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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

525–527

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kirchhoff, Thomas, Karafyllis, Nicole C., u. a. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XVII, 368 S. = UTB 4769. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-8252-4769-0.

Rezensent:

Christian Danz

Natur mag es ohne den Menschen und auch bereits vor seinem Auftauchen gegeben haben, aber schon diese Auskunft setzt den Menschen voraus. Alles Reden von einer Natur, sei dies nun wissenschaftlich oder vorwissenschaftlich, religiös oder ästhetisch, de- oder präskriptiv, ist ohne den Menschen und seine stets geschichtlich eingebundene Lebensform nicht möglich. Naturbegriffe oder Theorien der Natur sagen daher stets auch etwas über den Menschen, der sich im Verhältnis zur Natur mitthematisiert. Das gilt gleichermaßen für die seit der Antike konzipierten Naturphilo-sophien, die, nachdem sie um 1800 einen enormen Aufschwung erfahren haben, im Horizont der Entstehung des Neukantianismus in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in den Hintergrund gedrängt und von den exakten Naturwissenschaften geradezu abgelöst wurden. Gleichwohl blieben, wie die Kontroversen über Materialismus und Naturalismus am Ende des Jahrhunderts sowie deren vielfältige Weiterführungen im 20. Jh. deutlich machen, naturphilosophische Fragen als Themenstellung präsent. Da jedoch mit dem Bedeutungsverlust der Naturphilosophie auch deren institutionelle Verankerung an den Universitäten beschnitten wurde, verkümmerte geradezu das Reflexionsniveau naturphilosophischer Debatten und Kontroversen auf Feuilletonniveau.
Dem möchte das hier anzuzeigende Lehr- und Studienbuch Naturphilosophie entgegensteuern. Die Aufgabe einer Naturphi-losophie sei es, »die Pluralität von Naturwahrnehmungen und Naturdeutungen mit ihren historischen Fundierungen im Spiel zu halten und zugleich, im Sinne von Orientierungswissen, Strukturen und Relationen des Naturwissens und Naturdenkens aufzuzeigen« (XI). Dieses Anliegen wird, um es vorwegzunehmen, von den Beiträgern des Bandes geradezu mustergültig umgesetzt. Herausgegeben ist das Lehr- und Studienbuch von einem ganzen Forscherteam, das an der FEST in Heidelberg sowie an anderen Universitäten tätig ist. Neben Thomas Kirchhoff und Nicole C. Karafyllis erscheinen Dirk Evers, Brigitte Falkenburg, Myriam Gerhard, Gerald Hartung, Jürgen Hübner, Kristian Köchy, Ulrich Krohs, Thomas Potthast, Otto Schäfer, Gregor Schiemann, Magnus Schlette, Reinhard Schulz und Frank Vogelsang als Herausgeber. Die Beiträge des Bandes wurden im Rahmen einer sechsjährigen Arbeitsgruppe zum Thema »Natur begreifen – Natur schützen« an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. sowie der FEST in Heidelberg erarbeitet und immer wieder diskutiert (XVII). Das sieht man dem Buch, seiner durchdachten und wohlüberlegten Konzeption an, in dem die einzelnen Beiträge aufeinander abgestimmt sind.
Untergliedert ist der Band in vier Hauptteile. Umfangreiche Personen- (335–340) und Sachregister (340–368) erschließen dem Benutzer das Studienbuch. Nach einer Einleitung, die über Ziele und Inhalte des Studienbuches informiert (XI–XVII), wendet sich der erste Abschnitt Geschichte und Systematik (1–90) der Geschichte der Naturphilosophie zu. Durch die Verschränkung von systematischen und historischen Perspektiven wird dem Leser die Transformation der Semantiken von Naturkonzeptionen seit der Antike erschlossen. Einsetzend mit den Stichworten Kosmos und Universum werden Natur als Schöpfung (23–31), Mathematisierung der Natur und ihre Grenzen (32–41), aber auch Natur und Recht (42–50) sowie diverse Streitsachen aus dem 19. Jh. (66–72) bis hin zu gegenwärtigen Möglichkeiten und Grenzen einer disziplinären Bestimmung der Naturphilosophie (82–90) diskutiert. Jedem Einzelbeitrag ist weiterführende Literatur beigefügt, so dass sich der Leser in die Themenstellungen vertiefen kann. Interne Verweise erschließen begriffliche Netze. Eine vorangestellte Einleitung (3 f.) bietet einen Überblick über das Themenfeld.
Vor dem Hintergrund der Geschichte der Naturphilosophie erörtert der zweite Abschnitt Grundbegriffe der Naturphilosophie (91–170). Aufnahme finden die Begriffe Natur, Schöpfung, Kosmos und Welt, Raum und Zeit, Quanten und Felder, Materie, Kraft, Energie, Naturgesetz, Kausalität, Determinismus, Struktur, Sys­tem, Information, Landschaft, Leben und Mensch. Jeder Artikel bietet einen prägnanten Überblick über die Begriffsgeschichte, Kontroversen über die Deutung sowie die Ambivalenz der jeweiligen Begriffe. Zu den Artikeln angeführte Literatur regt zur weiteren Beschäftigung an. Eine Schlüsselstellung im Aufbau des Lehrbuches kommt dem Abschnitt Naturverhältnisse zu (171–254). Er leitet nicht nur über zum letzten, cum grano salis anwendungsorientierten Teil des Buches, das Kapitel systematisiert und problematisiert vor allem Naturbegriffe und deren binäre Konstruktionen. Naturbegriffe gibt es ebenso wie deren vielfältige Imaginationen lediglich im Plural. Das hat seinen Grund darin, dass Mensch-Natur-Verhältnisse selbst geschichtlich geworden und deren Deutungen in den jeweiligen Feldern umstritten sind. Thematisiert werden im Einzelnen so unterschiedliche Relationen und Perspektiven auf die Natur wie die des Leibs (176–185) oder der Geschlechter (239–247), aber auch ästhetische (186–195), narrative (224–231) oder religiöse Naturverhältnisse (232–238) sowie die Thematik eines Jenseits der Naturverhältnisse: Natur ohne Menschen (248–253). Freilich, auch Letzteres lässt sich nur aus der Perspektive des Menschen thematisieren.
Naturphilosophie in der Praxis (255–331) ist der letzte Abschnitt des Buches überschrieben. Es bündelt die historischen, begrifflichen und systematischen Perspektiven mit Blick auf Kontroversen, die sich im Umgang mit der Natur entzünden. Die hier behandelten Themen sind ausgewählt nach »der Aktualität der Themenstellung und nach der systematischen und historischen Reichweite der jeweiligen Problematik« (258). Die behandelten praktischen Themen sind Natur in Bildung und Erziehung (261–270), Natur essen (271–280), Grüne Gentechnik (281–291), Kein Honigschlecken: Bienen als »Ökosystemdienstleister« und natürliche Mitwelt (292–302), Von Wölfen, Hunden und Menschen (303–312), Von der Sehnsucht nach Wildnis (313–322) und Faszination Kosmologie (323–331).
Das vorliegende Lehr- und Studienbuch Naturphilosophie bietet einen gelungenen Ein- und Überblick über die Themenfacetten einer Philosophie der Natur in interdisziplinären Perspektiven. Den Herausgebern ist es gelungen, nicht nur die Vielfalt naturphilosophischer Themen bündig zu präsentieren, sondern vor allem auch die Pluralität von Naturverständnissen herauszuarbeiten, die sich einer abschließenden Definition ebenso entziehen wie kurzschlüssigen Antworten auf gegenwärtige Probleme des Umgangs mit der Natur.