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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

437–452

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Raik Heckl

Titel/Untertitel:

Das Alte Testament – Grundlage christlicher Identität
Von der Entstehung der autoritativen Literatur des Judentums
zu einer Hermeneutik des Alten Testaments*

Was ist das eigentlich für Literatur, die wir die biblische Traditionsliteratur
nennen? Welche Absichten hat man mit ihr ursprünglich
verfolgt? Und wie ist diese Literatur zur theologischen Grundlage
von Judentum und Christentum geworden? Die meisten
biblischen Bücher erlangten in einer vielschichtigen Literargeschichte
in der persischen und hellenistischen Zeit die uns vorliegende
Gestalt. Dieser Prozess mündet in die allmähliche Herausbildung
des dreiteiligen Kanons der Hebräischen Bibel. Parallel zu
dieser literarischen Geschichte formierte sich das frühe Judentum
in der Form, wie es bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels existierte.
Da auch die neutestamentlichen Schriften parallel der Formierung
des frühen Christentums entstanden, sind übergreifende
hermeneutische Überlegungen zur Normativität der biblischen
Schriften für die christliche Kirche möglich.
N. Slenczka hat unlängst die normative Geltung des Alten Testaments für die
heutige Kirche in Frage gestellt. Er gesteht ein, dass die alttestamentlichen Schriften
eine große Bedeutung für das frühe Christentum hatten, doch verweist er
auf die enge Bindung der Inhalte der Hebräischen Bibel an das Judentum und
sieht sie daher als »Identität stiftende Urkunde einer anderen Religionsgemeinschaft
«1 an. Im frühen Christentum habe die christologische Interpretation den
Gebrauch der jüdischen Bibel legitimiert. Mit dem Verzicht auf eine solche Hermeneutik
aufgrund des Einflusses der historisch-kritischen Exegese und aufgrund
der »Anerkennung des Selbstverständnisses des Judentums als Volk eines
Bundes«2 im christlich-jüdischen Dialog ergebe sich aber, »dass wir den Texten
des AT in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den
Texten des NT zuerkennen«3. Slenczka regt daher an, der Einschätzung A. v. Harnacks
zu folgen, dass die alttestamentlichen Texte keinen »kanonischen Rang
verdienen«4. Momentan wird einer solchen Infragestellung der Bedeutung der
alttestamentlichen Schriften entgegengehalten, dass diese bei der Herausbildung
der neutestamentlichen Texte selbstverständliche Grundlage gewesen seien.5Doch es stellt sich nicht nur die Frage, welche Bedeutung die zunächst jüdischen
Texte im jüdischen Kontext hatten, sondern auch, welche Rolle sie bei der Herausbildung
des Christentums gespielt haben und wie sich aufgrund dessen die
neutestamentlichen Schriften zu ihnen verhalten.

1 Zum Charakter der biblischen Traditionsliteratur

Die biblischen Bücher als Ergebnisse einer längeren Traditionsund
Literargeschichte wurden allmählich zu autoritativen Texten,
was an der textlichen Überlieferung und an den literarischen Querbeziehungen
ablesbar ist. Keinesfalls dürften die biblischen Texte
während ihrer Entstehung bereits allgemein als autoritativ akzeptiert
gewesen sein. Ein Kanon, der ständig wächst, ist keiner.6Doch
gerade das wird von einigen Verfechtern der traditionellen philologischen
Methodik (Literarkritik und Redaktionskritik) dennoch
behauptet:
»Den alttestamentlichen Büchern kam nicht erst in ihrer ›kanonischen‹
Endgestalt, sondern beinahe von Beginn an – also noch im Vorgang ihres
Entstehens – eine besondere religiöse Dignität zu. Sie gewannen bereits in
statu nascendi normativen Charakter, so daß im Vollzug der redaktionellen
Fortschreibung das Vorgegebene, die Tradition, nicht einfach ›weggelassen‹
werden konnte.«7
U. Becker verweist zur Bestätigung seiner These auf die Kanonformel
im Deuteronomium.8 Diese dient offensichtlich dazu, den
konkreten Wortlaut zu sichern:9:
לא תספו על־הדבר אשר אנכי מצוה אתכם ולא תגרעו ממנו
»Ihr sollt nichts hinzufügen zu der Sache, die ich euch befehle, und ihr sollt
nichts wegnehmen davon.« (Dtn 4,2a; vgl. 13,1)
Aus der Formulierung lässt sich aber eher das Gegenteil schlussfolgern,
denn sie ist ein Zeugnis dafür, dass man am Buch Deuteronomium
zu der Zeit, als man mit ihr den Wortlaut sichern wollte,
noch Veränderungen vorgenommen hat. Andernfalls wäre die Formel
nicht zur Anwendung gekommen. Doch in dem Buch kommt
sie in zwei auch literarhistorisch zu unterscheidenden Kontexten10
sowie partiell in Dtn 5,22 in einem weiteren vor, so dass man die
Inhalte des Buches offensichtlich mehrfach gegen ein Supplementieren
zu schützen suchte und das offensichtlich ohne Erfolg. Man
beanspruchte mit der Kanonformel für das Deuteronomium zwar
höchste Autorität, doch zeigt die Thematisierung der Integrität des
Textes, dass Wortlaut und Autorität des Buches noch nicht gesichert
waren. Die Annahme, dass die Texte schon von Anfang an als
quasi-kanonisch akzeptiert gewesen seien, ist eine dem biblischen
Befund widersprechende Hilfskonstruktion, die die Berechtigung
des seit der frühen Neuzeit praktizierten Zugangs zur Literargeschichte
gewährleisten soll. Nur wenn die »tradition […] fundamentally
sacrosanct« war, kann man »work on the text like an ar -
chaeologist« und nur dann »one can in each instance expect to come
upon an older, intact form of the text.«11 Es handelt sich um eine
ad-hoc-Hypothese. Andere Exegeten gehen nicht so weit und nehmen
stattdessen lediglich an, dass die Texte ursprünglich nur für
die Bibliothek oder den Gebrauch in kleinen Zirkeln geschaffen
wurden, was spezielle Prozesse der Abfassung möglich gemacht
habe.12
Wenn die Schriften der Hebräischen Bibel aber weder am An -
fang noch über weite Strecken im Verlauf ihrer Literargeschichte
als autoritative Texte galten, welche Rolle haben sie gespielt? Ein
wichtiger Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage ergibt sich
im Blick auf die bereits erwähnte Kanonformel. Um den Text zu
sichern, nutzte man die Autorität des sprechenden Mose.13 Moseverbietet scheinbar schon selbst, die von ihm präsentierten Inhalte
zu verändern.14 Er ist im Buch durchgängig als Sprecher gewählt,
um die Relevanz der enthaltenen Gebote und Unterweisungen für
die Adressaten herauszustellen. Im dtn Gesetz wird damit eine Vorstufe
der jüdischen Pseudepigraphie entwickelt.15 Man nutzt eine
akzeptierte Autorität, in diesem Fall jene der literarischen Figur
Mose, um dem Buch bei seinen Adressaten Autorität zu verleihen.16
Auf diesem Wege suchte man, den intendierten Adressaten gegenüber
die Inhalte zu plausibilisieren. Im Umkehrschluss bedeutet
das, dass weder die Kanonformel noch die Inhalte des Deuteronomiums
unter den intendierten Adressaten – also unter den Israeliten
bzw. Judäern zwischen dem späten 7. Jh. v. Chr. und der frühen
Perserzeit – von vornherein akzeptiert waren.17
Diese Entwicklung lässt sich in vielfältiger Weise in der hellenis
tisch/römischen Zeit weiter verfolgen, in der sich die zum dreiteiligen
Kanon der Hebräischen Bibel gehörenden Bücher allmählich
als autoritativ durchsetzten.18 In jener Zeit sucht man neue
Texte gegenüber oder neben den bereits akzeptierten älteren Texten
zu legitimieren.19 In der Tempelrolle nutzt man die »unvermittelte
Gegenwart der Stimme Gottes am Sinai«20, während Mose
im Jubiläenbuch aus den himmlischen Tafeln diktiert wird.21 Die
Beispiele ließen sich mit den in vielen weiteren Texten der entstehenden
jüdischen pseudepigraphen Literatur vermehren. Daneben
tritt die Auslegungsliteratur, die sich an die etablierten Texte
anheftete und deren Autorität unterstrich.22
Im Pentateuch und in den anderen Erzähltexten werden zur
Vermittlung von Inhalten unterschiedliche Mittel angewendet.
Durchgängig kann man feststellen, dass wir es mit intentionaler
Literatur zu tun haben. Es handelt sich häufig um programmatische
Texte, mit denen man auf das Selbstverständnis der Adressaten
und auf die von ihnen praktizierte Religion einwirken wollte.23
Weil die biblische Traditionsliteratur über Generationen entstanden
ist, an den biblischen Texten immer wieder gearbeitet
wurde, immer neue Fassungen hervorgebracht wurden und weil in
den Texten um Akzeptanz bei den Lesern/Hörern gerungen wird,
ermöglicht eine Berücksichtigung der für die Entstehung und Literargeschichte
verantwortlichen kommunikativen Prozesse wertvolle
kulturgeschichtliche Einsichten. Die Literargeschichte der
biblischen Texte bietet so einen – in kaum einem anderen antiken
Kontext in dieser Weise zugänglichen – umfassenden Einblick, wie
in der Antike generationenübergreifende Kommunikation mit
Texten praktiziert wurde. Nicht nur die Intention der Texte, sondern
die antike Rezeption und ihre tatsächlich ausgeübte Wirkung
werden so zugänglich, sondern es wird auch deutlich, wie man
damals Texte verstanden wissen wollte und wie man sie verstanden
hat.24 Den komplexen Prozessen und der sich von Textfassung zu
Textfassung verändernden Intentionalität der Texte entsprichtmethodisch am ehesten ein diskursanalytischer Ansatz der Exegese,
denn die zu analysierenden biblischen Texte sind Teil von
antiken Diskursen gewesen und müssen daher als Diskursfragmente
angesehen werden.25
Über die Intentionalität der Texte, über die enthaltenen Präsuppositionen,
vor allem aber aufgrund der in den Texten enthaltenen
hermeneutischen Strategien können Rückschlüsse auf die Diskurse
gezogen werden. Diese haben in den Texten sowohl Harmonisierungen
als auch Korrekturen notwendig gemacht. Konzeptionelle
Innovationen mussten vermittelt werden. Die Rezeption der
Vorlagen in neuen Fassungen und anderen späteren Texten ermöglicht
es, die entsprechenden Veränderungen in den Diskursen zu
verfolgen. In einem allmählichen Prozess haben sich bestimmte
Positionen durchgesetzt, andere sind zurückgedrängt oder gar ausgegrenzt
worden. Entsprechend legt das diskursanalytische Modell
die Metapher aus der Sprachwissenschaft nahe, die D. Boyarin für
die Abgrenzung von Judentum und Christentum nutzt.26 Boyarin
spricht von religiösen Dialekten, die sich im Zuge einer fortschreitenden
Differenzierung zu Sprachen weiterentwickelten.27 In
einem solchen Prozess von sich verändernden Diskursen sind die
Schriften der Hebräischen Bibel in einem kreativen Prozess der
Rezeption, Reproduktion, Kontrastierung und Abgrenzung herausgebildet
worden.28 Als autoritativ wurden sie erst akzeptiert, als
sich die in den Texten enthaltenen Konzepte der Identität, aber
auch die propagierten Formen der Gottesbeziehung durchgesetzt
hatten.29 In ähnlicher Weise dürfte für die neutestamentlichen
Texte gelten, dass sie einen entscheidenden Beitrag bei der Formung
der christlichen Identität gespielt haben.30

2 Der Prozess der Herausbildung autoritativer Texte
und Korpora in Israel

Die Literargeschichte der meisten biblischen Bücher vollzog sich
über lange Zeiträume. Dennoch kann man bezogen auf den Ab -
schluss der Bücher und auf ihre Akzeptanz zwischen der spätvorexilischen
und der hellenistischen Zeit drei Phasen im Prozess der
Herausbildung autoritativer Texte und Textkorpora unterscheiden,
die der Herausbildung des dreiteiligen Kanons der Hebräischen
Bibel den Weg bereitet haben. Mit der ersten befinden wir
uns zwischen der spätvorexilischen und der frühnachexilischen
Zeit als der Epoche, in der die Grundlagen der jüdischen Identität
gelegt wurden und das Exil aufgearbeitet wurde (Formationsphase ).
Die zweite Phase vollzog sich in der Perserzeit. Ich sehe in ihr eine
religiöse und nationale Konsolidierung als bestimmend an. Eine
dritte Phase folgt in der hellenistischen Zeit, in der sich die Identitäten
stärker in der Abgrenzung formten.
In der ersten Phase entstanden das Deuteronomium und die dtr
Literatur. Eine entscheidende Rolle spielte dabei bereits die Figur
des Mose. Diese wurde genutzt, um die Inhalte des Deuteronomiums
mit Autorität zu versehen, und indirekt wirkt sich das auch
auf die dtr Geschichtsbücher aus. Mit Mose als Sprecher der Reden
des Deuteronomiums begründete man eine innovative Form der
Gottesbeziehung. Er trägt sie auf der literarischen Ebene ganz Israel
als Hörerschaft vor, aber sie sollen von den intendierten Adressaten
des spätvorexilischen und später des exilischen Israels akzeptiert
werden. Mit den dtn Reden, den enthaltenen erzählerischen
und paränetischen Abschnitten sowie Gesetzen suchte man, verschiedenste
Inhalte zu vermitteln. Dabei handelt es sich offensichtlich
um Neuerungen gegenüber älteren Erzählüberlieferungen
und gegenüber älteren Gesetzessammlungen. In dem generationenübergreifenden
Diskurs über die Form der Religiosität und
die kultischen Praktiken, der sich im Deuteronomium niedergeschlagen
hat, spielte das Heiligtum von Jerusalem eine entscheidende
Rolle. Aus dessen Perspektive wird eine bestimmte Form der
Religionspraxis propagiert. Damit richtete man sich religionskritisch
auch gegen andere Formen der Religion – gegen das, was J.
Assmann als primäre Religion bezeichnet. Mythen, andere Götter
und andere Orte werden abgelehnt und entsprechende religiöse
Praktiken als ein Abfall vom Gott Israels beurteilt. An dieser Stelle
bestätigt sich eine weitere Überlegung von D. Boyarin, der in An -
schluss an W. Bauer im Prozess der Abgrenzung von Judentum und
Christentum davon ausgeht, dass der Orthodoxie in gewissem Sinne
die Häresie vorausgegangen sei.31 Offenkundig wird einer religiösen
und kultischen Vielfalt das im Deuteronomium entwickelte
Konzept entgegengestellt. Um dieses zu plausibilisieren und
eine allgemeine Akzeptanz zu erreichen, wurden die Inhalte vermittels
der Figur des Mose am Anfang der Geschichte Israels platziert.
Im Fortgang konnte das Buch deshalb bei der Verarbeitung
des Exils wichtig werden, indem die Katastrophe als Strafe für
Ungehorsam gegen den Gotteswillen, wie er im Buch Deuteronomium
formuliert ist, verstanden wurde.32
Das Konzept des Deuteronomiums war erfolgreich, und es wurde
als Autorität akzeptiert.33 Dafür spricht, dass es später – wenn
auch in teilweise transformierter Form – als eigenständiger Text im
größeren Kontext des Pentateuchs erkennbar gelassen worden ist.
Dafür spricht ebenfalls, dass eine ganze Reihe von biblischen Bü -
chern entstanden ist, die sich auf das Deuteronomium als religiösen
Maßstab beziehen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um
die Bücher des sogenannten dtr Geschichtswerkes und um eine
Reihe als dtr Literatur erkennbare Prophetenbücher.In der zweiten sich anschließenden Phase der nachexilischen
Zeit ist der Pentateuch entstanden und abgeschlossen worden. Das
Deuteronomium wurde dabei als Sondertext an das Ende ge stellt.34
Seine Aufnahme ist meiner Ansicht nach charakteristisch für das
literarische Konzept des Pentateuchs insgesamt, denn dieser vereint
ältere, am Stil und Inhalt erkennbare, literarische Traditionen
mit jüngeren priesterlichen Abschnitten, wobei die jüngeren den
Rahmen der älteren bildeten und die hermeneutischen Strategien
erkennen lassen, wie die rekontextualisierten Inhalte von den Le -
sern des Gesamttextes verstanden werden sollten. Wie auch immer
man die Frage nach dem Ursprung der priesterlichen Texte des
Pentateuchs und ihrer Diachronie beantwortet – ob man in ihnen
eine unabhängige Quelle oder einen Zusammenhang sieht, der
für die Herstellung der uns vorliegenden Komposition des Pentateuchs
entstanden ist –, sie enthalten die dominanten Positionen
des abgeschlossenen Pentateuchs.35 In ihnen finden sich entsprechend
auch die Schlüsselstellen, an denen die Intentionalität deutlich
wird: In den spätesten Abschnitten des Deuteronomiums, die
zum Horizont des Pentateuchs gehören (Dtn 4; 31), wird bspw.
deutlich, dass man das ursprünglich unabhängige Deuteronomium
als Teil eines größeren Ganzen – des Pentateuchs – verstanden
wissen wollte.36
Das Konzept der priesterlichen Texte ist maßgeblich davon ge -
prägt, dass in den Büchern Exodus bis Numeri der Leser-/Hörerschaft
Einblick gewährt wird in die Kommunikation zwischen
Jhwh und Mose. Die Inhalte werden als das, was Mose von Jhwh an
die Israeliten weitergegeben haben soll, präsentiert. Die wortwörtliche
Weitergabe des Gotteswillens sichert so die Autorität der Inhalte.
Allerdings standen die priesterlichen Autoren vor einem Dilemma,
denn das ältere Deuteronomium existierte bereits, und es war ja
den Lesern schon zuvor mit hohem Autoritätsanspruch präsentiert
worden. In ihm wurde ebenfalls behauptet, dass Moses Reden mit
dem Gotteswillen übereinstimmen. Eine besondere Herausforderung
dürfte gewesen sein, dass das ältere Deuteronomium bereits
weite Akzeptanz gefunden hatte, von der die dtr Geschichtsbücher
und die Prophetenbücher zeugen, die aus der Perspektive des Deuteronomiums
abgefasst, bearbeitet und abgeschlossen worden sind.
Die durch diese Literatur bewirkten literarischen Querbeziehungen
stellten die Bedeutung des Deuteronomiums dauerhaft sicher. Mose
als Sprecher und Mose als Urheber der deuteronomischen Gesetze,
diese Grundlage der dtn/dtr Konzeption konnte man daher nicht
übergehen. Um sich ihr gegenüber positionieren zu können und um
sie integrieren zu können, hat man eine neue hermeneutische Strategie
entwickelt: Dem Deuteronomium und den Reden des Mose
stellte man das Konzept der mosaischen Verfasserschaft an die Seite.
37 Diese Hermeneutik wurde bei der Abfassung des Pentateuchs
sukzessive entwickelt, und sie ist durchgängig auf das Deuteronomium
bezogen.38 Eine Reihe von Notizen, ausgehend von Ex 17,14,
lässt erkennen,39 dass man zunächst Einzeltexten und später größeren
Abschnitten die höhere Autorität des von Mose geschriebenen
Textes gegeben hat. Um die entsprechenden Texte und Konzepte des
Deuteronomiums, die nur als mosaische Rede überliefert waren, zu
relativieren, ließ man das ursprüngliche Deuteronomium als lediglich
perspektivische und partielle Sicht erscheinen. So entwickelte
man ein Konzept, wonach der ganze Pentateuch inklusive dem Deuteronomium
aus der Feder des Mose hervorgegangen sei.
Diese hermeneutische Strategie im priesterlich abgeschlossenen
Pentateuch entspricht de facto dem, was dieser auch als Komposition
leistet, denn er trägt Altes und Neues und dabei zum Teil
auch Disparates zusammen, verbindet es und harmonisiert zwischen
sich widersprechenden Traditionen. Ältere Überlieferungen
wurden vielleicht auch deswegen in ihm zusammengestellt, um
sie in dem Kontext des persischen Großreiches unter der anhaltenden
Situation des Fehlens eigenstaatlicher Institutionen zu erhalten.
Traditionen aus der Zeit der Eigenstaatlichkeit, geschichtliche,
mythische, gesetzliche und erzählerische Überlieferungen wurden
so in einem die Alleinverehrung Jhwhs betonenden und zugleich
universalistischen Gesamttext präsentiert. Dieser betonte die Präsenz
der Gottheit in der Mitte seines Volkes und im Kult.40
Das Ergebnis dieses Prozesses war ein größeres Korpus von Texten.
Die priesterlich abgeschlossenen Bücher des Pentateuchs sind
dabei wahrscheinlich sukzessive abgefasst worden, was man beispielsweise
im Verhältnis zwischen Levitikusbuch und Numeribuch
gut erkennen kann.41Die Texte, die in Dtn 31 der mosaischen
Autorschaft unterworfen werden, denen höchste mosaische Auto-rität zugeschrieben wurde, wurden später zum ersten Teil des
Kanons der Hebräischen Bibel.
Das Konzept der mosaischen Autorschaft war wiederum sehr
erfolgreich, wie man schon an der Rezeption der Tora in den übrigen
Büchern der Hebräischen Bibel erkennen kann. Dabei steigerte
sich die Bedeutung des Mose, der schon relativ früh auch
außerhalb Israels (vor 300 v. Chr. bei Hekataios v. Abdera) als Religionsgründer
galt. Hier hat die charakteristische rabbinische Hermeneutik
ihre Wurzel, wonach alle religiöse Literatur in mündlicher
und schriftlicher Tora auf Moses Begegnung mit Gott
zu rückgeführt wird.42 Den Abschluss dieser zweiten Phase der
Herausbildung der autoritativen Literatur bildet die Akzeptanz des
Pentateuchs als Grundlagentext und seine entsprechende Rezeption
und Interpretation. Dazu gehört, dass die Tora an den beiden
Heiligtümern in Palästina, in Jerusalem und auf dem Garizim, eingeführt
wurde und erste griechische Übersetzungen von ihr für die
Diaspora entstanden. Ihre Akzeptanz und Verbreitung muss auch
aufgrund ihres »enzyklopädischen« Anspruches die verarbeiteten
Vorlagen und die Kenntnis von ihnen allmählich verdrängt haben.
An die Konsolidierungsphase in der Perserzeit schließt sich eine
Phase der wachsenden Auseinandersetzungen innerhalb des Ju dentums
bzw. Israels an. Ihr Ausgangspunkt ist die gemeinsame Akzeptanz
des Pentateuchs in Juda und Samaria.43Mit der hellenistischen
Zeit entstanden aufgrund der veränderten Politik der hellenistischen
Herrscher und aufgrund der größeren Mobilität neue Möglichkeiten,
aber auch neue Herausforderungen für die Gemeinschaften.
Soweit man die verarbeiteten Texte des Esra-Nehemia-Buches
dafür als Zeugnisse heranziehen kann, scheint sich allmählich eine
Konkurrenz zwischen den beiden Heiligtümern entwickelt zu
haben.44Während in der Perserzeit noch ein Zusammenwirken der
Autoritäten von Jerusalem und Samaria bezeugt ist, werden bei Josephus
für die ptolemäische Zeit mehrfach gewaltsame Auseinandersetzungen
zwischen Samaria und Juda erwähnt.45 Darüber hinaus
ist für die Diaspora in Alexandria bezeugt, dass es dort ebenfalls Ausschreitungen
aufgrund des Streits um den Ort des Heiligtums gegeben
hat.46 Eine samaritanische Diasporagemeinde muss es im 2. Jh.
v. Chr. auch in Delos gegeben haben, wo Stiftungen für das Heiligtum
auf dem Garizim inschriftlich erwähnt sind. Im Verlauf der hellenistischen
Zeit haben sich offenbar die Konflikte zugespitzt. Das
uns vorliegende Esra-Nehemia-Buch ist Teil jener Diskurse um die
Akzeptanz des Heiligtums und um eine korrekte Auslegung der
Tora. Aus Jerusalemer Perspektive werden darin verschiedene hermeneutische
Strategien angewendet, um den Tempel in Jerusalem
als den Ort, der entsprechend Dtn 12 für das Heiligtum von Jhwh
erwählt wurde, zu erweisen. Dafür verlagert man die Geschichte der
Anfänge des Tempels und der Einführung der Tora nahe an den
Anfang der Perserzeit. Man lässt die persischen Könige als Zeugen
der Legitimität der Jerusalemer Ansprüche auftreten, und sogar die
samarischen Widersacher akzeptieren sie zunächst, indem sie am
Tempelbau mittun wollen und ihn nach ihrer Zurückweisung zu
verhindern suchen (Esr 4).47 Der Anspruch dieser jerusalemzentrierten
Ideologie des Esra-Nehemia-Buches bei der Auslegung insbesondere
der Zentralisationsgesetze des Deuteronomiums steht
noch eine Offenheit des Zeugnisses des Pentateuchs gegenüber, wo
keine Festlegung des Ortes getroffen wird. Dies geschah erst in der
späteren Auslegung von Deuteronomium und Pentateuch.48 Vor
dem ideologischen Konzept von Esra-Nehemia und auch der Chronik
waren natürlich die dtr Geschichtsbücher aus Jerusalemer Perspektive
verfasst. Doch auch sie hielten die Frage letztlich mit
ihrem Schluss in der Zerstörung des Ersten Tempels offen, denn
nach der Katastrophe und der Zerstörung des Heiligtums war die
Frage nach dem von Gott erwählten Ort zunächst noch ungeklärt,
weil auch die Kultgeräte, die in den dtr Geschichtsbüchern die Kontinuität
des Ortes sicherstellen, verloren gegangen waren. Erst in
der fortgeschrittenen hellenistischen Zeit – ich rechne mit der
Abfassung der Esra-Nehemia-Komposition in der Zeit nach der
Schlacht von Magnesia (190/189 v. Chr.)49 – wurde aus Jerusalemer
Perspektive die Kulttradition der Tora ausschließlich auf den Tempel
in Jerusalem bezogen. Was in Esra-Nehemia als literarisches
Programm formuliert ist, dürfte in der Hasmonäerzeit auch politisch
eine Rolle gespielt haben, so dass die Zerstörung des Tempels
auf dem Garizim durch Johannes Hyrkan den Schlussstrich unter
einen längeren Abgrenzungsprozess darstellt.
Der polemischen Ausrichtung der späten Texte aus Jerusalemer
Perspektive (besonders Esr/Neh) steht eine ähnliche Programmatik
auf samaritanischer Seite gegenüber. Dort werden zwar keine
Geschichtserzählungen hervorgebracht, um den exklusiven An -
spruch zu untermauern, doch die Kompilation des zehnten Gebotes
im Dekalog der Samaritaner und die damit zusammenhängenden
Sonderlesarten des samaritanischen Pentateuchs dürften aus
derselben Zeit stammen und ebenfalls in den damals aktuellen
Diskurs um das Heiligtum gehören.50 In ihm ging es um die Frage,
welcher der legitime Ort des Heiligtums ist und auf welchen Ort
die Tradition zielt, sowie um die Legitimität der jeweiligen Auslegung
des Pentateuchs. Er hat zur Herausbildung zweier Ge meinschaften
geführt: der Gemeinschaft der Samaritaner mit dem Garizim
und des Judentums mit dem Zweiten Tempel.
An die Seite des Pentateuchs traten im Jerusalemer Judentum
spezifische Traditionen und erlangten allmählich einen autoritativen
Rang. Dabei handelt es sich u. a. um die zum Teil früher entstandenen
dtr Geschichtsbücher, die im und nach dem Exil bearbeiteten
Prophetenbücher und um die mehr oder weniger polemischen
Bücher Chronik und Esra-Nehemia. Das antike Judentum
ging aus dem Diskurs um den Ort ebenso hervor wie das umfangreichere
Textkorpus des dreiteiligen Kanons der Hebräischen Bibel,
wobei beides auf dem bereits akzeptierten Grundlagentext des Pentateuchs
beruhte.51Das führte auch zu einer Verfestigung des spannungsvollen
Gegenübers mit den Samaritanern. Das Judentum undsein Textkorpus sind in einem zusammenhängenden Prozess entstanden.

3 Der Zusammenhang zwischen der Herausbildung der neutestamentlichen
Schriften und der Entstehung des Christentums

Meiner Ansicht nach liegt dem christlichen Kanon aus Altem und
Neuen Testament ein analoger Prozess zur Herausbildung des
dreigliedrigen Kanons der Hebräischen Bibel zugrunde. Auch die
christlichen Gemeinden haben sich parallel zur Entstehung der
neutestamentlichen Schriften formiert.52 In den Paulusbriefen als
den frühesten schriftlichen Zeugnissen der entstehenden Kirche
betont Paulus die eigene Autorität für die jeweilige Gemeinde. Paulus
begründet sie u. a. mit seinem Apostolat (1Kor 9,1), doch muss
er jeweils um sie ringen.53 Auch muss er sich offenbar mit der Infragestellung
seiner Positionen und konkurrierenden Ansprüchen
auseinandersetzen (vgl. 2Kor 10,10 ff.). Paulus verweist zur Unterstreichung
seiner Autorität mitunter auf Christusworte,54 doch
machen seine vielfachen Schriftverweise deutlich, dass er (wie auch
noch die Evangelien und nahezu alle weiteren neutestamentlichen
Schriften) seine Positionen ganz selbstverständlich mit einer perspektivischen
und das heißt christologischen Interpretation der
Tora und anderer alttestamentlicher Bücher absicherte.55 Es mag
zwar zur Zeit des Paulus noch keinen endgültig festgeschriebenen
Umfang des dritten Kanonteils der Hebräischen Bibel gegeben
haben,56 doch steht für ihn die Autorität der verwendeten Texte
unhinterfragt fest. Und das gilt auch für seine Adressaten.57
Die Erwähnung von Mitverfassern in den Paulusbriefen hat
wahrscheinlich relativ zeitig zu einer Herausbildung weiterer Autoritäten
geführt.58 Mit den pseudepigraphen Paulusbriefen suchte
man danach die Autorität des Paulus in der sich weiterentwickelnden
christlichen Gemeinschaft in einer veränderten Situation und in
der Auseinandersetzung mit neuen Problemen zu nutzen.59 Es muss
dabei auch Auseinandersetzungen um die Geltung der Texte gegeben
haben, wie der Verweis in 2Thess 2,2 und die Vorrede zum Lukasevangelium
(Lk 1,1–3) zeigen.60 Es legt sich somit nahe, dass die neutestamentlichen
Schriften als Teil des Diskurses um eine auf Jesus
Christus bezogene religiöse Identität entstanden sind.
Der Zusammenhang der neutestamentlichen Schriften mit der
Hebräischen Bibel ist nie bestritten worden. Immer wieder wurde
auch darauf hingewiesen, dass Tora, Propheten und Schriften der
autoritative Kontext sind, zu dem auch die Diskurse gehörten, die
die neutestamentlichen Schriften hervorbrachten. In den neutestamentlichen
Texten wird um die allgemeine Akzeptanz eines chris -
tologischen Konzeptes und zugleich um den Zusammenhang mit
Israel gerungen: Mit ihnen werden die unhinterfragt akzeptierten
jüdischen Schriften in einem Diskurs um die Christologie in zugespitzter
Weise auf eine neue Gruppenidentität hin ausgerichtet.
Nicht die eschatologische Interpretation war damit die Grundlage
für die Bedeutung der alttestamentlichen Schriften im frühen
Christentum, wie N. Slenczka meint, sondern ihr selbstverständlicher
Gebrauch machte eine entsprechende Interpretation erst
möglich. Die Jerusalemer Interpretation der Tora, der Bezug auf
den Tempel von Jerusalem, auch wenn dessen Zerstörung sich auf
die Entstehung der neutestamentlichen Schriften ausgewirkt hat,
und der aus dieser Perspektive vorgetragene Anspruch auf eine legitime
Gottesbeziehung mit dem Gott Israels waren die Grundlagen
der sich entwickelnden christlichen Identität. Die Entstehung der
neutestamentlichen Schriften ging einher mit der Herausbildung
der christlichen Kirche aus Juden und Nichtjuden.61 Beides ist
Ergebnis einer zugespitzten Interpretation der bereits akzeptierten
Grundlagentexte, doch das Ergebnis war wiederum keine neue
Textgrundlage, sondern ebenfalls ein supplementiertes Korpus
von Texten. Die Positionen, dass die »Schriften Israels […] für die
urchristlichen Autoren den selbstverständlichen Horizont für die
Interpretation des Christusgeschehens dar[stellten]«62 bzw. »die
biblischen Texte des späteren ersten Kanonteils ab der frühchristlichen
Rezeption dem Christentum unhintergehbar vorund
aufgegeben«63 sind, lassen sich entsprechend zuspitzen: Der
Zusammenhang von alttestamentlichen und neutestamentlichen
Schriften hat sich zusammen mit der christlichen Identität he rausgebildet.
Zusammen mit der Formierung des Christentums entstand
ein umfangreicherer Grundlagentext.64

4 Ein Ansatz für eine Hermeneutik aus
alttestamentlicher Perspektive

Ich möchte ausgehend von den aufgezeigten Diskursen und ihren
Veränderungen einige Überlegungen zum christlichen Schriftverständnis
aus alttestamentlicher Perspektive anschließen. Wie festgestellt,
reicht es nicht aus, von einer grundlegenden Rolle der alttestamentlichen
Schriften im Urchristentum zu sprechen. Dass
man sie seit dem 1. Jh. auf Christus hin gelesen hat, ist ein Indikator
dafür, wie tief sie in der christlichen Identität verankert sind.
Ein Verweis auf einen selektiven Gebrauch alttestamentlicher Texte
in der kirchlichen Verkündigung,65 auf die Tatsache, dass die
messianische Interpretation der alttestamentlichen Überlieferungen
sich aus historisch-kritischer Sicht nicht halten lässt,66 oder
auch auf die Thesen des christlich-jüdischen Dialoges von der ur -
sprünglichen Beziehung Israels zu den alttestamentlichen Schriften67
sind keine geeigneten Argumente, den Zusammenhang von
alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften und von
Kirche und Altem Testament zu bestreiten. Dieser hat sich – wenn
man so will – genetisch im Prozess der Herausbildung der christlichen
Gemeinschaft und ihrer Abgrenzung vom Judentum in der
Identität des Christentums niedergeschlagen, so dass er nicht aufgegeben
werden kann. Und wie wir heute die Perspektivik der Jerusalemer
Auslegung von der samaritanischen Konzeption unterscheiden
können, so können wir auch die christologische Interpretation
des Alten Testaments im frühen Christentum als Ergebnis
einer zugespitzten Perspektive ansehen.
Wie im Jerusalemer Judentum ganz selbstverständlich die Er -
wählungsformel in Dtn 12 auf Jerusalem bezogen wird, so wurden
und werden in den neutestamentlichen Texten und in der Kirche
die eschatologischen Hoffnungen auf das Christusereignis hin ausgedeutet.
Das geschieht heute in anderer Weise, als es in der Alten
Kirche und in der Reformationszeit geschah. Allerdings ist es derselbe
ursprüngliche Zusammenhang, der sich in der Antike in
einer christologischen Interpretation ausgedrückt hat. Er hat da -
mals zu den allegorischen Interpretationen geführt, und er lässt
noch heute ganz selbstverständlich die alttestamentlichen Lesungen
im Gottesdienst erklingen. Aufgrund dessen ist die alttestamentliche
Theologie ein notwendiger Bestandteil der christlichen
Theologie.68
Nun hat sich der Kanon der Kirche nicht nur permanent vergrößert.
Im 2. Jh. hatte ja Marcion, abgesehen von seiner Verwerfung
des Alten Testaments, schon versucht, einen reduzierten Be -
stand von neutestamentlichen Texten durchzusetzen.69 Ausgehend
von meinen Überlegungen möchte ich behaupten, dass die
Aufgabe des Zusammenhangs mit den alttestamentlichen Schriften
ebenso wie die Reduktion der neutestamentlichen Bücher
einen massiven Eingriff in die akzeptierten Identitätskonzepte der
antiken Kirche dargestellt hätte, weswegen dem nicht gefolgt werden
konnte.70
Selbstverständlich ist der Tanach der Grundlagentext des Ju -
dentums. Doch ebenso selbstverständlich war die Tora der Grundlagentext
eines Judentums, das noch an zwei oder mehr Tempeln
seine kultischen Gottesdienste feiern konnte. Das Judentum in der
rabbinischen Tradition ist ebenso von den Texten der Tora angesprochen
wie die Samaritaner, und ebenso selbstverständlich ha -
ben die frühen Christen sich von den Texten des Alten Testaments
ansprechen lassen. Die samaritanische, jüdische und christliche
Identität entstanden jeweils zusammen mit den religiösen Grundlagentexten.
Die religiöse Identität wurde maßgeblich von den entstehenden
Grundlagentexten in einem offenen diskursiven Prozess
geprägt, in dem Texte reinterpretiert und in neue Kontexte gesetzt
wurden, aber auch religiöse und politische Ambitionen eine Rolle
gespielt haben. Im Rückblick ist dabei trotz der erfolgten Abgrenzungen
die Beziehung der Gemeinschaften zueinander immer
erkennbar geblieben. Wie sich das Judentum durch die Geschichte
hindurch trotz aller Polemik immer ein differenziertes Verhältnis
zu den Samaritanern bewahrt hat, so ist sich das Christentum im -
mer seines besonderen Verhältnisses zu Israel bewusst gewesen,
und unsere Bibel aus Altem und Neuem Testament zeugt weiter
von einem kontroversen Prozess von Identifikation und Abgrenzung.
Sie hat maßgeblich zur Herausbildung der christlichen Identität
beigetragen. Würde man die Normativität des Alten Testaments
bestreiten und allein die Schriften des Neuen Testaments
für normativ halten, würde das die christliche Identität selbst in
Frage stellen.

Abstract

The books of the Hebrew Bible did not emerge as authoritative
texts. The literary history of the texts shows that they originally
were composed as intentional literature. Its aim was to establish
programmatic religious concepts, ethical rules and concepts of
identity. Only during the literary history gradually an authoritative
status of these texts was accepted. That happened in parallel to
the formation of the religious community. Based on the processes
and on the conceptual changes during the emergence of the
Hebrew Bible the paper defines the position and the function of the
Old Testament in Christianity because the New Testament Scriptures
emerged in an analogous process.

Fussnoten:

*) Der Beitrag geht zurück auf einen in Aarhus im Rahmen des Symposions
»Scriptural Principle and Reformation Theology in Contemporary Perspectives«
(5./6. April 2016) gehaltenen Vortrag. Dort wurde mit N. Slenczka über die Frage
nach der Normativität des Alten Testaments diskutiert. Der Schwerpunkt des
Beitrages liegt auf eigenen Beobachtungen zur Herausbildung des Pentateuchs
und seiner innerbiblischen Rezeption und den sich daraus ergebenden hermeneutischen
Konsequenzen. Dazu ist es nötig, das Verhältnis zur Entstehung der
neutestamentlichen Texte zu reflektieren, wobei auf die Diskussion von Einzelheiten
verzichtet werden muss.
1) N. Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: E. Gräb-Schmidt/R.
Preul (Hrsg.), Marburger Jahrbuch Theologie XXV. Das Alte Testament in der
Theologie (MThSt 119), Leipzig 2013, 83–119, 118.
2) Ebd. In der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Kirche und Judentum
wurde die Frage aber bereits am Ende des 20. Jh.s diskutiert. Vgl. dazu H.
Seebaß, Hat das Alte Testament als Teil der christlichen Bibel für christliche Theologie
und Kirchen grundlegende Bedeutung?, ThRv 90 (1994), 265–274; C. Dohmen/
M. Oeming, Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern
gesprochen durch die Propheten (Hebr 1,1). Vom kanonischen Prozeß zum
Kanon, in: Dies., Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD
137), Freiburg i. Br. 1992, 91–113, 110 ff.
3) Slenczka (s. Anm 1), 119.
4) Ebd.
5) C. Andresen/A. M. Ritter, Die Anfänge christlicher Lehrentwicklung, in:
A. M. Ritter/E. Mühlenberg/C. Andresen/K. Wessel (Hrsg.), Die christlichen Lehrentwicklungen
bis zum Ende des Spätmittelalters, Göttingen 2011, 1–97, 79, halten
beispielsweise fest, dass die jüdische Bibel »stets als überkommene Autorität
festgehalten und intensiv gebraucht« wurde. Sie schränken ein, dass sie »der kritischen
Autorität des ›Herrn‹« (ebd.) unterworfen worden sei. In seiner Studie zur
Einheit der Schrift verweist T. Söding, Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie
des biblischen Kanons (QD 211), Freiburg i. Br. 2005, 379, darauf, dass im Neuen
Testament die »›Schrift‹ als eine vorgegebene einheitliche, aber darin vielseitige
Größe vorausgesetzt« sei. Die Unterscheidung zwischen den beiden Testamenten
sei daher »ein Ausdruck innerer Vielfalt der christlichen Bibel« (380). J. C. Gertz äußert,
dass der Prozess der Kanonbildung und Abgrenzung der Hebräischen Bibel
bis in die Zeit der Entstehung des Christentums reicht. Da sich das Christentum
als »das Resultat einer unverwechselbaren Vorgeschichte« begreife, sei »das Alte Testament
die heilige Schrift des Urchristentums und Teil der christlichen Bibel« (J.
C. Gertz, Das Alte Testament – Heilige Schrift des Urchristentums und Teil der
christlichen Bibel, in: F. W. Graf/K. Wiegandt [Hrsg.], Die Anfänge des Christentums,
Frankfurt am Main 2009, 231–260, 260). Von neutestamentlicher Seite hat unlängst
J. Schröter, Das Alte Testament im Urchristentum, in: Gräb-Schmidt/Preul
(Hrsg.) (s. Anm. 1), 49–81, 79, festgehalten, dass »[d]ie Schriften Israels […] für die urchristlichen
Autoren den selbstverständlichen Horizont für die Interpretation des
Christusgeschehens dar[stellten]«. Und wenngleich dabei noch kein fixierter »kanonischer
« Schriftbestand vorauszusetzen sei, lasse sich »eine Tendenz der Entstehung
in Geltung stehender Corpora erkennen« (ebd.). In Bezug auf deren Gebrauch
im Urchristentum weist Schröter darauf hin, »dass diese durch das mit Jesus
Chris tus verbundene Geschehen ihre eigentliche Bedeutung erlangt haben« (80).
Er schlussfolgert u. a., »dass zwischen einer jüdischen und einer christlichen
Bezugnahme auf diese Schriften zu unterscheiden ist« (81). In die Diskussion hatM. Witte, Jesus Christus im Spiegel des Alten Testaments, in: J. Schröter (Hrsg.),
Jesus Christus (UTB 4213), Tübingen 2014, 13–70, 64, eingeworfen, dass die »im Alten
Testament versammelten Theologien […] ein grundlegender Beitrag zur Rede von
Jesus Christus« sind und dass sie daher »mit der Theologie des Neuen Testaments
[…] die Basis christlicher Theologie als Entfaltung des Sprechens vom Handeln Gottes
in Jesus Christus« (64 f.) bilden. F. Hartenstein, Zur Bedeutung des Alten Testaments
für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von
Notger Slenczka, ThLZ 140 (2015), 738–751, 742, hat zuletzt unterstrichen, dass »die
biblischen Texte des späteren ersten Kanonteils ab der frühchristlichen Rezeption
dem Christentum unhintergehbar vor- und aufgegeben [sind]: historisch wie hermeneutisch
«. Dies gründe in der »Identität des Gottes des Alten wie des Neuen
Testaments« (ebd., Hervorh. dort).
6) So in Auseinandersetzung mit J. Neusner um das Verhältnis von schriftlicher
und mündlicher Tora A. Goldberg, Die Zerstörung von Kontext als Voraussetzung
für die Kanonisierung religiöser Texte im rabbinischen Judentum, in: A.
Assmann/J. Assmann (Hrsg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen
Kommunikation II (Archäologie der literarischen Kommunikation
2), München 1987, 201–211, 204.
7) U. Becker, Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch
(UTB 2664), Tübingen 32011, 86. Nach C. Levin, Source Criticism. The Miracle at the
Sea, in: J. M. LeMon/K. H. Richards (Hrsg.), Method Matters. Essays on the Interpretation
of the Hebrew Bible (RBS 56), Atlanta, GA 2009, 39–61, 41, ist das die
Grundlage der von ihm favorisierten exegetischen Methode: »The tradition – which
in each given case provides the foundation for the literary process – was fundamentally
sacrosanct; consequently, the scholar can work on the text like an archaeologist.
If one clears away later strata, one can in each instance expect to come
upon an older, intact form of the text.« In ähnlicher Weise beurteilte schon S. Talmon,
Heiliges Schrifttum und Kanonische Bücher aus jüdischer Sicht. Überlegungen
zur Ausbildung der Größe »Die Schrift« im Judentum, in: M. A. Klopfenstein
(Hrsg.), Mitte der Schrift? Ein jüdisch-christliches Gespräch (JudChr 11), Bern/
Frankfurt am Main 1987, 45–79, 58, die alttestamentliche Traditionsliteratur: »Die
unbezweifelbare Sonderstellung der Tora-Literatur legt nahe, dass deren Heiligkeit,
gleichgesetzt mit ›verfasst unter göttlicher Inspiration‹, ihre Schlüsselposition
in dem als verpflichtend anerkannten Schrifttum von Anfang an sicherte.« In
eine ähnliche Richtung geht auch E. Blum, Historiographie oder Dichtung? Zur
Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: Ders./W. Johnstone/C.
Markschies (Hrsg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? (Altes Testament und
Moderne), 65–86, 73, wenn er meint, dass »das Zurücktreten des Autors hinter bzw.
in seinen Text dessen ›un-mittelbaren‹ Geltungsanspruch« impliziere.
8) Vgl. Becker (s. Anm. 7), 86 f.
9) Vgl. zu altorientalischen Parallelen und zur Intention der Formel C. Dohmen/
M. Oeming, Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen (Dtn 13,1).
Biblische Funktion und altorientalische Ursprünge der Kanonformel, in: Dies.,
Biblischer Kanon (s. Anm. 2), 68–89.
10) Vgl. dazu E. Otto, Deuteronomium 1–11 (HThKAT), Freiburg i. Br./Basel
u. a. 2012, 533.
11) Levin (s. Anm. 7), 41.
12) K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung,
Darmstadt 2008, 45, meint, dass die Bücher »in der Regel zunächst als Unikate abgefasst
worden sind«. Er begründet das mit der Literargeschichte: »Darauf deutet
schon ihr Charakter als agglutinierende Auslegungsliteratur: Es wäre kaum vorstellbar,
wie ein mehrstufiger Fortschreibungsprozess an biblischen Büchern,
den an sich zu bestreiten schon der Überlieferungsbefund verbietet, technisch
vonstatten gegangen sein soll, wenn die Bücher in zahlreichen Kopien umgelaufen
wären.« Dass gerade bei Schlüsseltexten eher umfassende Transformationen
zu erwarten sind, lässt sich allerdings empirisch an dem Gegenüber von 2Kön 18–
20; 22 f. mit 2Chr 29–31; 34 f. erkennen. Vgl. dazu R. Heckl, »Keiner war wie er« –
Die Unvergleichlichkeit von Hiskia und Josia im Konzept der Chronik. Zur Transformation
von Vorlagen in der Literargeschichte von Schlüsseltexten, in: Ders.
(Hrsg.), Methodik im Diskurs. Neue Perspektiven für die Alttestamentliche Exegese
(BThSt 156), Neukirchen-Vluyn 2015, 52–81.
13) So schon U. Rüterswörden: »Die Autorität der ursprünglichen Fassung des
Deuteronomiums beruht darauf, daß sie das WORT des mit besonderer Autorität
versehenen Mose ist« (U. Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft
zur Gemeinde. Studien zu Dt 16,18–18,22 [BBB 65], Frankfurt am Main 1987), 64).
Vgl. dazu weiter vor allem meinen ersten Beitrag zur Nutzung der Moseautorität
für einen unterschiedlichen Umfang des literarischen Korpus: R. Heckl, Augenzeugenschaft
und Verfasserschaft des Mose als zwei hermeneutische
Konzepte der Rezeption und Präsentation literarischer Traditionen beim Abschluss
des Pentateuchs, ZAW 122 (2010), 353–373. Anders E. Blum, Die Stimme
des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, in: K.-P.
Adam (Hrsg.), Historiographie in der Antike (BZAW 373), Berlin/New York 2008,
107–130, 122, der für das Deuteronomium ein Kohärenzproblem resümiert, weil
der erzählerische Rahmen anonym bleibe, obwohl »die von Mose niederge-schriebene Tora textimmanent nicht von dem Buch des anonymen Erzählers (mit
dem Bericht dieser Niederschrift) unterschieden wird.« Doch beachtet dies nicht,
dass Mose sukzessive ausgehend von Ex 17,14 als Schreiber des den Adressaten
vorliegenden Buches – und das auch immer wieder auf der Erzählebene – aufgebaut
wird. Vgl. dazu R. Heckl, Mose als Schreiber. Am Ursprung der jüdischen
Hermeneutik des Pentateuchs, ZAR 19 (2013), 179–234, 204 ff. Für das Deuteronomium
ist zu beachten, dass ebenso in vielen Prophetenbüchern erzählerische Passagen
der Autorität des betreffenden Propheten unterstellt werden. Siehe z. B. Jer
1,1 ff.; Hos 1,1 f.; Am 1,1 f. Nach E. Otto wird die Mosaische Autorität für Gesetzestexte
in der Auseinandersetzung mit der persischen Reichsideologie betont:
»So werden in der rechtshermeneutischen Theorie der nachexilischen Fortschreibung
des Buches Deuteronomium JHWH als offenbarende Rechtsquelle
am Sinai und Mose als Ausleger der von JHWH offenbarten Tora in Moab aufeinander
bezogen« (Otto, Deuteronomium [s. Anm. 10], 1057).
14) Das Auftauchen der Formel in zwei Kontexten des Buches Deuteronomium
zeigt, dass man anfangs noch nicht erfolgreich war. Dasselbe gilt für die
Erzählung von der Buchauffindung, die nach Assmann die quasi-kanonische Autorität
des Deuteronomiums begründet (vgl. J. Assmann, Fünf Stufen auf dem
Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im frühen Judentum und seiner
Umwelt [Münstersche theologische Vorträge 1], Münster 1999, 86 f.). Doch die
Auffindungslegende in 2Kön 22 dient ebenso wie die Paränesen des Deuteronomiums,
seine mosaische Perspektive und insgesamt seine Historisierung dazu,
dem Gesetzestext eine Autorität zu geben, die er nicht von sich aus hatte. Ein
neues Buch soll als uraltes bedeutendes Buch erwiesen werden. Dass das Deuteronomium
sich aber allmählich durchgesetzt hat, zeigten seine Rezeption in den
dtr Geschichtsbüchern und seine Integration in den Pentateuch. In diesem Sinne
waren die angewendeten hermeneutischen Strategien schlussendlich erfolgreich.
15) Diese entwickelt sich als besonderes Phänomen der Zuschreibung von Texten
zu literarischen Figuren oder historischen Persönlichkeiten und beruht auf
einer Hochschätzung von Traditionen, deren Zentrum die Zuweisung des Ursprungs
der Tora bei Mose ist. Vgl. dazu G. Stemberger, Pseudepigraphie II.
Ju dentum, TRE 27 (1997,) 656–659, 656. Diskussionen der neutestamentlichen
Pseudepigraphie allein auf dem Hintergrund des griechisch-römischen Kul turbereiches,
wo das Phänomen der literarischen Fälschung breit diskutiert wird, berücksichtigen
den jüdischen Hintergrund nicht und gehen an der Sache vorbei,
wenn man so zu Urteilen über die Kanonizität kommt. Gegen A. D. Baum, Pseudepigraphie
und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten
Quellentexten samt deutscher Übersetzung (WUNT 138), Tübingen 2001, 179 ff.,
der von einer »Kanonunfähigkeit pseudepigrapher Schriften« (passim) spricht.
16) Ausführlich hat P. Sonnet, The Book Within the Book. Writing in Deuteronomy
(BiInS 14), Leiden u. a. 1997, die Thematisierung von schriftlichen Texten
im Deuteronomium bearbeitet und dabei die Bedeutung des Geschriebenen
hervorgehoben. Doch vermochte er diese Notizen nicht als Autorisationsmittel,
die das den Lesern vorliegende Buch betreffen, zu akzeptieren: »In the readers’
world, Moses Torah ›book‹ is never ›read‹ outside of the Book of Deuteronomy«
(261). Ganz im Gegenteil sind die Notizen auf das den Lesern vorliegende Buch
zu beziehen. Sonnets Sicht hängt mit der Anwendung postmoderner Konzepte
zusammen, die den Schluss nicht zuließen, dass der im Text erkennbare unpersönliche
Autor beim Abschluss des Textes mit dem schreibenden Mose identifiziert
wurde (s. 250). Nach E. Otto, Das Deuteronomium im Pentateuch und
Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von Pentateuch und Hexateuch im
Lichte des Deuteronomiumrahmens (FAT 30), Tübingen 2000, 183, beziehen sich
die Verschriftungsnotizen auf die Gesetzeskorpora. So könne das von Mose in
Ex 24,4.7 verschriftete Bundesbuch auf der literarischen Ebene des Deuteronomiums
eine Rolle spielen, während in Dtn 31,9 Dtn 4,44–28,68 zusammen mit
dem Heiligkeitsgesetz verschriftlicht werde. Sie steht daher seiner Ansicht nach
»im Dienste der Rechtshermeneutik des Pentateuch« (ders., Deuteronomium [s.
Anm. 10], 259). Wie sich das zum abgeschlossenen Pentateuch und zu der Tatsache
verhält, dass den intendierten Adressaten gerade von Dtn 31 ein erzählerisch
gerahmter Text vorliegt, bleibt bei Otto offen.
17) Vgl. dazu R. Heckl, Neuanfang und Kontinuität in Jerusalem. Studien zu
den hermeneutischen Strategien im Esra-Nehemia-Buch (FAT 104), Tübingen
2016, 14 ff.
18) Zur sukzessiven Akzeptanz der Schriften vgl. Gertz (s. Anm. 5), 257 f., der
von einem »fortschreitenden Kanonisierungsprozeß« (257) spricht. Die Abweichungen
zwischen den verschiedenen Handschriftentraditionen widersprachen
dem antiken Verständnis von der Selbigkeit der Texte offensichtlich nicht. Im
Bereich des Pentateuchs sind in den Texttraditionen Harmonisierungsbestrebungen
spürbar, die zeigen, dass man in den Texten literarische Probleme wahrgenommen
hat und sie auszugleichen suchte.
19) Vgl. allgemein Stemberger, Pseudepigraphie (s. Anm. 15), 656.
20) S. Paganini, Gesprochen, gehört, verschriftet. Zum Legitimationsprozess
pentateuchischer Gesetzestexte in der Zeit des zweiten Tempels, in: R. Achenbach/
M. Arneth (Hrsg.), »Gerechtigkeit und Recht zu üben« (Gen 18,19). Studien
zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte
Israels und zur Religionssoziologie (BZAR 13), Wiesbaden 2009, 266–280, 279.
21) Vgl. a. a. O., 271.
22) Vgl. z. B. 4QMMT, das als halachischer Kommentar auf das von Mose geschriebene
Buch, auf die Propheten und auf David verweist. Vgl. Gertz (s. Anm. 5),
257.
23) Die Literatur im Pentateuch und den Vorderen Propheten, die seit dem
Ende der vorexilischen Zeit entsteht, dürfte, anders als das D. M. Carr, Writing
on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford/New York
2005, 287, für die schriftgelehrte Literatur generell in der Antike annimmt, nicht
primär für die »oral-written education«, sondern als Kommunikationsmittel geschaffen
worden sein. Denn es handelt sich um intentionale Literatur, mit der
man aktuelle Absichten verfolgt hat. Dem korrespondiert die in jener Zeit sich
verbreiternde Schriftkundigkeit.
24) Die Texte der Zeit des Zweiten Tempels und die Texte aus Qumran lassen
entsprechend erkennen, wie sich die Prozesse weiter vollzogen haben. Vgl. dazuJ. Frey, Die Herausbildung des biblischen Kanons im antiken Judentum und im
frühen Christentum, Das Mittelalter 18, 2013, 7–26, 15 ff.; J. A. Sanders, The Issue
of Closure in the Canonical Process, in: L. M. McDonald/J. A. Sanders (Hrsg.), The
Canon Debate, Peabody, MA 2002, 252–263, 254 f.
25) Ausführlich: Heckl, Neuanfang (s. Anm. 17), 20 ff.
26) Siehe dazu in seiner Einleitung D. Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung
des Judäo-Christentums (Arbeiten zur Bibel und ihrer Umwelt 1), Berlin/
Dortmund 2009, 23 ff.
27) Vgl. a. a. O.., 26.
28) Als abgeschlossen betrachtet, verbreitet und allmählich als normativ akzeptiert
wurden die biblischen Bücher zu unterschiedlichen Zeiten. Das ist selbst
innerhalb des Pentateuchs erkennbar, wo die Bücher Levitikus und Numeri gegenüber
dem priesterlich abgeschlossenen Exodusbuch als Supplemente bzw.
Aktualisierungen verstanden werden können. Signifikant ist in dieser Hinsicht
das Gegenüber des Abschlusses des Stiftshüttenbaus in Ex 39,32 mit der Abschlussformulierung
in Num 7,1.
29) Ich habe hier das Identitätskonzept des rabbinischen Judentums mit seinen
religiösen Lebensregeln, seinen kanonischen Texten und seiner Hermeneutik
im Blick, das von einer Elite getragen wurde, sich aber nach dem Bar-
Kochba-Aufstand nur allmählich durchsetzte. Während man früher annahm,
dass die Rabbinen unmittelbar nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Verwaltung
und Recht in eine autoritative Rolle aufrückten (vgl. dazu G. Stemberger,
Die Umformung des palästinischen Judentums nach 70. Der Aufstieg der
Rabbinen, in: Ders., Judaica Minora. Teil II: Geschichte und Literatur des rabbinischen
Judentums, Tübingen 2012, 172–186, 172 f.), muss man heute davon
ausgehen, dass die Rabbinen erst ab dem 3. Jh. breiteren Einfluss gewannen; vgl.
185 f., und Goldberg (s. Anm. 6), 204.
30) Die Intentionalität der neutestamentlichen Bücher und ihr diskursiver
Charakter stehen nicht in Frage. Vgl. zur Herausbildung und Entwicklung von
Autorität im frühen Christentum J. Becker, Mündliche und schriftliche Autorität
im frühen Christentum, Tübingen 2012.
31) Vgl. Boyarin (s. Anm. 26), 3.
32) Vgl. z. B. J. N. Carreira, Formen des Geschichtsdenkens in altorientalischer
und alttestamentlicher Geschichtsschreibung, BZ 31 (1987), 36–57, 56; R. Albertz,
Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr (BE 7), Stuttgart 2001, 17 f.
33) Vgl. Heckl, Augenzeugenschaft (s. Anm. 13), 362.teuchs
und die Abänderung seines Stils hat man in der Tempelrolle versucht.
Doch hat dieses wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. verfasste
Buch (vgl. J. Maier, Die Tempelrolle vom Toten Meer und das »Neue Jerusalem«.
11Q19 und 11Q20; 1Q32, 2Q24, 4Q554–555, 5Q15 und 11Q18. Übersetzung und Erläuterung
[UTB 829], München 1997, 49 ff.) sich in der jüdischen Tradition nicht
mehr durchsetzen können, obwohl man ihm höhere Autorität zuweisen wollte
als dem Deuteronomium. Vgl. oben, 7.
35) So schon B. Ziemer, Prophetenrede und Gottesrede im Pentateuch und der
Ausgang der Schriftprophetie, in: R. Lux/E.-J. Waschke (Hrsg.), Die unwiderstehliche
Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie. FS A. Meinhold (ABIG
23), Leipzig 2006, 441–466, 460 f.
36) Vgl. Heckl, Augenzeugenschaft (s. Anm. 13), 365 f.
37) Im Hintergrund dieses vor allem in Dtn 31 erkennbaren Konzeptes steht
die im Alten Orient verbreitete Vorstellung von der Herkunft religiöser Bücher
von einer Gottheit. Vgl. Heckl, Mose als Schreiber (s. Anm. 13), 196 ff. Hierzu gehört
traditionsgeschichtlich die Anfertigung der Gesetzestafeln durch Gott, aber
auch vereinzelte Erwähnungen von göttlichen Texten in anderen biblischen Büchern.
Dtn 31 steht konzeptionell im Zusammenhang mit der Zerstörung der
göttlichen Tafeln in der Sinaiperikope. Dort äußert Jhwh in Ex 24,12 die Absicht,
Mose zusätzlich zu den Tafeln weitere Texte auszuhändigen: »Ich will dir geben
die steinernen Tafeln, die Weisung und die Tora, die ich geschrieben habe, um
sie ihnen zu lehren.« Der Zusammenhang besteht darin, dass nicht nur die Tafeln
zerstört und neu beschrieben werden, sondern dass es anstelle der Aushändigung
einer von Gott verfassten Schrift zur Abfassung der Tora durch Mose kommt. Der
von Mose geschriebene Text tritt also an die Stelle des Textes, den Israel wegen
der Sünde des goldenen Kalbes nicht erhält. Vgl. dazu Heckl, Augenzeugenschaft
(s. Anm. 13), 371. Traditionsgeschichtlich steht das im Zusammenhang mit der
Entstehung der großen Prophetenbücher (Jes, Jer, Ez). Kulturgeschichtlich dürfte
das Phänomen der Pseudepigraphie, dessen jüdische Wurzeln im Pentateuch und
der Schriftprophetie liegen, daran anknüpfen, dass in der Antike an der Abfassung
von literarischen Texten immer mehrere Personen beteiligt waren. Verfasser
und Schreiber waren normalerweise nicht identisch. Vgl. O. Ludwig, Ge -
schichte des Schreibens. Band 1: Von der Antike bis zum Buchdruck, Berlin/New
York, NY 2005, 8.
38) Vgl. Heckl, Mose als Schreiber (s. Anm. 13), 224 f. (zusammenfassend).
39) Die anderen Stellen sind Ex 24,4; 34,27; Num 33,2; Dtn 31,9.22. Die erste
Formulierung Ex 17,14 bildet ein Scharnier zwischen der Darstellung des Überfalls
und der Niederlage durch die Amalekiter in Dtn 25,17 ff. und der späteren
Darstellung ihrer wunderhaften Schwächung in Ex 17,8–13. Vgl. dazu Heckl,
Mose als Schreiber (s. Anm. 13), 204–209.
40) Zum Konzept und Ort des Pentateuchs siehe R. Heckl, Ein vollendeter Text
für den Surrogat-Tempel. Struktur, Chronologie und Funktion des Pentateuchs
in Anschluss an Benno Jacob, ZAR 22 (2016), 185–221. Es ist sicherlich kein Zufall,
dass wir uns bei der Abfassung des Pentateuchs mit diesem Konzept eines von
Mose verfassten Substitutes eines angeblich göttlichen Textes in der Zeit befinden,
in der Herodot seine Historien mit dem Ziel verfasste, die Ursachen für die
schicksalhafte Auseinandersetzung zwischen Griechen und Persern aufzudecken.
Traditionsgeschichtlich ist die nächste Parallele die phönizische Geschichte des
Philo von Byblos, die das ältere Werk des Sanchuniathon verarbeitet, in dem angeblich
die Schriften des Gottes Thot Aufnahme gefunden hätten. Vgl. H. W. Attridge/
R. A. Oden, Philo of Byblos, the Phoenician History. Introduction, Critical
Text, Translation, Notes (CBQ 9), Washington, DC 1981, 28 (Fragment 1: Z. 10–15).
41) Ich folge hier den Thesen von C. Nihan. Siehe dazu C. Nihan/T. Römer,
Die Entstehung des Pentateuch. Die aktuelle Debatte, in: T. Römer/J.-D. Macchi/
C. Nihan (Hrsg.), Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der HebräischenBibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen
und orthodoxen Kirchen, Zürich 22013, 138–164, 156 f.
42) Als Übersicht vgl. G. Stemberger, Mündliche Tora in schriftlicher Form.
Zur Redaktion und Weitergabe früher rabbinischer Texte, in: Ders., Judaica Minora
II (s. Anm. 29), 246–260.
43) Vgl. dazu C. Nihan, The Torah between Samaria and Judah. Shechem and
Gerizim in Deuteronomy and Joshua, in: G. N. Knoppers/B. M. Levinson (Hrsg.),
The Pentateuch as Torah. New Models for Understanding its Promulgation and
Acceptance, Winona Lake, Ind. 2007, 187–223, 216.
44) Vgl. Heckl, Neuanfang (s. Anm. 17), 410 ff. (zusammenfassend).
45) Vgl. a. a. O., 109 f.
46) Vgl. dazu M. Kartveit, The Second Temple and the Temple of the Samaritans,
in: J. Frey/U. Schattner-Rieser/K. Schmid (Hrsg.), Die Samaritaner und die
Bibel. Historische und literarische Wechselwirkungen zwischen biblischen und
samaritanischen Traditionen (StSam 7), Berlin/Boston, MA 2012, 67–80, 75 f.
47) Vgl. dazu Heckl, Neuanfang (s. Anm. 17), 364 ff.
48) Vgl. dazu ausführlich a. a. O., 410 ff.
49) A. a. O, 407.
50) Vgl. dazu R. Heckl, Eine Kultstätte auf dem Ebal? Josua 8,30–35 und der
Streit mit Samaria um die Auslegung der Tora, ZDPV 129 (2013), 79–98.
51) Die Tatsache, dass sich im Judentum in der Gruppe der Sadduzäer wie bei
den Samaritanern die Akzeptanz nur des Pentateuchs als Heilige Schrift (vgl. dazu
G. Stemberger, Von einer jüdischen Sekte zur Weltreligion, in: Ders., Judaica Minora.
Teil I: Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum, Tübingen 2012,
424–432, 425) erhalten hat, bestätigt, dass die Supplementierung der Tora durch
Propheten und Schriften zu der auf Jerusalem zugespitzten Perspektive der sich
entwickelnden jüdischen Identität gehört. Die vielfältige Literatur aus der Zeit
des Zweiten Tempels zeigt, dass der Prozess weder auf die Texte der HebräischenBibel beschränkt noch nach deren Abfassung abgeschlossen war. Darunter finden
sich Schriften, die verwandte hermeneutische Strategien anwenden (Pseudepigraphen)
und dieselbe oder gar höhere Autorität als die Texte des Pentateuchs
beanspruchen, aber auch kommentierende Werke, die die Autorität der etablierten
Schriften bestätigen. Vgl. oben, 7.
52) Vgl. U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die
Entstehungsgeschichte einer Weltreligion (UTB 4411), Göttingen 2015, 297. Das lässt
sich auch an einzelnen Büchern aufzeigen, wie J. C. de Vos, Schriftgelehrte und Pharisäer
im Matthäusevangelium. Das ambivalente Verhältnis des Matthäus zu seinem
jüdischen Hintergrund, in: N. Förster/J. C. de Vos (Hrsg.), Juden und Christen
unter römischer Herrschaft. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung in den
ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. (SIJD 10), Göttingen 2015, 110–126, 123 f., anhand
des Matthäusevangeliums gezeigt hat. Schriftentstehung, Sammlung und
allmähliche Durchsetzung der neutestamentlichen Schriften vollzieht sich als ein
allmählicher Prozess. Zu dem Prozess, der zur Kanonisierung führte vgl. als Übersicht
K. Greschat, Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Fragestellungen
und Themen der neueren Forschung, VF 51 (2006), 56–63. Zu neuen
Fragestellungen siehe E.-M. Becker, Antike Textsammlungen in Konstruktion und
Dekonstruktion. Eine Darstellung aus neutestamentlicher Sicht, in: Dies. (Hrsg.),
Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser
Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/Boston, MA 2012, 1–29, 9–13.
53) Vgl. C. Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder
Briefe (ThSt 5), Zürich 2012, 51. Sie betont, dass die »Vorstellung, mit dem Apostolat
des Paulus sei sein ›Amt‹ gesetzt und seine Autorität legitimiert«, anachronistisch
ist (92).
54) Sicher sind nur 1Kor 7,10 ff.; 9,14; 11,23 ff., wobei 1Kor 7,25 deutlich erkennen
lässt, dass in diesen Worten eine besondere Autorität gesehen wurde. Vgl. zu
ihrer seltenen Nutzung durch Paulus J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker
(UTB 2014), Tübingen 32009, 131.
55) Vgl. ebd.
56) Vgl. Schröter (s. Anm. 5), 79. Es scheint allerdings so zu sein, dass am Ende
des 1. Jh.s n. Chr. die Zahl der Schriften und damit der Umfang feststeht. Vgl. O.
Gussmann, Die Kanonisierungsprozesse frühjüdischer ›Heiliger Texte‹. Eine Einführung,
in: Becker (Hrsg.), Kanon (s. Anm. 52), 222–228, 226 f. Die genaue Textgestalt
war ebenfalls noch im Fluss. Die rabbinische Bewegung hat allerdings auf
eine Vereinheitlichung hingewirkt, wovon die masoretische Tradition zeugt.
57) Vgl. Becker, Autorität (s. Anm. 30), 82 f.
58) Vgl. Schnelle (s. Anm. 52), 251.
59) Vgl. dazu E. Reinmuth, Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung
in die Lektüre des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002, 106; M.
Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft
der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe, in: F. W. Horn
(Hrsg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche
Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 239–272, 269; E.-M. Becker, Autobiographisches
bei Paulus. Aspekte und Aufgabe, in: Dies./P. Pilhofer (Hrsg.), Biographie
und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 67–87, 71.
60) Nach Schnelle (s. Anm. 52), 317, »lässt 2Thess 2,2 vermuten, dass auch Gegner
die Autorität des Paulus durch Pseudepigraphen in Anspruch nahmen«. Zur
Diskussion um die Authentizität des Briefes vgl. T. Holtz, Thessalonicherbriefe,
TRE 33 (2002), 412–421, 418 f.
61) Vgl. Söding (s. Anm. 5), 64.
62) Schröter (s. Anm. 5), 79.
63) Hartenstein (s. Anm. 5), 742.
64) Die Kriterien für die Kanonizität der neutestamentlichen Schriften (Apos -
tolizität und Übereinstimmung mit dem Bekenntnis) sind meiner Ansicht nach
eine Deutung der Ergebnisse dieses Prozesses. Zu ihrer kritischen Reflexion vgl.
M. Ludlow, ›Criteria of canonicity‹ and the Early Church, in: J. Barton/M. Wolter(Hrsg.), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons/The Unity of Scripture
and the Diversity of the Canon (BZNW 118), Berlin/New York, NY 2003, 69–
93, besonders 89 f. Die von Josephus vertretene frühjüdische Sicht, dass die
biblischen Texte von Propheten verfasst seien, bzw. entsprechend die rabbinische
Sicht einer Abfassung zwischen Mose und Esra stellt eine vergleichbare
nachträgliche Deutung dar. Noch Origenes stellt fest, dass beispielsweise die synoptischen
Evangelien »allein ohne Widerspruch in der Kirche Gottes, soweit sie
sich unter dem Himmel ausbreitet, angenommen werden«. Siehe Eusebius,
KG VI 25,4 (Übers. H. Kraft, Eusebius von Caesarea. Kirchengeschichte, Darmstadt
31997, 299). Origenes re flektiert später ausdrücklich über den Diskurs, der
dazu geführt hat, dass man den Hebräerbrief als Paulusbrief ansah (siehe Eusebius,
KG VI 25,13 f.).
65) Vgl. Slenczka (s. Anm 1), 96 f.
66) Vgl. a. a. O., 110.
67) Vgl. a. a. O., 118 f.
68) F. Hartenstein, Weshalb braucht die christliche Theologie eine Theologie
des Alten Testaments?, in: Gräb-Schmidt/Preul (Hrsg.) (s. Anm. 1), 19–47, 47 (Hervorh.
dort), spricht von einer »fundamentale[n] Wechselseitigkeit der hermeneutischen
Bewegung zwischen den beiden Teilen des christlichen Kanons «.
69) Zur These von Campenhausen, Marcion sei mit seinem Eingriff die Initialzündung
für die Definition des christlichen Kanons gewesen, vgl. Greschat
(s. Anm. 52), 57 f.
70) Ein ähnlicher Versuch ist in der rabbinischen Literatur wahrscheinlich
mit Bezug auf die Geltung der mündlichen Tora bezeugt. Darin wird bei der
Frage, ob man im Rahmen der liturgischen Rezitation des Schema‘ Israel den Dekalog
lesen solle, die Antwort gegeben, dass darauf verzichtet werde, weil eine
Gruppe von nicht näher definierten Abweichlern behauptet, dass nur die Dekaloggebote
tatsächlich von Gott gegeben seien. Ich beziehe mich hier auf yBer
1,5,3c und SifDtn 2. Vgl. dazu G. Stemberger, Der Dekalog im frühen Judentum,
in: Ders., Judaica Minora I (s. Anm. 51) 145–158, 154 f. Auch dort und bei der Reduktion
der Tradition auf die schriftliche Tradition durch die Karäer wurde massiv
in die Identitätskonzepte des Judentums eingegriffen. Letztlich hat sich das
weitere Verständnis von Tora im Judentum durchgesetzt.