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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

114–116

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Boomgaarden, Jürgen

Titel/Untertitel:

Das verlorene Selbst. Eine Interpretation zu Søren Kierkegaards Schrift »Die Krankheit zum Tode«.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 401 S. m. 1 Abb. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 140. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-56447-9.

Rezensent:

Walter Dietz

Wer auf der Suche nach einem gut lesbaren Kommentar zu Søren Kierkegaards (SK) wichtigster Schrift KzT (Die Krankheit zum Tode, 1849) ist, und wer zugleich erwartet, dass SK dort nicht »gegen den Strich« gebürstet, extern verwertet oder mit den schlaueren Augen eines anderen Philosophen gelesen wird, der ist mit Jürgen Boomgaardens Kommentar bestens bedient. Das im Dezember 2015 erschienene Werk diente als Teil einer Habilitationsschrift (Universität Jena 2004) des jetzt in Koblenz lehrenden Theologen.
Den theologischen Charakter der KzT aufzuzeigen, ist das Hauptanliegen des Vf.s. Der erste Teil (A) der KzT behandelt das Phänomen der Verzweiflung immanent, der zweite (B) explizit in der coram-Deo-Relation als Sünde. Der Vf. liest die KzT theologisch vorwärts, dem Aufbau nach jedoch rückwärts (d. h. A von B her; von SKs Aufbaulogik liegt der Sünde die Verzweiflung zugrunde; demgegenüber der Vf.: »Der Verzweiflung liegt die Sünde zugrunde.«, 289). Er versteht die KzT dezidiert theologisch, insbesondere christologisch.
Die zweite Besonderheit seines Zugangs ist, dass er SKs eigene Frontstellung gegen Hegel und den Hegelianismus sehr ernst nimmt und daher jede spekulative Vereinnahmung SKs massiv bekämpft. Schlüsselbegriff ist für ihn der des Paradoxes (307, Anm. 13 mit Bezug auf H. Schröer). Dieser Begriff führt ihn zu der Umkehrung der Hegelschen Logik einer Aufhebung in den Begriff hin zu einem »sich selbst aufhebenden Begreifen«, um anstelle des Begreifens »zum Glauben zu kommen« (374). Mit dieser Deutung bringt der Vf. SK in große Nähe zu Jacobi, aber in schroffen Gegensatz zu Hegel.
Somit gerät er auch auf Kriegsfuß mit der – in sich sehr eindrucksvollen – Interpretation J. Ringlebens. Der Vf. plädiert nicht für einen rationaleren, schon gar nicht für einen spekulativ vereinnahmbaren Kierkegaard. Und dass er die dezidiert theologische Interpretation von Teil B auf A ausweitet bzw. zurückprojiziert (so dass beide in einer Linie stehen und B so glatt als »Fortsetzung« von A erscheint), ist durchaus konsequent. Das heißt, dass Verzweiflung als Sünde zu verstehen und diese nur im Glauben erfassbar ist. In letzter Konsequenz könnte dann Teil A der KzT sogar entfallen bzw. in B aufgehoben werden. Die selbständige Bedeutung von Teil A bleibt samt ihrer impliziten Leitfrage unbeantwortet: Inwiefern sich die – sich als Sünde erweisende – Verzweiflung auch ohne Glaube und Offenbarung – d. h. phänomenologisch immanent – als solche erweisen lässt (in Analogie etwa zu P. Tillichs Begriff der Entfremdung, der sich nicht erst im Licht des Glaubens – dort allerdings erst voll und ganz – erschließt). Die Aufbaulogik (Gesamtkomposition) der KzT wird also bei dem Vf. rückwärtig, d. h. vom Ende her (Teil B), aufgeschlüsselt.
Dieser Zugang ist originell und in sich plausibel durchgeführt, wird aber nicht jedem Ausleger gefallen. Mit zweien geht der Vf. seinerseits besonders ins Gericht: Michael Theunissen (1991/93) und Joachim Ringleben (1995/97). Theunissen kommt besser weg, da der Vf. seine »Negativismusthese« (286) ebenso wie seine nicht weniger fragwürdige »Nihilismus-These« (285 mit Anm. 2) übernimmt, während Ringlebens spekulative, an Hegel orientierte SK-Auslegung schon im Ansatz scharf kritisiert wird. So wie die Textinterpretation selber ist das kritische Verfahren des Vf.s jedoch sehr behutsam und fair, nirgends polemisch. Die gehaltreichen Auseinandersetzungen mit Ringleben und Theunissen sind in kleinen Exkursen in den Kommentartext eingefügt – verstreut, so wie spitze Nadeln in einem samtigen Nähkissen. Herausgegriffen sei im Blick auf die Kritik an Ringleben seine Bemerkung, die Kritik des Dänen am spekulativen System werde von ihm »geglättet« oder entkräftet (21). Allerdings lobt der Vf., dass Ringleben Teil B der KzT mit einbezieht und als theologische Vollendung von SKs Ansatz begreift (vgl. 22). Darin ist sich der Vf. mit Ringleben ganz einig.
Aber was es heißt, dass die Phänomenologie der Verzweiflung in seiner Hamartiologie »theologisch vollendet« (22) werde, das beantworten beide völlig gegensätzlich. Denn die theologische Vollendung vollzieht sich für den Vf. im Paradox, das den Glauben unvermittelt gegenüber Verstand und spekulativer Vernunft stehen lässt. Um diesen paradoxen Charakter aufzuzeigen, greift der Vf. auch über die KzT hinaus (z. B. auf BA und AUN), allerdings ohne auf die Differenz der Pseudonyme zu reflektieren.
Der Titel des Ganzen lautet »Das verlorene Selbst« (vgl. 18 und 144 mit Anm. 5). Das klingt drastisch und ist auch genauso gemeint. Dahinter steht die These, dass das verzweifelte Selbst (ohne Glauben) verloren ist, d. h. nicht nur geschwächt oder defizient, sondern sich selbst verfehlend gelangt es nicht zur Wirklichkeit seiner selbst, bleibt Phantom. Hinzu kommt, dass die Dynamik der Verzweiflung diese nicht aus ihrer Verlorenheit be­freit; d. h. die Verzweiflung ist keine Durchgangsstufe der Selbstverwirklichung (mit kathartischem Effekt), sondern Verlust, Scheitern und Tod (gegen die desperatio fiducialis- und felix-culpa-These, 287 f.; vgl. aber 362: »der Verzweifelte in Richtung des Glaubens strebt hin zu seinem eigenen Grund in Gott«). Der »Ne­gativismus« der Interpretation des Vf.s besteht darin, dass es keine immanente Rettungsdynamik der Verzweiflung gibt, bei der man nur den spekulativen Rettungsanker auswerfen müsste und schon würde die Verlorenheit der Verzweiflung bloß zum vorübergehenden Spuk.
Ganz im Sinne SKs stellt der Vf. den Glauben als das einzig Rettende dar. Dieser Glaube darf weder als spekulativ vermittelt noch durch Spekulation in reiferer Form erlangbar dargestellt werden (gegen Ringleben). Der Vf. macht ihn ganz am Paradox fest (wenngleich das durchsichtige Gründen in Gott an sich nichts Paradoxes ist). Der Glaube, bewirkt durch den Heiligen Geist, vermittelt die Selbstdurchsichtigkeit, die der Mensch von sich aus niemals erlangen kann. Er verankert sich in dem Bewusstsein, dass für Gott alles möglich ist. Außerhalb dieses Bewusstseins gibt es nur Verlorenheit und Verzweiflung. Für diese theologisch steile Interpretation liefert SK selber die Vorlage in Teil B. Die besondere Stärke der Interpretation des Vf.s ist, dass er – sehr geschickt gewählt – Passagen aus den Erbaulichen Reden (insbesondere CR 1848) mit heranzieht, um die KzT zu erläutern. Das ist originell und sehr gut gelungen.
Bemerkenswert ist auch, wie der Vf. den zweiten Teil trinitätstheologisch auslegt: Die als Sünde erkannte Verzweiflung arbeitet sich 1. am Schöpfergott ab, 2. an Christus in dessen Identität mit dem sich erniedrigenden Gott, und (3.) am Heiligen Geist, verbunden mit der Möglichkeit der Vergebung und Vollendung (368 ff.); im dritten Fall wird das Christentum im Kern geleugnet und mit ihm die Möglichkeit einer Selbstoffenbarung Gottes (375). Die »Orientierung der Sündenformen am Trinitätsgedanken« (ebd.) impliziere, dass die Selbstdurchsichtigkeit im Gründen im trinitarischen Gott als »durch den Heiligen Geist« bewirkt zu verstehen ist (376). Die theologische Lesart dominiert die gesamte Interpretation.
Adressat der KzT sei »eine in christlicher Tradition stehende Gesellschaft« (ebd.). Der Vf. verzichtet darauf, nach der Übertragbarkeit auf heutige Adressaten zu fragen (welche, großenteils am christlichen Gehalt der eigenen Kultur verzweifelnd, ihrerseits eben nicht mehr beanspruchen, in einer christlich geprägten Ge­sellschaft zu leben). Seine filigrane, detaillierte und einfühlsame Interpretation überzeugt, auch wenn sie nicht unbedingt geneigt ist, die Fenster nach draußen zu öffnen.
Als Leseprobe empfehle ich das 11. Kapitel (281–289), das prägnant die Pointe seiner Interpretation ersichtlich macht. Das Ganze ist ein exegetischer Kommentar im besten Sinn. Auf die Wirkungsgeschichte der KzT im 20. Jh. geht der Vf. allerdings nicht ein. Das ist aber auch nicht sein Anspruch. Nach Anschlussfähigkeit und Kritik jenes Ansatzes wird nicht eigens gefragt. Aus der Sicht derer, die in ihrer SK-Interpretation von bestimmten Forschungsrichtungen herkommen (z. B. Fichte und Hegel, bzw. Husserl und Heidegger), wird das Werk sehr unbefriedigend wirken, da es deren Interpretationsansatz implizit als defizient (um nicht zu sagen: als verzweifelt und verloren) aufzeigt, indem es Teil B der KzT interpretatorisch hegemonial macht, d. h. vor und über Teil A stellt.
Das Buch ist sehr übersichtlich und sinnvoll gegliedert (7–14). Ein aktuelles Literaturverzeichnis sowie zuverlässige Namen- und Begriffsregister runden den Eindruck eines gewissenhaften, mit einem mächtigen Schuss Empathie und Liebe gestalteten Werkes ab, das in keiner besseren Kierkegaard-Bibliothek fehlen sollte.