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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

271–273

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

McKee, Elsie Anne

Titel/Untertitel:

The Pastoral Ministry and Worship inCalvin’s Geneva.

Verlag:

Genf: Librairie Droz 2016. 976 S. m. 10 Abb. = Travaux d’Humanisme et Renaissance, 556. Kart. EUR 112,80. ISBN 978-2-600-01962-0.

Rezensent:

Martin Keßler

1982 reichte McKee ihre Dissertation zu »John Calvin on the Diaco-nate and Liturgical Almsgiving« am Princeton Theological Seminary ein, an dem sie als Lehrstuhlinhaberin seit Jahrzehnten lehrt und forscht. Ihre Interessen an Calvin und praktischen Fragen des reformierten Kirchen- und Gemeindelebens begleiten sie seit ihrer Qualifikationsarbeit, die 1984 (als Bd. 197) in der Reihe erschien, in der von ihr 1988 »Elders and the Plural Ministry. The Role of Exegetical History in Illuminating John Calvin’s Theology« (Bd. 223) und der nun vorliegende Band folgten. 2001 edierte M. den instruktiven Quellenband »John Calvin. Writings on Pastoral Piety« für die Bibliothek der »Classics of Western Spirituality«; und es ist dieses Werk, auf das sich M. selbst bezieht, um den Ausgangspunkt ihrer jüngsten Studie zu benennen (10). Bescheiden merkt M. an, für das Buch auf drei zuvor veröffentlichte eigene Aufsätze rekurriert zu haben (ebd.). Der Band ist alles andere als ein Sammelband früherer Arbeiten. Er stellt mit knapp 1000 Seiten M.s größte monographische Einzelveröffentlichung dar, die im Umfang nicht nur ihre englische Übersetzung der »Institutes of the Christian Religion« nach Calvins französischer Fassung von 1541 übertrifft, sondern sogar ihre beiden Bände zu Katharina Schütz Zell quantitativ überragt. Es dürfte angemessen sein, M.s jüngste Veröffentlichung als ihr bisheriges opus magnum zu bezeichnen.
Thematisch könnte man M.s Monographien einschließlich der vorliegenden als ein sich vervollständigendes Gesamtbild früher reformierter Amtsstrukturen deuten, die sich mit ausgeprägten Interessen an Calvin und der lebenspraktischen Vielfalt kirchlich-öffentlicher sowie häuslicher-privater Frömmigkeitskulturen verbinden. Bezeichnend für M.s Arbeiten zum Diakonat und Presbyterium ist ein methodisch inklusiver Ansatz, der sozial- und institutionengeschichtliche Perspektiven mit werkgeschichtlichen Studien zu Calvin verschränkt. Der Titel des Bandes umschreibt das bearbeitete Themenfeld angemessen: Im Zentrum steht das pfarramtliche Kollegium und die gottesdienstliche Praxis in Genf zur Zeit Calvins. Das Buch gliedert sich in eine von Calvins Ekklesiologie ausgehende Einleitung, vier aufeinander aufbauende Hauptteile, die sieben durchlaufende Kapitel enthalten, eine kurze Konklusion und einen materialen Anhang, der ein Drittel des Gesamtumfangs ausmacht. Einen Überblick über die Anlage des Werkes vermittelt das nachgestellte Inhaltsverzeichnis (971–975), das sich auf die vier ersten Gliederungsebenen beschränkt, während der Haupttext zwei weitere Überschriftenebenen und eine römische Zählung der obersten Unterkapitel bietet. Überlegenswert hätte es sein können, den gehaltvollen Anhang im Haupttext zusammenhängend zu erläutern (vor den Querverweisen in den Haupt- und Unterkapiteln s. nur kurz 41), in seiner Feindifferenzierung im Inhaltsverzeichnis abzubilden oder dessen nachgestellte Schematisierung (975) in den eigentlichen Anhang zu integrieren.
In die Gesamtanlage ihres Hauptteils führt M. sensibel ein (39–41). Am Anfang des ersten Teils steht eine Annäherung an die Orte und Zeiten der Genfer Gottesdienste. Den topographischen und kalendarischen Ausführungen kommt eine grundierende Bedeutung zu: Sie orientieren über stadthistorische und geographische Besonderheiten Genfs und zeigen kirchen- sowie kulturgeschichtliche Entwicklungen zwischen spätmittelalterlichen Kontinuitäten und reformierten Neuakzenten auf, zu denen auch Veränderungen im Glockenläuten und der zunehmenden Verwendung von Kirchenbänken zählen. Für die drei Genfer Hauptkirchen St. Pierre, Madeleine und St. Gervais rekonstruiert M. gegenüber der bisherigen Forschung (vgl. 70–71) quellenbasiert, überzeugend und übersichtlich (104 f.) die Abfolge und Uhrzeiten der Sonn- und Wochentagsgottesdienste. Sodann geht M. zu den beteiligten Personen über, wobei nicht nur die Prediger, sondern auch die Gottesdienstbesucher bedacht werden. Die Kooperation der Pfarrer (zur zeitgenössischen Vielfalt der Amtsbezeichnungen s. 110–113) wird erstmals aus einem Rotationsprinzip erklärt, nach dem zwei Kollegen an einer Kirche zusammenwirkten, sich jedoch darüber hinaus in der gesamten Stadt gegenseitig unterstützten. Der materiale Anhang (Nr. 3) dokumentiert diese Verbindungen eingehend.
Der zweite Teil bietet eine grandiose Rekonstruktion der gottesdienstlichen Praxis Genfs, die von Sonn- und Wochentagen zu Taufen und Hochzeiten reicht. Charakteristisch für M. ist die intensive Verbindung theologie- und kirchenhistorischer Arbeiten. Immer wieder eröffnet sie neue Themenkomplexe (darunter Sonntagsheiligung, Abendmahlsverständnis oder die Genfer Bettage), indem sie einleitend Calvin, beginnend mit der Institutio von 1536, befragt. Einer Beschränkung auf die reformierte Lehre, die sodann mit der sozialen Praxis konfrontiert würde, begegnet man bei M. indes nicht. In fließenden Übergängen bezieht M. Predigten, Katechismen, Korrespondenzen, kirchenamtliche und stadtpolitische Dokumente ein, um die Chronologie der genetischen Entwicklungen und lebenspraktischen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Auch finden Kritiker Calvins und einzelner kirchlicher Besonderheiten in Genf Be­rücksichtigung, unter denen bekannte Namen ebenso anzutreffen sind wie Handwerker aus der örtlichen Gemeinde.
Von großer Bedeutung sind M.s Erhebungen zur Predigtpraxis in Genf, die im zweiten Teil angelegt sind und im Folgeteil mit Blick auf Calvin eigenständig vertieft werden. Die personale Fokussierung scheint nicht intendiert gewesen zu sein; einleitend bedauert M., dass eine umfassendere Perspektive quellenbedingt nicht möglich gewesen sei (40). Umso gewichtiger ist der Gewinn für die Calvin-Forschung. M. schildert die zeitgenössische Überlieferung von Calvins Predigten, dokumentiert die frühe Druckgeschichte (s. dazu Anhang Nr. 9) und die handschriftliche Quellen- sowie heutige Editionslage. Ausgehend von den für Genf rekonstruierten Predigtpraktiken (einschließlich der für einzelne Prediger, Kirchen und Wochentage spezifischen lectio continua) ordnet sie die überlieferten Predigten in eine absolute sowie relative Chronologie und unternimmt eine hypothetische Rekonstruktion der verlorenen Predigten Calvins (von ur­sprünglich 44 Foliobänden zeitgenössischer Mit- bzw. Nachschriften blieben zwölf Bände und einzelne Fragmente erhalten; vgl. 501 f.). Der Anhang (Nr. 7 und 8/1 f.) liefert einen wichtigen Schlüssel zu den überlieferten Predigten und eine hilfreiche Übersicht zur Rekonstruktion der verlorenen (Nr. 10/1–3). Inhaltlich bezieht M. mehrfach nicht edierte Predigtmanuskripte ein (besonders 524–537).
Der letzte Teil widmet sich Hausgottesdiensten und Krankenbesuchen, wobei auch die pastorale Vorbereitung auf den Tod und die Genfer Begräbniskultur berührt wird. Hier wie in der teils zusammenfassenden, teils weiterführenden Konklusion wird deutlich, wie integrativ M. arbeitet, indem sie einseitige Perspektiven zu vermeiden sucht: Ausführungen zu den öffentlichen Gottesdiensten finden ihr Gegengewicht in Studien zur häuslichen Gebetspraxis; Hinweise zu den Predigern werden um solche zur Gemeinde ergänzt; und reformierte und Genfer Spezifika erheben sich aus Vergleichen mit der spätmittelalterlichen Ausgangssituation sowie zeitnahen Entwicklungen in Basel, Straßburg oder Zürich.
M. selbst erwähnt, an dem Buch 15 bis 16 Jahre gearbeitet zu haben (10). Das Ergebnis ist ein großes und bedeutendes Werk. Es wird sich als eine Standardreferenz zu Calvin, Genf und reformierten Konfessionskulturen etablieren. Zugleich markiert es ein inspirierendes Beispiel für anhaltende und grundlegende Quellenarbeit, auf die M. mit ihrem zweiten Satz eingeht, »Fundamental to all research is access to the sources, archival and printed« (9), und zu der sie durch ihre eigenen Forschungen zu motivieren versteht.