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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

250–252

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bayle, Pierre

Titel/Untertitel:

Toleranz. Ein philosophischer Kommentar. Hrsg. v. E. Buddeberg u. R. Forst. Aus d. Franz. v. E. Buddeberg unter Mitwirkung v. F. Heimburger.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2016. 354 S. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2183. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-518-29783-4.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Diese Edition macht einen wichtigen Text verfügbar, auf den Rainer Forst in seinem Standardwerk »Toleranz im Konflikt« bereits ausführlich eingeht. Einleitend erläutern die Herausgeber Pierre Bayles Theorie der Toleranz. Mit der Schrift »Philosophischer Kommentar zu den Worten Jesu Christi ›Nötige sie hereinzukommen‹, in dem mit einigen beweisenden Gründen gezeigt wird, dass es nichts Schändlicheres gibt, als mit Zwang zu bekehren, und in dem alle Sophismen der Bekehrer zum Zwang sowie Augustinus’ Apologie der Verfolgungen zurückgewiesen werden«, machen die Herausgeber eine der wichtigsten Schriften der neuzeitlichen Toleranzphilosophie in deutscher Übersetzung verfügbar.
Die Ausgabe umfasst die ersten beiden Teile des Kommentars, auf die sich B. in der ersten Veröffentlichung 1686 beschränkte, Teil 3 und 4 erschienen 1687 und 1688 und finden in dieser Edition keine Berücksichtigung. Für den theologisch interessierten Leser von besonderem Interesse ist der schon im Titel enthaltene Ansatz einer Auseinandersetzung B.s mit dem Wortlaut des Evangeliums (Lk 14,23), mit dem das Gleichnis vom »Großen Abendmahl« schließt. Danach entwickelt B. in der Argumentation, dass Gewalt nicht nur dem Geist des Evangeliums widerspreche, sondern auch dem »natürlichen Licht der Vernunft«, das allen Menschen eingegeben sei und das sie unabhängig von ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit die Grundsätze der Moral einsehen und erkennen lässt. B. entwickelt argumentativ, dass jede Auslegung der Religion, die diesen Grundsätzen widerspricht, notwendig falsch sein muss. Mit seiner Konzeption einer Trennung von Glauben und Wissen räumt er erkenntnistheoretisch ein, dass Vernunft endlich sei und religiöse Wahrheitsansprüche, die sich auf den Glauben beschränken, nicht in Frage gestellt werden müssen.
In der Einleitung geben die Herausgeber zunächst eine biographische Skizze B.s, um danach in einem zweiten Teil B.s Schrift philosophisch in den Rahmen religiöser Konflikte in der Frühen Neuzeit einzuordnen. Dabei erweisen sich sowohl die Darstellung philosophiegeschichtlicher als auch die allgemeinhistorischer Zu­sammenhänge erhellend für das Verständnis von B.s Schrift. Besonders hilfreich hier und in der gesamten Edition sind die erläuternden Fußnoten, die nicht nur Informationen über die Bezüge zu einzelnen Werken geben, sondern auch zu historischen Persönlichkeiten und Ereignissen. In der biographischen Skizze wird deutlich, dass B.s und seines Bruders religiöse Verfolgung (Widerruf des Edikts von Nantes) impulsgebend für das Thema Toleranz wurde. In der philosophischen Hinführung zu B. gehen Forst und Buddeberg nicht nur auf Denker wie Nikolaus von Kues, Erasmus von Rotterdam und Baruch Spinoza ein, sondern auch etwa auf Sebastian Castellios Schrift »de Haereticis, an sint persequendi«, die sich gegen Calvin und seine Anordnung gewaltsamer Verfolgung von Häretikern richtet, um dann auf B.s Schriften zu kommen. Im dritten Teil ihrer Einleitung geben die Herausgeber einen Überblick über die zentralen Argumente B.s für die Toleranz. B. gibt bereits in seiner Vorrede die Argumente der »Papisten« der Lächerlichkeit preis. Gerade da, wo die Wahrheitsfrage mit den Mitteln der Vernunft nicht zu klären ist, gilt nach B. das Gebot der Toleranz. Die durch die Vernunft einsehbaren Prinzipien bilden das Fundament, das Gott allen Menschen, auch den Nichtchristen, eingegeben hat, und stellen somit die »natürliche Religion« dar. Damit weist B.s Ansatz auf die Aufklärung des 18. Jh.s einschließlich ihrer Begrifflichkeit voraus. Diese den Menschen eingepflanzte Vernunft be­zeichnet B. als ein inneres Licht, dem die Auslegung des Evangeliums nicht widersprechen darf. Das »Nötige sie hereinzukommen«, gefolgt von der Verwerfung derer, die die Einladung nicht annehmen (Lk 14.23), als Rechtfertigung für gewaltsame Bekehrung zu nehmen, muss folglich falsch sein. Einer naiven wortgetreuen Auslegung des Bibelverses erteilt der Philosoph eine Absage, zumal sie nicht nur der Vernunft, sondern auch dem Geist des Evangeliums widerspreche. Da die Vernunft endlich sei und damit bedingt durch partikulare Einflüsse der jeweiligen Umwelt in Religionsfragen zu Differenzen führten, seien Streitfragen in religiösen Dingen letzten Endes nicht mit Mitteln der Vernunft lösbar. Die Verschiedenheit der Meinungen bildet somit eine grundsätzliche Bedingung menschlicher Existenz.
Diese Gedanken entwickelt B. bereits in seiner ausführlichen Vorrede, in der er sich intensiv vor allem mit Denkern auseinandersetzt, die religiöse Bekehrung rechtfertigen, z. B. mit Augustinus, aber auch mit Autoren seiner Zeit. Während der Philosoph sich im ersten Teil in zehn Kapiteln mit der wortgetreuen Auslegung des zitierten Bibelverses (Lk 14,23) auseinandersetzt, gibt er im zweiten Teil in elf Kapiteln »Antwort auf mögliche Einwände« gegen das, was er im ersten Teil bewiesen zu haben beansprucht. Ein Charakteristikum der Gedankenführung B.s ist die diskursive, von durchaus hilfreichen gedanklichen Wiederholungen geprägte Entfaltung seiner Ar­gumente. Die kommentierte Zusammenfassung der Argumente des Philosophen in der Einführung der Herausgeber ist für das Verständnis des reich gegliederten Textes förderlich. Angesichts des dialektischen Diskurses B.s ist auch verständlich, dass das Thema mit den beiden vorgelegten Teilen nicht abgeschlossen ist, sondern in den beiden folgenden Jahren in einem dritten und vierten Teil seine Fortsetzung findet. Die epistemische Selbstrelativierung der Vernunft führt in religiösen Fragen zur Verantwortung des Einzelnen vor seinem Gewissen. Dass B.s Argumentation ihn auch vor Schwierigkeiten stellt, zeigen die Herausgeber ebenso wie ein Zurückbleiben B.s hinter John Locke, indem er in der Verbindung von Religionsfreiheit und politischer Selbstbestimmung eine große Gefahr für die Stabilität des Staates sieht.
Insgesamt legen die Herausgeber eine verdienstvolle Edition vor, die die wertvollen Arbeiten von Rainer Forst zum Thema Toleranz erfreulich ergänzt.