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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1305–1307

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Mirbach, Sabine

Titel/Untertitel:

"Ihr aber seid Leib Christi". Zur Aktualität des Leib-Christi-Gedankens für eine heutige Pastoral. Mit einem Vorwort von J. Werbick.

Verlag:

Regensburg: Pustet 1998. 254 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-7917-1594-1.

Rezensent:

Alfred Seiferlein

Worüber sprechen wir, wenn wir über die Kirche reden? Nur über die regelmäßig beim Gottesdienst versammelten Getauften? Über die geschichtliche Gemeinschaft von Menschen? Über die Gruppe von Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer zwar nicht aktiv beteiligen, aber auch (noch?) nicht aus ihr ausgetreten sind? Über die Institution mit ihren Gremien und dem differenzierten Verwaltungsapparat? Über die empirische Kirche mit ihrer gesellschaftlichen Rolle? Sprechen wir über die "Gemeinschaft der Heiligen" aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis? Oder über das heterogen zusammengesetzte wandelnde Gottesvolk? Oder reden wir über den "Leib Christi", an dem alle Glieder leiden, wenn eines leidet und sich alle freuen, wenn sich ein Glied freut?

"Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die katholische Ekklesiologie eine entscheidende Neuorientierung erfahren. Als biblische Grundlegung steht nun der Volk-Gottes-Begriff in ihrem Mittelpunkt, während die Metapher ,Leib Christi’ nur noch eine untergeordnete Rolle spielt" (13). Diese Verschiebung möchte Sabine Mirbach mit ihrer bei Hansjürgen Verweyen gearbeiteten Dissertation hinterfragen und für eine neue Hinwendung zum Leib-Christi Gedanken ermutigen. "Ziel dieser Arbeit ist, die unverminderte Fruchtbarkeit des Leib-Christi-Gedankens für Ekklesiologie und Pastoral zu erweisen" (13). Steht dieses Vorhaben zunächst unter dem Verdacht, einer vorkonziliaren Ekklesiologie verpflichtet zu sein, so stellt sich bei der Lektüre des Buches das ernsthafte Bemühen heraus, für das Kirchenverständnis einen Horizont wieder zu gewinnen, der weithin nur noch wenig (zu wenig!) Beachtung findet, obgleich er im Neuen Testament und insbesondere in der Epoche der Patristik einen gewichtigen Platz einnimmt.

Das methodische Vorgehen M.s erscheint dem Leser ungewohnt: Nicht Paulus, der wichtigste Urheber des Leib-Christi-Gedankens und die deuteropaulinischen Interpretationen werden zuerst analysiert, sondern den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden die ältesten nicht-kanonischen Bezeugungen der Leib-Christi-Metapher für die Kirche. Das Argument der Vfn. für dieses Vorgehen ist zunächst überzeugend: Eine Analyse dieses biblischen Terminus könne die neueren exegetischen Erkenntnisse nicht ignorieren, die nachbiblischen Interpretationen aber wären ohne diese neuen Erkenntnisse entstanden. Die methodische Vorentscheidung kann aber dann doch nicht durchgehalten werden: Da eine völlige Ausblendung des heutigen Bewußtseins beim Gang durch die Theologiegeschichte erkenntnistheoretisch nicht möglich ist, kommt M. nicht umhin, in der Einleitung (!) wesentliche Grundzüge der paulinischen und der deuteropaulinischen Deutung des Leib-Christi-Begriffs zu skizzieren.

Im ersten Kapitel analysiert M. die Vorstellung vom Leib Christi schwerpunktmäßig in der Alten Kirche. Vom Ersten Clemensbrief, über Ignatius, Irenäus, Klemens, Origenes, Tertullian und Cyprian bis hin zu Augustinus reicht der Bogen in der Patristik. Gewissenhaft und sorgfältig werden die Quellen ausgewertet und insbesondere Vergleiche zwischen den einzelnen Interpretationen geboten und Zusammenhänge aufgezeigt. Der zweite - dem Gehalt angemessen - deutlich kürzere Teil des Kapitels bietet dann noch einen Überblick über die weiteren Entwicklungen des Leib-Christi-Gedankens im zweiten Jahrtausend. Hier sind insbesondere die Ausführungen interessant und aufschlußreich, die die Rückwirkungen reformatorischer Leib-Christi-Vorstellungen für das katholische Verständnis bis in die Neuzeit hinein beschreiben (118-121).

Das zweite Kapitel liefert dann einen Einblick in die lehramtlichen Äußerungen zum Leib-Christi-Begriff im zwanzigsten Jahrhundert, wobei die beiden Enzykliken "Mystici corporis", von Papst Pius XII. 1943 veröffentlicht, und "Lumen Gentium", die dogmatische Konstitution über die Kirche des Zweiten Vatikanums aus dem Jahre 1964, mit dem Katechismus der Katholischen Kirche aus dem Jahre 1992 verglichen werden. Dabei fällt für M. der "Weltkatechismus methodisch wie in vielen Einzelaussagen deutlich zurück in Interpretationsmuster, die als überwunden angesehen werden konnten" (159-160).

Das dritte Kapitel versucht die moderne exegetische Diskussion zu den Paulusbriefen und den Deuteropaulinen unter der Perspektive des Leib-Christi-Gedankens darzustellen. Leider verzichtet M. - entgegen ihrer sonstigen guten Übung - darauf, in diesem Kapitel Erkenntnisse und Entwicklungslinien der vorher bearbeiteten Fragestellungen aufzunehmen! Das gewählte methodische Verfahren, die nachbiblischen Interpretationen zuerst zu analysieren, hätte für die exegetischen Untersuchungen fruchtbar gemacht werden können. Ihr systematischer Ansatz verlangt geradezu nach einem solchen Verfahren! Gleichwohl, auch dieses Kapitel ist eine ansprechende Zusammenfassung wichtiger exegetischer Einsichten zum Thema.

So positiv das Urteil über die grundlegenden Kapitel ausfällt, so enttäuscht wird der Leser über die kargen praktisch-theologischen Perspektiven im vierten Kapitel. Für eine Arbeit, die "zur Aktualität des Leib-Christi-Gedankens für eine heutige Pastoral" beitragen möchte, wie es der Untertitel der Veröffentlichung verspricht, sind die angedeuteten Konkretisierungen bescheiden ausgefallen. Nach einer derart gründlichen Fundierung hätte man gerne von der Vfn. gewußt, wie denn das kirchengeschichtlich doch relativ neue Phänomen der distanzierten Kirchenmitgliedschaft mit dem Leib-Christi-Gedanken verbunden werden kann. Oder wie die von immer mehr Gemeindegliedern gewünschte zeitlich-befristete Mitarbeit in Projekten mit diesem ekklesiologischen Ansatz im Einklang steht (vereinzelt werden distanzierte Gemeindeglieder, die punktuelle Angebote wahrnehmen, sogar negativ als Egoisten apostrophiert, die nur sich selbst sehen und ihr Heil in ihrer privaten Beziehung zu Gott suchen; z. B. 207-208; 218). Nur recht unbestimmt klingt an verschiedenen Stellen an, wie das Bild vom Leib Christi die real existierende Konfessionalität des gelebten und verwalteten christlichen Glaubens integriert.

Insgesamt hat M. dessenungeachtet ein wichtiges Buch vorgelegt und sowohl die dogmatisch-ekklesiologische, wie auch die praktisch-theologisch kybernetische Diskussion bereichert. Für eine Kirchentheorie in der Schnittmenge zwischen diesen beiden theologischen Disziplinen liefert die Untersuchung wichtige Grundlagen, wenngleich die systematischen Überlegungen quantitativ und qualitativ deutlich überwiegen.

Das Buch hilft aber auch gerade im ökumenischen Gespräch weiter: Bemerkenswert ist die konsequente Aufwertung der Ortsgemeinde für die katholische Ekklesiologie. Zudem ist die Interpretation des Leib-Christi-Gedankens hilfreich, um einerseits das katholische Problem, die geglaubte Kirche mit der empirischen zu identifizieren und andererseits die evangelische Versuchung, die geglaubte Kirche von der empirischen strikt zu trennen, mit einer neuen Besinnung auf die paulinische Metapher von Kirche zu entschärfen.