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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1165–1166

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Titel/Untertitel:

Kritische Gesamtausgabe. Abt. II: Vorlesungen. Bd. 4: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. Hrsg. v. W. Virmond unter Mitwirkung v. H. Patsch.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. LI, 1162 S. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-11-025244-6.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Seit 2012 liegt in der KGA der Werke Schleiermachers die definitive Ausgabe von Schleiermachers Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik in einer Maßstäbe setzenden Edition vor. Schleiermacher hat die Hermeneutik-Vorlesungen zwischen 1805 und 1832/33 immer wieder gehalten, seit 1826/27 unter Hinzufügung der Kritik, aber niemals selbst veröffentlicht, obwohl er das vorhatte. So war man bisher auf die mehr oder minder überzeugende Edition von Friedrich Lücke (1838) (auf die auch Manfred Frank 1977 zurückgreift) sowie die kritische Edition von Heinz Kümmerle (1959) angewiesen. Lücke hatte aus dem Nachlass und den Nachschriften Schleiermachers einen Text zusammengestellt, den Schleiermacher so nie vorgetragen hatte, Kümmerle konnte nicht auf alle relevanten Texte Schleiermachers zugreifen.
Die von Wolfgang Virmond unter Mitarbeit von Hermann Patsch erstellte Ausgabe geht in jeder Hinsicht über das bisher Bekannte hinaus. In einem ersten Teil werden alle bekannten Manuskripte Schleiermachers, der Hermeneutik-Entwurf von 1805 und die allgemeine Hermeneutik von 1809/10, die Hermeneutik von 1819, die Randbemerkungen von 1828 und 1832 sowie die Kritik von 1826 geboten. In einem zweiten Teil machen die Herausgeber jeweils eine maßgebliche Vorlesungsnachschrift des Kollegs von 1819 (Jonas), von 1822 (Hagenbach), von 1826/27 (Braune) und 1832/33 (Calow) verfügbar. Zieht man die schon in KGA I/11, 599–641, veröffentlichte Hermeneutik-Rede vor dem Plenum der Akademie der Wissenschaften hinzu, hat man die denkbar beste Grundlage, um sich von Schleiermachers hermeneutischen Bemühungen ein zuverlässiges Bild zu machen. Die historische Einführung sowie der editorische Bericht der Herausgeber bieten in gewohnter Präzision die nötigen Informationen zum Werden von Schleiermachers Hermeneutik von Halle (1805) bis Berlin (1833). Besonders deutlich wird dabei, dass entgegen manch anderslautenden Thesen Schleiermachers Intention von Anfang an auf eine Hermeneutica sacra gerichtet war. Die 1814 vorgenommene Zuweisung der »allgemeine[n] Grundsätze der Auslegungskunst« an die Philosophische Fakultät und der »Hermeneutik des Neuen Testaments« an die Theologische Fakultät wird seit 1819 wieder aufgehoben und beide Teile der Hermeneutik werden von da an stets zusammen vorgetragen. Seit 1826/27 wird zudem die Kritik der Vorlesung über Hermeneutik hinzugefügt. Schleiermachers Konzeption der Textkritik ist wesentlich bestimmt durch seine eigene kritische Editionsarbeit an neutestamentlichen und profanen Texten der Antike und sie nimmt geradezu den Charakter einer »Anweisung zur Herstellung einer kritischen Ausgabe« an, wie die Herausgeber zu Recht betonen (XXXI). Hier wie auch sonst zeigt sich deutlich, wie eng die hermeneutischen Bemühungen Schleiermachers nicht nur mit den Arbeiten von Vorgängern (Semler, Er-n esti) und Zeitgenossen (Wolf, Ast, Gaß, Heindorf, Buttmann, Spalding) zusammenhängen, sondern auch mit seiner Platon-Übersetzung, den Einleitungen zu den Platon-Schriften, seinen exe­getischen Publikationen und Vorlesungen sowie seinen mannigfachen Rezensionen hermeneutischer Literatur. Hermeneutik und Kritik gehören zum Kern von Schleiermachers Werk und sind aus seinen Aktivitäten als Herausgeber, Übersetzer, Philosoph, Bibelwissenschaftler und Theologe nicht wegzudenken.
Mit dem vorliegenden Band liegt eine Ausgabe vor, die allen Ansprüchen einer kritischen Edition aufs Beste genügt und die früheren Editionen obsolet sein lässt. Wer künftig Schleiermachers Hermeneutik zitiert oder über sie handelt, muss auf diesen Band zurückgreifen. Denn erst diese Ausgabe macht in aller Klarheit deutlich, wie einseitig, fragwürdig und irreführend viele Thesen sind, die seit Dilthey über Schleiermachers Hermeneutik in Um­lauf sind. Schleiermachers Hermeneutik ist nicht so neu und ohne Vorläufer, wie manchmal behauptet wurde, und sie ist nicht so romantisch gefühlszentriert, wie immer wieder gesagt wird. Sie ist eine durch und durch an der Arbeit mit und an Texten ausgebil-dete Kunstlehre des Verstehens. Denn ohne Texte zu verstehen, können wir auch nicht hoffen, die Kommunikationsvollzüge des menschlichen Lebens zu verstehen. Schleiermacher zeigt, wie sich im Textverstehen beides verknüpft und warum es einer Kunst bedarf, dem verantwortungsfähig gerecht zu werden.