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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

691–694

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Häde, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Anschuldigungen und Antwort des Glaubens. Wahrnehmung von Christen in türkischen Tageszeitungen und Maßstäbe für eine christliche Reaktion.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. XIV, 296 S. = Beiträge zur Missionswissenschaft/Interkulturellen Theologie, 38. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-13679-4.

Rezensent:

Markus Roser

Der Autor, Wolfgang Häde, ist Dozent am Martin Bucer-Seminar und kirchlicher Mitarbeiter in der Türkei. Die angezeigte Monographie ist die stellenweise aktualisierte Version einer 2015 an der »Uni-versity of South Africa« (UNISA) eingereichten missionswissenschaftlichen Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades. Auslöser für die wissenschaftliche Arbeit waren die persönliche Betroffenheit aufgrund von Beschuldigungen gegen Christen und das Massaker in der osttürkischen Stadt Malatya am 18. April 2007, bei dem zwei türkische Christen und ein deutscher Christ getötet wurden. Eines der Opfer, Necati Aydin, war Schwager der türkischen Frau des Autors.
Einerseits nimmt die Türkei aufgrund der kemalistischen Mo­dernisierung nach westlichem Vorbild, streng laizistischem Sys-tem gegen den politischen Einfluss des Islam, institutionalisierter Westbindung und Religionsfreiheit eine Sonderstellung unter den Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit ein, während andererseits Vorurteile über und Abneigung gegen Christen gerade in der Türkei außergewöhnlich stark sind. Die vorliegende Studie untersucht anhand von fünf türkischen Tageszeitungen im Zeitraum von Anfang November 2004 bis Ende Januar 2005 das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den christlichen Minderheiten. Sie will die Beschuldigungen sowohl gesellschaftspolitisch verstehen und einordnen als auch den Christen als beschuldigter Minderheit biblisch-theologisch begründete Reaktionsmuster für das Leben in einem mehrheitlich von einem anderen Glauben geprägten Land entwickeln. Besonderer Referenzpunkt ist dabei der erste Petrusbrief, der deutliche Parallelen zur geschilderten Situation der Christen in der heutigen Türkei aufweist. Dabei geht H. von Verleumdungen und gesellschaftlicher Ausgrenzung aus, nicht aber von groß angelegten systematischen staatlichen Verfolgungen.
Die geschichtlichen Hintergründe zur Wahrnehmung von Christen im Osmanischen Reich und in der heutigen Türkischen Republik (21–88) werden von H. breit erläutert. Er spannt dazu einen weiten Bogen, stellt positive und negative Aussagen über Christen im Koran nebeneinander, skizziert die klassischen theologischen Kontroversthemen zwischen Christen und Muslimen, beleuchtet den Status der Christen als Dhimmi im frühen Islam, erinnert an die Kreuzzüge und stellt christliche Türken und nichtsunnitische Muslime einander gegenüber, bevor er auf die Lage und Funktion des Osmanischen Reiches eingeht. Besondere Beachtung schenkt er dem von den Osmanen nach der Eroberung Konstantinopels 1453 eingerichteten Millet-System. Da Christen Missionsarbeit unter Muslimen streng untersagt war, konzentrierten sich protestantische Missionen auf Bildungsarbeit, was ihnen später angesichts des Zerfalls des Osmanischen Reiches als Infizierung weiter Bevölkerungsschichten für westliches Gedankengut zum Vorwurf gemacht wurde. Während des Befreiungskrieges und in der jungen Republik war der entstehende Nationalismus in ethnischer Homogenität nicht mit dem osmanischen Millet-System
vereinbar. Es kam nicht nur zur zahlenmäßigen Abnahme von Christen aufgrund von Deportation, Bevölkerungstausch und Ge­nozid, sondern auch zu zunehmender Feindschaft gegenüber Chris-ten. »In der stark islamisch geprägten Türkei erweisen sich die Vorgaben des Islam für die Beurteilung von Christen weiterhin als wirksam. Selbst viele Menschen, […] sind vom koranischen Bild der Christen beeinflusst, demzufolge Christen als den Muslimen untergeordnet und vor allem als Rebellen gegen Gottes Willen und böswillige Lügner in Bezug auf den islamischen Propheten dargestellt werden.« H. sieht hier einen bis heute nicht wirklich abgeschlossenen Prozess osmanischer bzw. türkischer Identitätssuche (88).
Um für seine Studie die wichtigsten soziopolitischen Milieus der Türkei abzubilden, bevorzugt H. repräsentative meinungsbildende türkische Tageszeitungen (89–113). Für das laizistisch-kemalistische Milieu lag die Wahl der Cumhuriyet als Vertreterin dieser von Atatürk begründeten und lange staatstragenden Strömung nahe. Um die demokratisch-liberal geprägte Bevölkerungsgruppe abzubilden, wählte er nicht die auflagenstärkste Hürriyet, sondern die im Untersuchungszeitraum angeblich tiefergehende und in­tellektuellere Milliyet. Hinsichtlich des ultranationalistischen Mi­lieus entschied er sich für die akzentuiertere Yenicag. Für die islamistische Ideologie des Millî Görüs legte sich die Wahl der Millî Gazete nahe und für den gemäßigten Islamismus die Yeni Safak, welche als Sprachrohr des einflussreichen in den USA lebenden Fe-thullah Gülen gilt. Anhand eines detaillierten und differenzierten Fragekataloges wertete er die Zeitungen im Untersuchungszeitraum mehrfach aus.
Seine Auswertung (115–160) stellt drei Grundkategorien heraus, eine positive, kritische und demokratisch-tolerante Sicht von Chris­ten, die aber jeweils noch in weitere Unterpunkte ausdifferenziert werden. Yenicag präsentiert eine durchgängig negative Bewertung des Christentums, die als selbstverständlich vorausgesetzt wird. »Missionstätigkeit wird für die Türkei als terroristischer Akt […] mit dem letztendlichen Ziel, Anatolien von den Türken zu reinigen« bezeichnet (119). Ähnliche Vorwürfe unterbreitet Millî Gazete. Kritik wird am christlich-islamischen Dialog als Teil eines neuen Kreuzzuges geübt. Außerdem werden stereotyp vermeintliche Irrtümer aufgelistet wie z. B. der Glaube an Jesus als den Sohn Gottes, die Dreieinigkeit, die Ablehnung von Mohammed und Koran durch die Christen etc. Das Ziel christlicher Missionstätigkeit sei es, »unser Land zu christianisieren, indem sie sicherstellen, dass seine nationalen und geistigen Werte in der westlichen Kultur verloren gehen und von den Werten des türkischen Volkes nichts übrigbleibt.« (131) H. arbeitet auch heraus, dass die Zeitungen den christlichen Missionaren immer wieder unethisches Verhalten vorwerfen, wie z. B. der Einsatz attraktiver Mädchen zum Verteilen von Neuen Testamenten, die Unterstützung kurdischer Nationalisten, Versprechungen von 5.000 $ bei Konversion, das Ausnützen von Not-lagen oder Überredung und Suggestion (135). Eine ähnliche Ar-gumentation vertrete auch Yeni Safak. Immer wieder würde die Kreuzzugstheorie bemüht. Allerdings würde dieser Kampf als ein Abwehrkampf des Westens gegen den vorrückenden Islam wahrgenommen. »Es gelte zu verhindern, dass die Türkei sich die Ansprüche der islamistischen Gesellschaft zu eigen macht, und die Wahrscheinlichkeit zu beseitigen, dass die Welt, insbesondere die westliche Welt, in Massen islamisch wird.« (144) Etwas moderatere Töne schlägt Milliyet an. Es fänden sich dort zwar kaum positive Seiten des Christentums, aber häufigere Bekenntnisse zur Toleranz. Die Kritik am Christentum sei unterschwelliger. Die Cumhuriyet bliebe dem laizistischen Paradigma treu. Kritik würde hier weniger am Christentum, sondern generell am Westen oder am Kapitalismus geübt.
Verstehensversuche zur Perspektive der Beschuldiger (171–196) sind für H. die Grundlage, um Empfehlungen für angemessene Re­aktionen seitens der Beschuldigten zu formulieren, wie sie mit den Vorwürfen umgehen können. Als ideologische Gründe be­schreibt er die laizistisch-kemalistische und die türkisch-islamische Ideologie sowie den Islamismus. Als historisch-politische Gründe nennt er den Nation-Building-Prozess, die Türkifizierungspolitik, Propagandazwecke, historische Traumata, Instrumentalisierung der Ge­schichte und Verschwörungstheorien. Als psychologisch-soziolo-gische Gründe führt er das Gefühl der Bedrohung durch Fremde, Vorurteile und Feindbilder sowie Minderwertigkeitsgefühle an. Theologisch interessant sind die im Kontext vorfindlichen christlich-theologischen Interpretationen wie Christus als Grund des Widerspruchs, dämonologische Aspekte sowie der Heilsplan Gottes.
Referenzpunkt hinsichtlich eines angemessenen Umgangs (197–268) mit den Anschuldigungen ist der bereits eingangs ge­nannte
1. Petrusbrief mit den drei Hauptalternativen Flucht, Aushalten oder öffentlicher Einsatz. Zentral für die Apologetik ist der Vers: »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist« (1Petr 3,15). Als angemessene Haltung, um auf Beschuldigungen zu reagieren, bringt H. nicht nur die Verteidigung der Glaubensinhalte ins Gespräch, sondern betont auch die missionarische Wirkung des christlichen Glaubens. Selbstverständlich gelte bei zutreffenden Be­schuldigungen Buße und Umkehr als angemessene Reaktion. Keinesfalls sollten Beschuldigungen ignoriert werden. Grundsätzlich gelte als Korrektiv der gesunde Menschenverstand. Hinsichtlich der Vorwürfe gegen Missionstätigkeit sei es wichtig, an his-torischen Klarstellungen, einem Ethikkodex für Mission, Abwehr falscher Definitionen christlicher Identität, guter Lebensführung, ge­duldigem Ertragen und interreligiösem Dialog festzuhalten. Grundsätzlich sei jedoch der Missionsauftrag Jesu Christi nicht verhandelbar. H. schließt mit der Verheißung: »Wenn sich die Christen in der Türkei in ihrer Reaktion auf schwerwiegende An­schuldigungen und Infragestellungen im Gewisssein dieser Identität durch die biblischen Maßstäbe für christliches Verhalten leiten lassen, dann wird nach neutestamentlicher Verheißung auch für die Gemeinde Jesu in diesem großartigen Land gelten, dass selbst die Pforten der Hölle (Mt 16,18) sie nicht überwältigen können.«
Angesichts der gegenwärtigen Situation in der Türkei sind die Anschuldigungen gegen Christen in türkischen Tageszeitungen hoch aktuell. Die Monographie H.s ist nicht nur deshalb eine lesenswerte Studie, sondern auch mutmachend und wegweisend all denen, die ähnlichen Situationen ausgesetzt sind.