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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

94–96

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Popper, Karl R.

Titel/Untertitel:

Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. II: Widerlegungen.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. IX, S. 368-627 Gr.8 = Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 97. Kart. DM 49,-. ISBN 3-16-146404-4.

Rezensent:

Hermann Deuser

Sir Karl Popper liebte Motto-Texte, und der jetzt erschienene zweite Band der deutschen Ausgabe der Vermutungen und Widerlegungen (vgl. die Besprechung des ersten Teilbandes, in: ThLZ 121, 1996, 481-484) liefert im Anhang auch die entsprechenden Fundstellen für das Gesamtwerk. Einer der schönsten Texte ist zweifellos die Phaidon-Stelle (Platon, Phaidon, 85 c-d), die den Band der Widerlegungen eröffnet; und dass sie mit den Worten "göttliche Lehre" endet, ist selbstverständlich eine wissenschaftstheoretische Problemanzeige erster Ordnung! Erst recht dadurch, dass P. selbst in einer Notiz von 1988 hinzufügt: "Die letzten Worte dieses Zitates ließ ich in den früheren Ausgaben weg, da ich ein Mißverständnis befürchtete: Sie dürfen nicht als ein Hinweis auf eine geoffenbarte religiöse Lehre aufgefaßt werden ..." (608). Der logos theios also darf dann zitiert werden, wenn er nicht mehr als gangbare, quasi-wissenschaftliche Alternative zur wissenschaftlichen Prüfung missverstanden wird. Die Irrtümer, Vermutungen und Widerlegungen sind der Menschen Los, und wir sollten das "von ganzem Herzen" (600) akzeptieren. Die "göttliche Wahrheit" aber überlassen wir besser den Göttern; oder, P.s Pathos von "Kritik" und "Vernünftigkeit" (557) auf Lessings Bühne nachgespielt: Würde Gott vor die Wahl stellen, alle Wahrheit aus seiner Rechten oder den Trieb nach Wahrheit aus seiner Linken zu empfangen, P. müßte genauso demütig wie Lessing auf die Linke zugehen und sagen: "Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" (Lessing, Eine Duplik, 1778).

Keine Frage, auch dieser Band der Widerlegungen bleibt lesenswert. P. ist ganz in seinem Element, polemisch, witzig und genau, aufklärend und sympathisch in der Apologie des undogmatischen Geistes der Wissenschaften. Hinter sich hat er dabei immer die Präzisierungen aus der Logik der Forschung und vor sich die Diskussionsfreunde und -feinde, die mit dem Autor zusammen das Projekt nicht nur spielen, sondern beweisen: Widerlegungen? Es gibt nur eine wissenschaftliche Methode, die von Versuch und Irrtum (452 f.).

Die frühesten Beiträge dieses Bandes stammen aus den dreißiger und vierziger, die letzten aus den fünfziger Jahren; die im Anhang gesammelten Zusätze gehören zu den 10 Aufsätzen des ersten Bandes der Vermutungen und stammen teilweise erst aus den späteren Auflagen der Conjectures and Refutations. Die Edition versucht durch Auflistung in den Bibliographischen Nachweisen und durch Entstehungsnotizen zum jeweiligen Artikel diese Textgeschichte übersichtlich zu machen. Dabei ist nur die Übersetzung des engl. Titels für den Anhang: "Some Technical Notes" uneinheitlich geraten (vgl. 607 mit VI u. 560). Die Paginierung der beiden Bände ist durchgehend, und ein detailliertes Personen- und Sachregister im zweiten Teilbd. erschließt die Textsammlung nun im ganzen.

Für die genauere Illustration und wenigstens punktuelle Kommentierung der philosophischen Implikationen, die P.s bekannte Methodenapologie von Versuch und Irrtum tatsächlich mit sich bringt, möchte ich die beiden umfangreichsten Texte dieses Bandes herausgreifen: Die Carnap-Kritik von 1955 (Kap. 11: Die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik) und den Dialektik-Aufsatz von 1937/1940 (Kap. 15: Was ist Dialektik?).

1. In markanter Kritik am Positivismus (hier vertreten durch Carnaps These der Sinnlosigkeit aller Metaphysik bzw. der positiven Abgrenzung von Wissenschaft durch das Verifizierbarkeitskriterium, vgl. 379) zeigt P., dass der Positivismus selbst durch ein "antimetaphysisches Dogma" (395) gebunden bleibt. Das liegt vor allem daran, dass der Positivismus die Wissenschaftlichkeit überhaupt gegenstandsbezogen abgrenzen - und d. h. anderes von ihr ausschließen will, was P. als methodisch unmöglich nachweisen kann. Denn auch die moderne Sprachanalyse positivistischer Prägung verfügt nicht über ihre Gegenstände, an denen sie sich verifizieren müsste. Diese Seite der Debatte ist inzwischen ein Teil der Philosophiegeschichte des 20. Jh.s, P. hat hier offensichtlich recht behalten, und die Folgen für die analytische (Religions-)Philosophie sind auch in der Theologie bündig nachgezeichnet worden (vgl. I. U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott, 1981).

Interessant bleibt darüber hinaus, warum P., der dem deutschen Idealismus, der Metaphysik oder der Theologie ebenso wenig traut wie die Positivisten, den Ausschluss von Metaphysik für ausgeschlossen hält. Wissenschaft ist Methode, nur das lässt sich erfahrungswissenschaftlich wirklich zeigen, und zwar die Methode von Versuch und Irrtum, und diese sind allein gebunden an möglichst durchgreifende Prüfverfahren. D. h. zwischen mehr oder weniger wissenschaftlich regiert allein das Kriterium der "Grade der Prüfbarkeit", und wo nahezu nichts mehr prüfbar erscheint, muss nicht etwa (in der bekannten positivistischen Zwanghaftigkeit) Sinnlosigkeit konstatiert werden, sondern eben ein Bereich, der die exakten Wissenschaften am wenigsten interessiert, der aber im Leben - und auch in den Wissenschaften - durchaus vorkommt und der folglich als Metaphysik dann auch einen Namen führen darf (373, 401, 407)!

Insofern kann P. spielerisch so weit gehen, den positivistischen Gegnern eine Gott-Hypothese auf deren Denkbasis vorzuführen, seine "erzmetaphysische Behauptung" (398 ff.), die gleichwohl "nicht-wissenschaftlich" ist (402 Anm. 57). Wenn - mit P. - aber gilt, dass wissenschaftliche Sätze nie ohne Inanspruchnahme von "Universalien" möglich sind (403), dass Prüfungen "nie endgültig" sind (404) und dass "kühne Hypothesen" (417) die Wissenschaften (d. h. immer: deren Prüfungseifer) letztlich voranbringen, dann ist nicht einzusehen, warum eine Gott-Hypothese davon ausgeschlossen werden sollte oder nur könnte. Dass P. diesen Schritt nicht einmal im Horizont seiner Wissenschaftstheorie wahrnimmt, liegt daran, dass er eben doch mit dem Positivismus die Stimmung gegen (alle) Metaphysik inhaltlich teilt. Anders gesagt, er kann sich eine lebensorientierende Prüfung von Hypothesen (außerhalb der an der Physik orientierten Erfahrungswissenschaften) überhaupt nicht vorstellen. Prüfung ist Wissenschaft - was aber wäre, wenn die Lebensgeschichte existierender Personen aus Überprüfungen und entsprechenden Folgerungen im Rahmen von Versuch und Irrtum bestünde und nicht nur die Theoriebildung der Menschen, die sich modernen Prüfkriterien philosophischer Provenienz verschrieben haben?

2. Implizit ist es diese Frage, die P. in seiner ebenso berühmten Abfuhr aller Dialektik diskutiert. Natürlich geht es hier - zeitbedingt - auch um die gesellschaftspolitisch motivierte Widerlegung des marxistischen Begriffs von Wissenschaft, der als "dialektische Logik" etabliert (479 ff.) zu Serien von Ungereimtheiten hat führen können. Auch in dieser Kritik hat, philosophiegeschichtlich gesehen, P. sicher recht behalten. Doch gerade aus der nachträglichen Perspektive drängt sich die Beobachtung auf, dass derselbe P., der im Namen von kritischer Vernunft die positivistischen wie die idealistischen (bzw. rationalistischen, vgl. 468 ff.) Positionen der Neuzeit abräumen will, doch immer nur Methode entgegenzusetzen hat. Warum ist das zu wenig? Was P. an der (Hegelschen) Dialektik nicht verstehen will, ist deren Versuch, Denken (also durchaus Methode) aus der geschichtlichen (für P. besser: empirischen) Wirklichkeit begründet sein zu lassen. Für P. ist offenbar Methode immer nur begründbar und sachrelevant als theoretische "kritische Einstellung" (456), als "Entschluß" (458), als "Entscheidung" (464); zu ihrem Gegenstandsfeld steht sie nur in Kontakt eben durch Prüfung, Irrtum, immer neue Versuche. Woher die ontologische Berechtigung für die Erwartungskraft, die in solcher Methode steckt? Woher die Erklärungsgründe für die offensichtlichen Erfolge, die diese Methode auszeichnen?

Hier ist nicht Hegels Dialektik gegen P. zu verteidigen, ich möchte allein - sozusagen theorie-immanent - auf zwei Punkte hinweisen, die selbst P. hätten davon überzeugen müssen, dass sein Methodenbegriff sich unnötigen Begrenzungen unterwirft:

a) Was nicht Methode (d. h. Versuch und Irrtum) ist, erscheint als "dogmatische Einstellung" (452), bleibt vorwissenschaftlich, metaphysisch. Es ist zwar P.s Absicht, der Dialektik eine gewisse Plausibilität zur Erklärung wissenschaftsgeschichtlicher Abfolgemuster zuzuerkennen (455 ff., 483), weil sie als "dialektische Logik" aber zu abwegigen Konsequenzen führt, sollte der missverständliche Terminus doch möglichst ganz vermieden werden (468). Anders gesagt: Dialektik ist entweder Versuch und Irrtum auf die Wissenschaftsgeschichte angewandt - oder sie ist gar nicht. Worin aber ist die Methode selbst fundiert? Ist sie realistisch in dem Sinne, wie C. S. Peirce in Fixation of Belief (1877) die Wissenschaft als Methode allen anderen Wissenschaftsbegriffen prinzipiell überlegen dargestellt - aber auch hinzugefügt hat, dies sei vertrauenswürdig, weil in the long run Menschen in ihren Konklusionen übereinstimmen würden? Ist Poppers Methode in dieser Weise in Natur-, Wissenschafts- und Menschheitsgeschichte eingebettet? Oder hat er, fixiert auf Hegelianismus, um alles in der Welt eine "allgemeine Theorie der Welt" (457) sich verwehren müssen, weil er dort Prüfbarkeit und Methode nicht mehr erkennen wollte?

b) Zentral für P. ist der klassische Einwand, Hegels Dialektik verwerfe an entscheidender Stelle und auf nie mehr wieder gutzumachende Weise den Satz vom Widerspruch, d. h. Logik werde unzulässig vergeschichtlicht- und dann sei alles oder nichts möglich (459 ff.). Sofern Logik auf den Bereich der "Theorie der Deduktion" (466) festgelegt wird, muss P. recht gegeben werden. Dass Logik anders und umfassender bestimmt werden kann, wäre wiederum von C. S. Peirce zu lernen: Gerade die metaphorische "Vagheit" (466 f.) dialektischer Logik kommt in ein anderes Bezugssystem, wenn realistische Potentialitäten gedacht werden sollen, die jetzt noch nicht der Entscheidbarkeit deduktiver Logik unterliegen. Peirce hat in diesem Sinne (nicht im Sinne der inkriminierten "Dialektik") von einer Logik der Vagheit gesprochen, die die Modalität von Unentscheidbarkeiten im Rahmen genau der Realität erkennen muss, von der die wissenschaftlichen Theoriebildungen nicht absehen können (vgl. H. Papes Einleitung, in: C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993). Ob P. mit dem hier von ihm selbst erwähnten "dual-intuitionistischen Kalkül" (464, Anm. 8) in diese Richtung gedacht hat, wäre möglich.

Aus den genannten Gründen der Abwehr jedes Hegelianismus konnte er diese Logik der Möglichkeiten jedenfalls nicht ernsthaft weiterverfolgen. Hätte er es doch getan, wäre mit dem Prüfkriterium der wissenschaftlichen Methode die Metaphysik möglicherweise gerade in den Grenzen der auf Realismus und Common Sense verpflichten Wissenschaftstheorie erkennbar geworden, und der logos theios aus dem Motto-Text der P.schen Widerlegungen hätte einen ganz neuen Sinn gewinnen können.