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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

647–648

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lepp, Claudia

Titel/Untertitel:

Wege in die DDR. West-Ost-Übersiedlungen im kirchlichen Bereich vor dem Mauerbau.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2015. 224 S. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-8353-1735-2.

Rezensent:

Benedikt Brunner

Der Klappentext des hier zu besprechenden Buches lässt es sich nicht nehmen, auf den bekanntesten Fall einer West-Ost-Übersiedlung eines Pfarrers hinzuweisen, nämlich auf Horst Kasner, den Vater der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wohl zu Recht wird dort konstatiert, dass es aber bislang wenig belastbare Informationen über das Ausmaß und die konkreten Motive und Abläufe dieser Übersiedlungen gibt. Diesen Mangel hat die Münchener His-torikerin Claudia Lepp, so viel kann schon vorweggenommen
werden, überzeugend beseitigt. Sie folgt dabei dem bewährten me­thodischen Ansatz, den Christoph Kleßmann schon vor fünfzehn Jahren entwickelt hat: den der asymmetrisch verflochtenen Beziehungs- respektive Parallelgeschichte. Sie möchte dabei die West-Ost-Migration sowohl als einen sozialen als auch einen individuellen Prozess in den Blick nehmen: »Überindividuelle Wirkungszusammenhänge und Bestimmungsfaktoren werden ebenso berücksichtigt wie Individualverfahren.« (18)
Dementsprechend ist ihre Studie auch aufgebaut. Im ersten Kapitel skizziert L. die Ursachen für den Pfarrermangel in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur Gründung der DDR. Der zunehmende Mangel an Pfarrpersonen durch Migration in den Westen Deutschlands wog für viele ostdeutsche Stimmen vor allem deswegen schlimm, weil man auch hier zunächst noch erhebliche Rechristianisierungshoffnungen hegte. Das zweite Kapitel stellt dann die Politik der DDR gegenüber den kirchlichen Übersiedlern dar. Die Zeit bis zum Mauerbau lässt sich im Hinblick auf diese Thematik in drei Abschnitte einteilen. Bis zum Sommer 1952 wurde der Zuzug in die DDR staatlicherseits restriktiv reguliert, wovon auch die kirchlichen »Rückkehrer und Neuzuziehenden« (40) betroffen waren. Die Möglichkeiten in die DDR überzusiedeln wurden im Zuge der immer kirchenfeindlicheren Politik seit dem Sommer 1950 noch weiter eingeschränkt. Am 20. Februar 1951 entschied das Politbüro, dass im Westen ausgebildete Pfarrer »prinzipiell keine Zuzugsgenehmigung für die DDR« (44) erhalten würden. Der »Neue Kurs« in der Zuwanderungspolitik der DDR, der 1952 in Reaktion auf massive Abwanderung eingeleitet wurde, schlug sich im kirchlichen Bereich zunächst nicht nieder. Allein kirchlichem Pflegepersonal wurde der Zuzug gestattet, Pfarrer, Vikare und Kirchenpersonal blieben zunächst weiterhin ausdrücklich hiervon ausgenommen. Allein im Sommer und Herbst 1953 hat es, wie L. überzeugend rekonstruieren kann, eine kurze Phase gegeben, in der auch diesen ein Zuzug möglich war. Allerdings nahmen diese Möglichkeiten schon ab 1954 wieder ab, was durch das zunehmende Misstrauen des Staates gegenüber allen Übersiedlern zu erklären ist (vgl. 59 f.). Zudem begann man damit, einen Kontroll- und Überwachungsapparat aufzubauen. Die Verhinderung des Zuzugs kirchlichen Personals sollte aus Sicht der staatlichen Funktionäre vor »westlicher Einflussnahme« (62) schützen. Seit 1957 jedenfalls wurden so gut wie gar keine Zuzugsgenehmigungen mehr erteilt. Die restriktive Zuwanderungspolitik richtete sich nicht gegen den Einzelnen, sondern war, wie L. überzeugend nachweisen kann, gegen die Institution Kirche gerichtet und folglich ein Instrument der SED-Kirchenpolitik.
Das dritte Kapitel behandelt dann die Haltung der Kirchen zur West-Ost-Wanderung, die entsprechend auf die sich häufig verändernden Rahmenbedingungen der Kirchenpolitik in der DDR reagieren mussten. L. macht dabei zahlreiche wichtige und spannende Beobachtungen. So war man beispielsweise auf Seiten der ostdeutschen Landeskirchen keineswegs bereit, jeden aufzunehmen, der aus dem Westen geschickt wurde. Instruktiv ist auch die Analyse der kirchlichen Versuche, mit der DDR über den Zuzug zu verhandeln, was sich allerdings anhaltend schwierig gestaltete. Die kurze Phase der erleichterten Zuzugsbedingungen jedenfalls versuchten die Landeskirchen intensiv zu nutzen und ermutigten mögliche Kandidaten, einen neuerlichen Antrag zu stellen, ehe die Jahre bis zum Mauerbau dann vom kirchlichen Protest gegen die Zuzugssperre geprägt waren. Ein kurzes viertes Kapitel referiert dann die besondere Situation der Enklaven westdeutscher Landeskirchen auf dem Gebiet der DDR; neben der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg waren hiervon die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Braunschweig sowie die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers betroffen.
Besonders gelungen ist das fünfte Kapitel, in welchem die Übersiedler selbst in den Mittelpunkt gestellt werden. Aus migrationsgeschichtlicher Sicht ist dieses Kapitel, wie im Grunde die Studie insgesamt, mustergültig. Nach einer kurzen Analyse der Ausgangs- und Aufnahmegesellschaften untersucht sie zunächst die Neuzuziehenden, dann in einem weiteren Abschnitt die Rückkehrer. Dabei geht sie folgenden Themen auf den Grund: dem Umfang, Phasenverlauf und regionalen Schwerpunkten der Migration sowie deren soziodemographischem Profil. Anschließend geht sie der Frage nach der Motivstruktur nach, sowie nach der Integration dieser Gruppe. Abschließend fragt sie nach den Rückwanderungen in die Bundesrepublik.
In ihrem Fazit nimmt L. Korrekturen an der Aussage Bernd Stövers vor, dass die Migration von West- nach Ostdeutschland keine »besondere« gewesen sei, sondern hier ähnliche Motivlagen wie bei allen Migrationsbewegungen vorherrschend gewesen seien. Die kirchlichen Ost-West-Migranten hingegen, so L., »unterschieden sich von den anderen Übersiedlern vor allem durch ihre Motive. Ihre Wanderungsentscheidung war nicht wirtschaftlich bestimmt; im Gegenteil nahmen sie zumeist eine wirtschaftliche Verschlechterung in Kauf« (185 f.). Umso suspekter waren diese Übersiedler der SED und den Sicherheitsorganen der DDR. Die vorliegende Studie wird abgerundet von einigen Tabellen und Diagrammen sowie einem Personenverzeichnis. Ihr ist eine gründliche Rezeption von Seiten der Forschung, die überdies auch zu weiteren Studien führen könnte, zu wünschen.