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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

946–948

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bormann, Franz-Josef [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von ›Töten‹ und ›Sterbenlassen‹.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. XII, 845 S. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-048572-1.

Rezensent:

Axel Ekkernkamp

Jenseits der Gewissheit sterben zu müssen beschäftigen sich immer mehr Menschen damit, wie das Ende ihres Lebens gestaltet werden kann und welchen Einfluss sie auf diesen Prozess (noch) haben: sterben wollen, sterben dürfen und das möglichst ohne Schmerzen – aber vielleicht mit (ärztlicher, pflegerischer) Hilfe? Fragen, die angesichts der demographischen Entwicklung und zunehmender Hochleistungsmedizin nicht nur Patienten bewegen. Auch Intensiv- und Palliativmediziner oder Krankenhausverbünde wie die BG Kliniken müssen den angemessenen Umgang mit kranken und verletzten Personen am Ende ihres Lebens definieren.
Zum genau richtigen Zeitpunkt der Diskussion erscheint im Walter De Gruyter Verlag ein Mehrautorenwerk, das wirklich lesenswert ist. Die neuen Möglichkeiten der medizinischen Le­benserhaltung und -verlängerung hätten schon längst eine Be-gleitung durch einschlägige normative Orientierungen verdient gehabt. Denn es besteht Handlungsunsicherheit auf Seiten der professionellen Akteure, besonders bei Angehörigen der Berufsgruppen Arzt/Ärztin sowie Gesundheits- und Krankenpflege.
Es ist ein umfangreiches, komplexes Opus geworden, allein schon deshalb, weil das Spektrum des in sich extrem heterogenen Handlungsfeldes von unstreitigen Tötungsdelikten bis hin zu verschiedenen Formen der Behandlungsbegrenzung bzw. -beendigung reicht. Denn so einfach, wie der Untertitel vermuten lässt, ist es bei Weitem nicht: Es geht nicht nur um »Töten« oder »Sterbenlassen«. Das Buch macht deutlich: Vertreter der Medizinberufe, die sich professionell mit Sterben auseinandersetzen müssen, bewegen sich in einem Spannungsfeld, in dem Begrifflichkeiten wie lebensbeendende Handlungen, fahrlässiges oder vorsätzliches Unterlassen, gerechtfertigter Behandlungsabbruch und Therapiezieländerung die Entscheidungen im Umgang mit todkranken Patienten be­stimmen. Wie verträgt sich Menschenwürde mit (Weiter-)Be-handlungsanreizen? Und dann gibt es ja noch den (mutmaßlichen) Patientenwillen, der aber auch längst nicht immer eindeutige Handlungsanweisungen definiert.
Der Herausgeber macht den Versuch, die wichtigen Einzelperspektiven von Ethik, Medizin und Recht miteinander in Kommunikation zu bringen, um die handlungstheoretischen Voraussetzungen und normativen Implikationen der Grenzziehungen kritisch zu reflektieren. Zu klären ist ja auch, wie weit ethisch mo­ralisches Handeln sich mit juristischen Anforderungen deckt. Dabei ist Sterben und Sterben lassen ein Thema, das seit der Antike kontrovers behandelt wird: Beim Stoiker Seneca findet sich der Satz »Schwach und feig ist, wer des Schmerzes wegen stirbt, tö­richt, wer um des Schmerzes willen stirbt.« Bekannt ist vor allem auch die – umstrittene – Passage des hippokratischen Eids, niemandem ein tödliches Mittel zu geben, auch wenn der Arzt darum gebeten wird.
Folgerichtig werden im ersten der vier Hauptteile des Buches die traditionellen Grundlagen der philosophischen Handlungstheorie dargestellt; im zweiten Teil des Bandes geht es vor allem darum, die für die Abgrenzung distinkter Handlungstypen wichtigsten Hauptargumente aus Moral und rechtsphilosophischer Perspektive auf der Grundlage der zeitgenössischen Handlungstheorie zu erschließen. Im dritten Hauptteil steht dann die medizinische Diskussion zur Entscheidungsfindung am Lebensende im Vordergrund, wobei zunächst nach dem Orientierungswert verschiedener traditioneller begrifflicher Unterscheidungen ärztlichen und pflegerischen Handelns gefragt wird, bevor dann auch mögliche Konflikte in den verschiedenen statistisch relevanten Handlungskontexten zur Sprache kommen. Der abschließende vierte Teil ist einer problemorientierten Rekonstruktion der jüngeren deutschen Rechtsentwicklung gewidmet, wobei neben einschlägigen gesetzgeberischen Initiativen auch die höchstrichterliche Rechtsprechung und die dadurch initiierten semantischen Verschiebungen auf dem Gebiet des Sterbehilferechtes einer kritischen Reflexion unterzogen werden.
Das etwa 850 Seiten umfassende Werk scheint zunächst für eine durchgängige Lektüre zu umfangreich zu sein. Der logische Aufbau, die individuelle Handschrift der verschiedenen Autoren, schließlich die Kunst des Tübinger Moraltheologen Franz-Josef Bormann, die unterschiedlichen Beiträge inhaltlich und gut lesbar aufeinander abzustimmen, machen das Buch zu einer lesenswerten und hochspannenden Lektüre.
»Lebensbeendende Handlungen« ist kein Opus für den Bücherschrank, vielmehr können die mit der Thematik befassten Akteure immer wieder auf der Basis konkreter Alltagsherausforderungen oder intellektueller Inanspruchnahme das Werk zur Hand nehmen und als Entscheidungshilfe nutzen. Trotz oder auch gerade wegen seiner Komplexität ist es ein verlässlicher, interdisziplinär zu nutzender Navigator. Ein Werk, das man Theologen, Ärzten, Gesundheits- und Krankenpflegekräften, Philosophen, Krankenhausmanagern, Juristen und Studierenden der höheren Semester zur Lektüre nur empfehlen kann.