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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1064–1066

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Stephan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die »Kategorien der Freiheit« in Kants praktischer Philosophie. Historisch-systematische Beiträge.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. X, 344 S. = Kantstudien-Ergänzungshefte, 193. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-048929-3.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

In einer Zeit, in der Normativität und Freiheit nicht nur in der Ethik, sondern in der Philosophie insgesamt problematisch geworden sind, steht es dieser gut an, sich den »Kategorien der Freiheit« in Kants praktischer Philosophie zuzuwenden. Deren Potential zu einer Begründung der Unverzichtbarkeit des Gedankens der Freiheit in ihrem praktischen Gebrauch gilt es immer wieder neu in Erinnerung zu rufen und vor allem auf die neuen Konstellationen in den philosophischen Traditionen zu beziehen. Dieser Aufgabe unterzieht sich der genannte Band, der in der Reihe der Kantstudien Ergänzungshefte erschienen ist. Es ist ein Sammelband, der auf die international besetzte Tagung »Kant und die Kategorien der Freiheit« aus dem Jahr 2012 an der Universität Bonn zurückgeht.
Der Herausgeber des Bandes legt in seiner Einleitung den beeindruckenden Umstand dar, dass, entgegen der architektonischen, formalen und inhaltlichen Bedeutung der Kategorien auch der praktischen Philosophie bei Kant, nicht nur die Rezeptionsgeschichte dieses Theorieteils der praktischen Philosophie sich spärlich ausnimmt, sondern dass auch bei Kant selbst, entgegen der Beteuerung ihrer Bedeutung, der Umfang der Ausarbeitung keineswegs dieses behauptete Gewicht widerspiegelt. Dieser doch überraschende und nachdenkenswerte Befund ist zur Kenntnis zu nehmen. Zimmermann ist bemüht, beides zu plausibilisieren, so­wohl das Gewicht, das Kant den Kategorien der praktischen Vernunft als Parallele zu den »Kategorien der Natur«, wie er die Verstandesbegriffe auch nennt, zuerkennt, als auch den Umstand, dass die Philosophie sich zwar bis heute der Kategorien der Natur als den Kategorien der theoretischen Vernunft, der Beachtung und der Analyse erfreut, nicht aber der Kategorien der Freiheit als jenen der praktischen Vernunft. Diese wurden vernachlässigt in der Betrachtung, und zwar sowohl zu Lebzeiten und in den darauffolgenden Rezeptionsgängen als selbst noch in der Gegenwart, obwohl sich zumindest seit der Mitte des vorigen Jh.s das Augenmerk verstärkt auch auf diesen Teil der Philosophie Kants richtete. Mit Sicherheit hat dieses verstärkte Interesse mit der Rehabilitierung der praktischen Philosophie überhaupt im Zuge der Wiedergewinnungsversuche einer normativen Ethik zu tun. Demgegenüber lag jene Vernachlässigung an der lange und immer noch vorherrschenden Bevorzugung der Rezeption der theoretischen Philosophie Kants. Vorangetrieben worden war diese bereits durch die einseitige Rezeption der theoretischen Philosophie durch den Neukantianismus, dann aber auch mit der Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen Weltbildes und der Orientierung auch der Philosophie an der Strenge naturwissenschaftlicher und logischer Theorien. Unterstützt wurde solche Weichenstellung der verstärkten Beachtung der theoretischen Philosophie nicht zuletzt durch Kant selbst, indem er der theoretischen Philosophie die minutiöse Ausarbeitung einer Kategorientafel zugemutet hat. Diese hat er zwar auch für die praktische Philosophie angekündigt, in ihrer Ausführung aber hat er sie sehr spärlich mit gerade mal vier Absätzen in der Kritik der praktischen Vernunft bedacht.
Diesen Umstand zur Kenntnis zu nehmen und dennoch auf die Untersuchung der Kategorien der praktischen Vernunft genauer einzugehen, hat sich der vorliegende Band zur Aufgabe gemacht. Damit betritt er nahezu Neuland in der Kantforschung. Umso wichtiger ist dies, da mit der Untersuchung genau die Fragen einer grundsätzlichen Erinnerung der Aufgabe der Philosophie verbunden sind, namentlich die Frage, wie sich jenseits der Verabschiedung metaphysischer Letztbegründungsmöglichkeiten die Ebene eines »Grundes« festhalten lässt, aus dem nicht nur rationale Argumente, sondern der Gedanke der Ratio in einer das Humane und seine Freiheit legitimierenden Funktion aufrechterhalten werden kann.
Dem Beitrag von Theo Kobusch, einem ausgewiesenen Kenner der philosophischen Tradition, gerade wenn es um die Aspekte von Moral und Freiheit geht, ist die Erinnerung daran zu verdanken, dass auch Kant – selbst wenn sein Werk der Philosophie eine epochale Wende beschert hat – nicht ohne die Tradition zu denken ist, in der er steht. Dieser Beitrag ist für den Band grundlegend und zentral (worauf auch der dadurch gerechtfertigte Umfang von fast 50 Seiten verweist), wird doch von vornherein die Ausrichtung der Kantischen Transzendentalphilosophie auf die grundlegenden Be­stimmungen ihrer Ermöglichungsbedingungen, die sich letztlich in der »Freiheit« konzentrieren, durchleuchtet. Darüber hinaus zeigt er auch auf, dass auf manche »Dunkelheiten« des Werkes Licht fällt, wenn man sie vor dem Hintergrund der Tradition, in der und an der sich Kant gebildet hat, sieht. Das betrifft die Einordnung der Begriffe der Moral und Freiheit, besonders der Kategorien der Freiheit im Gegenüber zu den Kategorien der Natur, die eben, wie auch bei Schleiermacher, die Einteilung von Ethik und Physik als die zwei Bereiche kennzeichnen, in die sich das Wissen um die Gesetze einordnen lässt. In der Unterscheidung von Natur und Freiheit steht Kant in einer langen historischen Tradition, die sich bereits im 13. Jh. ontologisch niederschlägt, indem von einem Sein der Freiheit ein Sein der Natur unterschieden wird, wie es dann spätes-tens bei Pufendorf in der Unterscheidung von ens morale und ens naturae zur Darstellung kommt. Diese lässt es zu, von einer universalen Ethik, die von Prinzipien der Vernunft (ex sola ratione) geleitet wird, auszugehen. Genau in dieser Tradition der Begründung einer universalen Ethik steht Kant. Kobusch macht hier zu Recht darauf aufmerksam, dass dieses Moment des Universalen, das bei Pufendorf naturrechtlich, bei Kant dann aber transzendental begründet ist, genau das Moment darstellt, das bei der Bestimmung der Kantischen Ethik nicht unterschlagen werden darf (21). Genau dieser Aspekt, der sich auf die Eigenständigkeit der Kantischen Philosophie, insbesondere der Praktischen Philosophie be­zieht, wird umso deutlicher, wenn man nicht von dem Vorurteil ausgeht, dass »Kant nicht zu jenen Autoren gehöre, die von wo herkämen.« (18) Dieses räumt Kobusch aus und lässt dabei die eigenständige Leistung Kants umso heller strahlen, nicht ohne die wesentlichen Stationen der Entwicklung seiner Freiheitstheorie und ihrer Verwurzelung in der Auseinandersetzung mit den Weichenstellungen der Tradition lehrreich und mit nicht zu vernachlässigendem Gewicht zur Darstellung zu bringen. Allein schon dieser Beitrag lohnt es, das Buch mit hoher Priorität in das eigene Kantstudium einzubeziehen.
Die folgenden Beiträge widmen sich Einzelproblemen, die dennoch durchweg der Erhellung der grundlegenden Frage nach Ort und Stellung der Kategorien der Freiheit in Kants praktischer Philosophie, sowie seinem kritischen Unternehmen der Philosophie insgesamt dienen. Sie versuchen alle dem Umstand Rechnung zu tragen, dass – entgegen der spärlichen Textgrundlage – den Kategorien der Freiheit für die Philosophie eine zentrale Funktion zuzusprechen ist. Dies wird im Beitrag von H. Puls in Bezug auf die Rede von einem »übersinnlichen Gebrauche der Kategorien« und bei M. Baum in Bezug auf die Begriffe des Guten und Bösen sowie bei J. Bojanowski an der grundlegenden Funktion der Kategorien für die Gegenstandkonstitution der praktischen Vernunft eindrücklich nachgezeichnet. Der Blick auf die Kategorien hinsichtlich der dahinterstehenden Konzeption von Freiheit (J. Rometsch), auf ihr Wesen als entweder apriorisch oder empirisch (I. Goy), ihre Herkunft als abgeleitet oder als in Elementarbegriffen (W. Euler) verortet, führt die grundlegende Frage des Herausgebers des Bandes (S. Zimmermann) nach der Eigentümlichkeit des praktischen Gebrauchs der Vernunft als Analyse der Bestimmung der Freiheitskategorien als Konsequenz mit sich. Dieser wendet sich auch der luzide Beitrag von F. Fulda in der Unterscheidung der rein praktischen, pragmatischen sowie technisch-praktischen Dimension zu. Die beiden folgenden Beiträge von J. M. Torralba und W. Bartuschat stellen noch einmal eindrücklich heraus, wie sie aus dem Kontext ihres Vorkommens in ihrer Funktion näher aufzuklären sind. Diese Frage stellt dann abschließend der Beitrag von Chr. Krijnen auf grundsätzliche Weise, indem er sie in den Zusammenhang der Einheit der Vernunft in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauch stellt und damit die eingangs von Kobusch dargelegte Linie des Zusammenhanges der Freiheitskategorien mit der Bestimmung der Vernunft selbst wieder als grundlegendes Thema bekräftigt.
Die Beiträge dieses Bandes regen insgesamt an zum Weiterdenken. Sie geben Impulse, die wegweisend für gegenwärtige philosophische Fragen sein können, etwa wenn es um die Bestimmung und Infragestellung der Willensfreiheit geht oder um die Verhältnisbestimmung von Natur und Vernunft, Vernunft und Freiheit. Zur Differenzierung und In-Beziehungssetzung dieser Bestimmungen ist ein Instrumentarium notwendig, das kaum auf die diffizilen und pointierten Bestimmungen des Kantischen Vernunftbegriffs verzichten kann. Daher gehört dieser Band nicht nur in die Rubrik der Spezialuntersuchungen Kantischer Philosophie, sondern wird einer breiteren Diskussion der Selbstverständigung über Wesen und Aufgabe der Philosophie insgesamt zugemutet werden müssen.