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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

825–827

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ernst, Christina

Titel/Untertitel:

Mein Gesicht zeig ich nicht auf Facebook. Social Media als Herausforderung theologischer Anthropologie.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2015. 384 S. m. 2 Abb. u. 1 Tab. = Edition Ethik,15. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-8469-0181-6.

Rezensent:

Thomas Bohrmann

Seit dem Ende des 20. Jh.s ist die soziale Kommunikation zunehmend durch digitale Medien geprägt. Vor allem das Internet bietet in Form von Social Media Kommunikationsplattformen, durch die sich Nutzer miteinander vernetzen und über unterschiedliche In­halte austauschen können. Für soziale Beziehungen und menschliche Interaktionen ist die Art der Darstellung der eigenen Persönlichkeit in der digitalen Medienlandschaft dabei von besonderer Relevanz, da sie zum Spiegelbild der Identität werden kann. Im Mittelpunkt der Studie von Christina Ernst steht das soziale Netzwerk Facebook, das der Selbstdarstellung von Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen dient. Diese Selbstdarstellung können Individuen auf unterschiedliche Weise inszenieren, indem identifizierende Merkmale mehr oder weniger öffentlich gemacht werden. Einen dazu scheinbar im Widerspruch stehenden Gegentrend markiert das Motto »Mein Gesicht zeig ich nicht auf Facebook«, das auch für den Obertitel der vorliegenden Publikation gewählt wurde. Danach ist Facebook zwar einerseits nach wie vor ein Medium der Kontaktpflege, in dem man von anderen gesehen werden möchte, andererseits ermöglicht es aber auch Praktiken der sichtbaren Selbstverhüllung, bei denen Gesicht oder Körper der Nutzer ganz oder teilweise verdeckt und durch Symbole ersetzt werden. Dadurch wird die »grundsätzliche Nichtdarstellbarkeit personaler Identität visualisiert« (9).
Diese These spitzt die Fragestellung der Studie zu: Welche Folgen haben die Entstehung und Einbettung von Social Media/Facebook in Alltagspraktiken für das menschliche Selbstverständnis? Die Vfn. möchte mit ihrer Arbeit, die von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation an-genommen wurde, einen Beitrag zu einer theologischen Medienethik bzw. einer Theologie der Social Media liefern, da die Inszenierungsstrategien bei Facebook im Hinblick auf eine theologische Anthropologie untersucht werden sollen.
Die Forschungsarbeit enthält drei große Teile. Nach der Einleitung werden im ersten Kapitel grundlegende Kennzeichen von Kommunikationsprozessen und sozialen Interaktionen in Social Media beschrieben. Die Vfn. erklärt das der Arbeit zugrundeliegende Kommunikations- und Medienverständnis vor allem anhand der medien- bzw. kultursoziologischen Erkenntnisse von Friedrich Krotz, der mit seiner Theorie der Mediatisierung von einer Wechselwirkung zwischen kulturellen Normen und Menschenbildern einerseits und den bereits existierenden sowie sich neu entwickeln- den Medien andererseits ausgeht. Neben diesen theoretischen Grundlagen kommen auch die Merkmale und Praktiken der Social Media und des Web 2.0 zur Sprache, indem etwa mit den Leitbegriffen Hypertextualität und Interaktivität die Besonderheiten der Kommunikation herausgestellt werden. Damit sind theoretische und begriffliche Fundamente gelegt, die für das weitere Verständnis der Arbeit unverzichtbar sind. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf die strategischen Prozesse sozialer Interaktionen innerhalb von Facebook. Zunächst werden Architektur, Funktionsweise und B esonderheiten dieses sozialen Netzwerks akribisch vorgestellt, so dass diejenigen, die mit dieser Plattform selbst nicht vertraut sind, sich dennoch ein gutes Bild von ihrer spezifischen Funktion machen können. Bei der Analyse von Facebook unterstützen vier in die Arbeit eingewobene Porträts, die jeweils unterschiedliche Arten der Profilgestaltung und Nutzung repräsentieren. Diese Porträts gründen auf offenen Interviews, die die Vfn. mit drei Nutzerinnen und einem Nutzer – allesamt akademisch ausgebildet und im universitätsnahen Bereich tätig – geführt hat. Die Vfn. ist sich bewusst, dass mit dieser Auswahl »kein repräsentativer Anspruch« (38) verbunden ist. Dennoch »dienen sie der Pointierung und Veranschau lichung möglicher Nutzungs- und Selbstdarstellungspraktiken auf Facebook« (38). Diese und viele andere Facebook-Profile nutzen eine besondere Form der visuellen Selbstdarstellung, indem nämlich oft auf ein eindeutiges Porträtfoto als Profilbild verzichtet und sich somit für eine sichtbare Selbstverhüllung entschieden wird. Damit kommt das sozialpsychologische Spiel von Nähe und Dis­tanz bei der Selbstpräsentation anschaulich zum Ausdruck.
Im dritten Kapitel entfaltet die Vfn. zunächst die Strukturen und Dynamiken der Darstellung und der Nicht-Darstellbarkeit personaler Identität anhand der identitätstheoretischen Begrifflichkeit von George Herbert Mead, Erving Goffmann und Lothar Krappmann. Vor diesem Hintergrund wird dann eine theologische Perspektive eröffnet, in der als Referenz die Anthropologie von Wolfhart Pannenberg zur Sprache gebracht wird. Sie bietet auch den Ausgangspunkt für die Entwicklung einiger Impulse der Vfn. für die weitere theologische Auseinandersetzung mit dem Feld der Social Media. So werden beispielsweise Hinweise für die Reformulierung dogmatischer Aussagen zur Geschöpflichkeit des Menschen gegeben, indem »die Nicht-Darstellbarkeit personaler Identi tät als Zentrum eines christlichen Menschenbildes hervorge-hoben und mithilfe des Geheimnisbegriffs als Möglichkeit der Sinnzuschreibung sowie der Handlungsorientierung für soziale Interaktionen in Social Media entfaltet« wird (329).
Die Vfn. hat sich in ihrer interdisziplinär angelegten Arbeit mit einer für die Theologie innovativen Thematik beschäftigt und damit eine »Sonderwelt« der modernen Mediengesellschaft für die theologische Forschung kompetent erschlossen. Die Beschäftigung mit der digitalen Lebenswelt setzt für die systematischen und praktisch-theologischen Fächer der Theologie unterschiedliche Impulse frei, die den Menschen mit seinen kommunikativen Bedürfnissen ansprechen und ihn in der modernen Mediengesellschaft verorten. Etwas ungewöhnlich ist, dass die zusammenfassenden Thesen der Arbeit bereits zu Beginn im Vorwort platziert werden und nicht erst am Ende der Studie. Für eine chronologische Rezeption wäre eine andere Anordnung vermutlich zweckmäßiger gewesen. Mit Blick auf die analysierten Porträts hätte man sich mehr Pluralität gewünscht, da die ausgewählten Personen doch eher einem einheitlichen Milieu angehören. Insgesamt bietet die s pannende Dissertationsschrift der Vfn. aber eine instruktive Grundlage, auf der weitere medien- bzw. kultursoziologische so­wie theologische Arbeiten, durchaus auch mit einer empirischen Akzentuierung, aufbauen können, um so das weite Feld der Social Media mit neuen Fragestellungen in den Blick zu nehmen. Denn auch in der Zukunft werden unsere Gesellschaft und vor allem die nachwachsenden Generationen mit der digitalen Lebenswelt konfrontiert werden. Das Buch legt hierzu ein informatives Fundament.