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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

237–238

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lindemann, Andreas, u. Christian Ammer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation. Impulsgeber für die Moderne?

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 274 S. = Erkenntnis und Glaube. Schriften der Evangelischen Forschungsakademie, NF 48. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-05239-4.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der Band verdankt sich einer von der Evangelischen Forschungsakademie im Januar 2017 in Berlin abgehaltenen Tagung. Sie hatte sich das interessante Ziel gesetzt, die ungezählten kirchengeschichtlichen Symposien, die im Jubiläumsjahr der Reformation abgehalten und dokumentiert worden sind, nicht etwa um ein weiteres zu vermehren, sondern in verschiedenen fachwissenschaftlichen Außenperspektiven nach den bis in die Moderne vital gebliebenen wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Prägekräften der Reformation zu fahnden. Dergestalt bietet der Band eine interdisziplinäre, diachron orientierte Kontextualisierung der im 16. Jh. vollzogenen kirchlichen und theologischen Erneuerung, die gerade in ihrer Kombination unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Zugriffsweisen die multivaliden, in Neuzeit und Moderne rea lisierten Transformationspotentiale der Reformation sicht- und greifbar zu machen versteht.
Der Philosoph Volker Gerhardt (Berlin) identifiziert »reformatorische Ideen als Impulse der Aufklärung« (19–40). Die wichtigste dieser Ideen erkennt er in der auf Kant vorausweisenden, durch die Reformation inaugurierten Beanspruchung und Plausibilisierung intellektueller Autonomie, die ihre fortschrittsformierende Kraft auch dort noch bewahrt habe, wo sie über den Bereich des Religiösen nicht allein hinausgeschritten sei, sondern dessen Ursprungsdignität sogar vergessen gemacht habe. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang nicht zuletzt, dass Gerhardt, der gegenüber Luthers »De servo arbitrio« unverhohlene Antipathie eingesteht, dieser 1525 publizierten Kampfschrift gegen Erasmus gleichwohl zurechnet, dass sie mit ihrer eindringlichen Behandlung des Freiheitsproblems bereits die »innere Dialektik der Aufklärung« (28) andeutend freigelegt habe.
Der Rechtshistoriker Mathias Schmoeckel (Bonn) verdichtet seine Untersuchung der »neue[n] Konzeption des Rechts durch die Reformation« (41–68) in die verwegen anmutende, aber begründete These, dass der Versuch, die gesamthistorische Bedeutung der Re­formation transkulturell einsichtig zu machen, wohl am ehesten unter juristischem Blickwinkel aussichtsreich könnte er­bracht werden (vgl. 63). Die Ambivalenzen, welche die reformatorische Tradition als Impulsgeberin der Moderne freisetzte, indem sie den neuzeitlichen Prozess der Umformung überkommener Lehrbildungen und Sozialstrukturen zugleich beförderte und retardierte, vermag Detlef Pollack (Münster) in souveräner Klarheit herauszuarbeiten (69–106). Der Protestantismus, lautet sein Fazit, war »in den im nachkonfessionellen Zeitalter sich vollziehenden sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Umbruch […] selbst hineingestellt. Nur als Teil dieses Umbruchs hat er ihn auch mitgestaltet« (102). Komplementär dazu werden die kulturellen Innovationspotentiale der Reformation für die Geschichte des politischen Denkens (Yves Bizeul [Rostock]; 107–135), für die Emanzipation der Musik wie überhaupt der Künste aus kirchlich normierter Zweckbindung (Helmut Fleinghaus [Herford]; 167–205) und für die Herausbildung eines lesefähigen und -willigen, geistig mündigen Bürgertums (Ursula Kocher [Wuppertal]; 207–234) eindrucksvoll kenntlich gemacht.
Am Ende unterzieht Ulrich H. J. Körtner (Wien) die in reformatorischer Verantwortung betriebene Theologie einer wissenschaftstheoretischen Inspektion (235–270). Die protoaufklärerischen Aspekte, die auch dabei wieder hervortreten, verortet Körtner nicht zuletzt in der konsequenten Bestreitung der Möglichkeit einer von profaner Forschung kategorial unterschiedenen christlichen Methode und Wissenschaft sowie in dem neuzeitlichen Postulat uneingeschränkter Wissenschaftsfreiheit und, damit verbunden, eines »methodische[n] Atheismus«, das mit der lutherischen Figur des Deus absconditus seinen folgeträchtigen Ausgang genommen habe (245 f.).
Während für reformationsgeschichtliche Einzelfragen – beispielsweise nach der Historizität von Luthers Thesenanschlag oder der ökonomischen Geschichtsbedeutung des Calvinismus – schwerlich weitere grundstürzende Erkenntnisgewinne zu erwarten sind, dürfte der vorliegende, durch ein Personenregister er­schlossene Band gewichtige neue, synergistische Forschungsimpulse anregen und sich damit weit über das Verfallsdatum der handelsüblichen Tagungsdokumentationen hinaus als befruchtend erweisen.