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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1326–1328

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mecking, Dorothea

Titel/Untertitel:

Die Toten sitzen mit am Tisch. Verlusterfahrungen von verwaisten Eltern und ihr Umgang mit dieser Lebenskrise.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. 318 S. = Religion und Biographie, 24. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-13756-2.

Rezensent:

Hansueli Hauenstein

Der Tod eines Kindes ist für Eltern eine einschneidende Erfahrung, die verbunden ist mit vielfältigen Formen der Trauer, mit Veränderungen im sozialen Gefüge inner- und außerhalb der Familie, in der Lebensführung, der Selbst- und Fremdwahrnehmung und in deren Deutungen. Der zentrale Ort, um den sich diese Erfahrungen und Wahrnehmungen drehen, ist eine Leerstelle: das Fehlen des Kindes, das auf eigenartige Weise mit vielfältigen Arten seiner fortdauernden Präsenz einhergeht.
Im Titel ihrer von Jan Hermelink betreuten Göttinger Dissertation nimmt Dorothea Mecking die Dialektik von An- und Abwesenheit verstorbener Kinder auf: Die Toten sitzen mit am Tisch, sind also im Alltagsgeschehen gegenwärtig und spielen weiterhin eine Rolle im Familienleben. Die »Erinnerung« an die Kinder nimmt Gestalt an und bewegt sich gleichsam in einem intermediären Raum zwischen empfundener Trauer, erzählter Geschichte, weiterlebenden Beziehungen, spezifischen Praktiken und materiellen Reminiszenzen.
Im Lauf ihrer Arbeit entfaltet M. die im Titel verdichtete These. Als Ausgangspunkt dienen ihr dabei vier narrative Interviews, die zwischen 2009 und 2012 an verschiedenen Orten in Deutschland geführt worden sind. Interviewpartner waren zwei Elternpaare und zwei Mütter von Kindern, die in verschiedenem zeitlichen Abstand und unter verschiedenen Umständen ihr Leben verloren hatten.
Die Interviews sind sorgfältig transkribiert und die Texte anschließend für eine qualitative Analyse aufbereitet, d. h. entlang von Hypothesen und Leitfragen strukturiert worden. Den theo-retischen Unterbau dazu lieferten verschiedene Modelle von Trauerprozessen (Y. Spiegel, K. Lammer, B. Wagner), des Erinnerns (R. Pohl), der Ritualisierung (R. Platvoet, E. Hauschildt), der systemischen Familientheorie (H. Stierlin, B. Hellinger, C. Morgenthaler) und der Seelsorge an Trauernden (M. Herbst, H. Luther). Daraus wurden die Leitkategorien für die Auswertung der Interviewtexte abgeleitet: Formen der Erinnerung – Umgang mit Ritualen – Veränderung des Familiensystems – Einfluss der christlich-religiösen Prägung – spezifische Formen der Selbstpräsentation (132).
Das Ziel von M.s empirisch-hermeneutischer Arbeit ist es, »die besonderen Trauer- und Lebenswege verwaister Eltern darzustellen und in einen praktisch-theologischen Kontext einzuordnen« (11). Daraus abgeleitet ergaben sich spezifische Leitfragen sowohl für die Durchführung der Interviews wie auch für deren Auswertung (111): Was ist das Spezifische an der Trauer verwaister Eltern, d. h. welche typischen Symptome, Verhaltensmuster oder Denkweisen treten bei ihnen auf? In welcher Weise reflektieren sie ihren Trauerweg und wie stellen sie ihre Entwicklung auf diesem Weg dar? In welcher Beziehung stehen Trauer und Glaube und – in praktischer Hinsicht – welche seelsorgerliche Funktion haben Pfarrpersonen und andere Begleitende für den fortschreitenden Trauerprozess?
M. situiert ihre Probanden also in verschiedenen Kontexten: emotionalen (die Dimension des Trauerprozesses), reflexiven (die Dimension der Selbstwahrnehmung und -deutung), zeitlichen (die Dimension der Erinnerung), sozialen (die Dimension des Familiensystems und des weiteren sozialen Umfelds), praktischen (die Dimension der Ritualisierungen), religiösen (die Dimension des »Glaubens«) und interaktiven (die Dimension der Begleitung durch Bekannte und Fachpersonen).
Diese Mehrdimensionalität im Ansatz und der entsprechenden Methodik macht die Stärke von M.s Arbeit aus. Anhand sehr divergenter Erfahrungsberichte von betroffenen Eltern gelingt es ihr, Faktoren zu benennen, die für das Verständnis dieser Menschen aufschlussreich sind. Dadurch und durch die empathische und respektvolle Haltung, mit der sie ihren Interviewpartnern bzw. deren Ausführungen begegnet, ermöglicht M. einen Einblick in die Welt verwaister Eltern, der insbesondere für Seelsorgende, die sich noch wenig mit dieser Welt befasst haben, von großem Nutzen sein wird.
In theoretischer Hinsicht bleibt M.s Arbeit hinter ihren praktischen und deskriptiven Qualitäten zurück. Zentrale Kategorien wie die des Rituals als »rite de passage« (und insbesondere das Konzept der Liminalität), der Erinnerung oder des Glaubens werden weitgehend aus Sekundärliteratur abgeleitet und wirken wenig profiliert. Der Glaubensbegriff bewegt sich zwischen dogmatischen (»ein Grundvertrauen darauf, dass letztlich nicht die eigene Leistung, sondern die Barmherzigkeit Gottes in Christus den Menschen rettet und erhält«, 71) und religionsphilosophischen (die »religiöse Dimension« in Selbstreflexion und -präsentation, 283) Formeln oder nimmt – im Fall des interviewten Pfarrehepaars – die Gestalt einer Berufstheorie pastoraler Praxis an (156 ff.). Die hermeneutische Kraft biblischer Tradition bleibt fast ganz ausgeklammert. Das Abendmahl etwa als paradigmatisches rituelles Kreisen um eine soziale Leerstelle wird nur gerade angedeutet (180), was in Hinsicht auf den Titel der Arbeit erstaunt.
Im Begriff der »Erinnerung« sieht M. außer dem Bedenken von Vergangenem zwar auch den rekonstruktiven Aspekt (60) und den der Aktualisierung von Handlungsvollzügen, etwa wenn ein Vater sozusagen anstelle seiner verstorbenen Tochter deren künstlerische Tätigkeit übernimmt (226). Gerade derartige Phänomene der Repräsentation oder Inkorporation von Toten im Empfinden und Handeln, im Umgang mit hinterbliebenen Gegenständen und Räumen (Schlüsselbund, 196; Kinderzimmer, 148/229) oder im sozialen Verhalten (Delegation durch Verstorbene, 208) werden mit dem Konzept der »Erinnerung« aber nicht adäquat erfasst. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch M.s Arbeit, bleiben aber sozusagen auch in der Theorie die Leerstelle, für die sie stehen.
Bezüglich dieser »wirklichen Präsenz« (272) wäre eine vertiefte Auseinandersetzung mit vorliegender Literatur aus dem angelsächsischen Bereich förderlich gewesen. Dies gilt insbesondere für das Konzept der »continuing bonds«, wie es von Phyllis Silverman, Dennis Klass oder Tony Walter und im Zusammenhang mit verwaisten Eltern vor allem von Gordon Riches und Pam Dawson entwickelt worden ist. Vieles, was M. in den Interviews sorgfältig und differenziert wahrnimmt, wurde und wird in diesem Kontext breit diskutiert. Hier fand auch der Abschied von einem auf »Normalisierung« zielenden Trauerkonzept statt, lange bevor ihn M. in der deutschsprachigen Literatur verortet.
Ungeachtet dieser Kritik, und auch wenn das Spezifische der Trauer um verstorbene Kinder nicht wirklich deutlich wird, bietet M.s Arbeit eine Vielfalt eindrücklicher und weiterführender Beobachtungen. Dies gilt insbesondere bezüglich der Bedeutung von »Leerstellen« (56) in Familiensystemen, von nicht-kommunizierten Erinnerungen oder von Stigmatisierungen verwaister Eltern, die ebenso Teil eines objektiven sozialen Umfelds sind wie als Selbstkonzept der Trauernden Teil einer subjektiven Bewältigungsstrategie und Identitätsfindung (291).
Überzeugender als ihre expliziten Folgerungen für die Seelsorgepraxis (Seelsorgende als »Repräsentanten Gottes«?, 303) ist die seelsorgerliche Haltung, die M. selber gegenüber ihren Probanden und deren Äußerungen einnimmt: Behutsam, aufmerksam, kritisch setzt sie sich gleichsam mit ihnen an einen Tisch, entwickelt ihr Gespräch rund um die »paradoxe Anwesenheit de[r] Abwesenden« (64) und lädt die Lesenden engagiert und nachdrücklich ein, sich an diesem Diskurs zu beteiligen.