemand – S. oder Andere – auf ihr Ende gehofft hatte und nun mit der Möglichkeit der Enttäuschung konfrontiert ist. Auf die Frage sind mehrere Antworten möglich: Die Gewalt wird niemals ein Ende haben. Die Gewalt wird bald zu Ende gehen, und dafür müssen wir sorgen. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Gewalt am Ende ist. Die Gewalt wird und soll in der irdischen Welt gar nicht zu Ende gehen, weil sie kein Übel ist.
S. hebt in seinem Vorwort die Friedenssehnsucht »aller Menschen« hervor (5). Verleiht er also einer universalen Sehnsucht Ausdruck, wenn er jene Frage stellt? Was ihn bewegt, wird am Ende des ersten Teils deutlich. Darin entfaltet er auf ca. 100 Seiten eine Geschichte der Kriegserfahrung und der Friedenshoffnungen mit einer Typologie des Krieges, die fließend übergeht in eine Entwicklungsgeschichte der Friedenspolitik des 20. Jh.s. Und dort gibt er dem letzten Abschnitt die Überschrift »Die unverhoffte Rückkehr der Gewalt«. Sucht der Leser den Abschnitt auf, um zu erfahren, was damit gemeint sein könnte, so liest er:
»Doch kein Ende der Gewalt? Diese Frage drängt sich dem Beobachter des derzeitigen Weltgeschehens angesichts der Wiederkehr der Kriege auf, deren endgültige Überwindung nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation viele erhofft hatten […]. Der Eintritt in ein goldenes Friedenszeitalter, in dem die Völker der Erde ihre bisherigen Militärausgaben als Friedensdividende für die Lösung der bedrängenden Zukunftsprobleme nutzen können, schien zum Greifen nahe. Mit den Terroranschlägen in New York, Washington, London, Paris, Madrid und Berlin […] kehrte die Gewalt in die Metropolen der westlichen Welt zurück.« (96)
Hinter dem universal angelegten Buchtitel tritt so eine doch sehr partikulare Erfahrung hervor. S. unterstreicht dies selbst:
»Die Illusion einer dauerhaften Etablierung friedlicher Mittel zur Streitbeilegung […] ließ sich ohnehin nur aus einer eurozentrischen Perspektive oder aus dem Blickwinkel der westlichen Industrienationen aufrechterhalten. […] Dagegen blieb der Krieg während dieser gesamten Zeit in der südlichen Hemisphäre […] in allen seinen Formen omnipräsent« (96 f.).
Damit ist S.s Argumentationsrichtung entschlüsselt, die Titelfrage ist nicht seine Frage. Er plädiert unter Verwendung eines ironisch gemeinten Buchtitels für politischen Realismus gegen die Illusionen privilegierter Gesellschaften. Die Gewalt wird nie ein Ende haben, sie unterliegt aber durchaus regionalen Schwankungen. Die Friedenssehnsucht ist damit keineswegs obsolet, sie kann die »Friedensethik für eine globalisierte Welt« und damit praktische Friedenspolitik beflügeln, aber ihre Erfüllung wird nicht ein für alle Mal in der Geschichte der Menschheit erwartet.
S. legt den Band als Auseinandersetzung mit der Lehre vom Gerechten Krieg an. Der gewichtige zweite Teil (ca. 280 Seiten) beschreibt deren Entwicklung von Cicero bis zu ihrem Zusammenbruch im 20. Jh. Anhand der gründlichen Erfassung von Primär- und Sekundärquellen stellt er sehr sorgfältig maßgebliche Repräsentanten der Epochen vor. Auch die Haager Landkriegsordnung wird behandelt (273–277). Erstaunlicherweise fehlt jedoch ein eigener Abschnitt zu Henri Dunant, dem Genfer Recht und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz; die Genfer Konvention kommt beiläufig vor, aber ohne eingeführt zu werden.
Der mit ca. 100 Seiten wieder kürzere dritte Teil ist der Hoffnung auf Frieden in der Bibel gewidmet. Zweck dieses Kapitels ist es zu zeigen, »welche Potentiale zur Überwindung kriegerischer Gewalt in der biblischen Tradition bereitliegen« (397). Gewaltaffine und gewaltaverse Texte werden gleichermaßen gewürdigt. S. sieht klar, dass die Hypothese einer innerbiblischen Fortschrittsgeschichte von archaischer Gewalt in der Frühzeit Israels zur jesuanischen Feindesliebe einem anti-judaistischen Denkmuster Vorschub leis-tet. Um dem zu entgehen, versucht er, »von einer vorherrschenden Tendenz in der biblischen Tradition zu sprechen, die schon früh auf eine Überwindung der Gewalt zielte« (399). Kann das gelingen? Was wäre, wenn S. auf jene Hypothese zugunsten der folgenden verzichtet hätte: Religion kann den Ambivalenzen von Gewalt und Gegengewalt und von Eskalation und Deeskalation nie entgehen. Dann hätte er immer noch den gewählten Zweck dieses Teils verfolgen und dazu diejenigen Redaktionen aufsuchen können, die mehr die Deeskalation, Gewalteinhegung und eschatologische Gewaltüberwindung betonen, um dann, wie er es ja macht, die prägende, aber eben kontingente und keineswegs geschichtsnotwendige Erfahrung des Exils im 6. Jh. v. Chr. hervorzuheben. Ebendas ge­lingt S. vorbildlich in seinem »Rückblick auf die Friedensbotschaft des Alten Testaments« (443–446). Im neutestamentlichen Teil werden drei »Entwicklungslinien« behandelt, das lukanische Mo­tiv des endzeitlichen Friedenskönigs, die matthäische radikale Ge­waltlosigkeit und die vertiefte theologische Reflexion auf Frieden bei Paulus und Johannes (452). Die starke Konzentration auf Begriff, Wortfeld und Semantik des Friedens hindert S. aber daran, sein eigentliches Anliegen konsequent zu verfolgen, das doch darin be­steht, über zwischenmenschlichen Frieden unter realpoli tischen Bedingungen nachzudenken. So fällt ein eminent ge­schichtswirksamer Text wie Röm 13,1–7 aus seinem Blickfeld, vermutlich deshalb, weil darin das Wort »Frieden« fehlt. Aber der Sache nach geht es dort in Fortführung von Röm 12,18 um nichts anderes: Der »Frieden mit allen Menschen« beinhaltet auch den Frieden mit den Behörden.
Ein vierter ca. 240 Seiten starker Teil gilt der systematischen Entfaltung des Friedens. Am Anfang steht ein kurzer Abriss der Dimensionen gesellschaftlichen Friedens. Dem folgen 60 Seiten anthropologischer Betrachtungen über Gewaltbereitschaft und Friedfertigkeit, die in eine für militärische und zivile Praktiker lesenswerte Tugendlehre des Friedens münden. Zwei längere Ab­schnitte beschließen den Band und lösen den versprochenen Er­kenntnisgewinn ein. S. legt eine Lehre des gerechten Friedens vor, unterscheidet dort formale und materiale Bestimmungen des politischen Friedens und lässt diesen auf vier Säulen ruhen: Menschenrechte, rechtsstaatliche Demokratie, wirtschaftliche Kooperation, supranationale Verflechtung. Abschließend nennt er neue Herausforderungen der Friedensethik: 1) die überraschende »Wiederkehr der Rede vom gerechten Krieg« (666), deren Kriterien aber in das Paradigma des gerechten Friedens aufgenommen werden, 2) huma-nitäre Intervention, 3) Krieg gegen den Terrorismus, 4) gezielte Tötungen, 5) autonome Waffen, 6) Cyberkrieg, 7) Nuklearproliferation. Hier hätte S. die Kriegstypologie im ersten Teil aufnehmen können, um eine plausiblere Liste zu gewinnen. Aber insgesamt zielt er auf die gegenwärtigen Erscheinungsformen bewaffneter Konflikte im Rahmen einer auf den gerechten Frieden ausgerichteten Theorie der internationalen Beziehungen und damit auf die realpolitische Ebene. Das ist ihm aus Sicht der politischen Praxis hoch anzurechnen.