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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

67–69

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hoag, Gary G.

Titel/Untertitel:

Wealth in Ancient Ephesus and the First Letter to Timothy. Fresh Insights from Ephesiaca by Xenophon of Ephesus.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2015. XIV, 266 S. = Bulletin for Biblical Research Supplement, 11. Lw. US$ 49,50. ISBN 978-1-57506-829-9.

Rezensent:

Jens Herzer

Wenn ein Titel mit den Worten »Fresh Insights« wirbt, wird man entweder skeptisch oder gespannt sein, zumal wenn es um das oft behandelte Thema »Reichtum« geht. In seiner Dissertation untersucht Gary G. Hoag diese Thematik im 1. Timotheusbrief anhand eines Vergleichs mit dem Liebesroman Ephesiaca des Literaten Xenophon von Ephesus. Der Vergleich legt sich für H. durch die verbindende Thematik des Reichtums und den Bezug zu Ephesus nahe. Dem Problem, das mit der üblichen Einordnung des 1Tim Ende 1. Jh./Anfang 2. Jh. und den Ephesiaca im späteren 2. Jh. verbunden ist, entgeht H. unter Berufung auf »classical and NT scholars« (25) durch eine Frühdatierung der Ephesiaca in die Mitte des
1. Jh.s. Die Datierung des 1Tim hält er offen, geht aber davon aus, dass der Brief kurz nach den Ephesiaca anzusetzen sei und damit in die Wirksamkeit des Paulus gehöre. Abgesehen von diesen problematischen Vorentscheidungen ergeben sich auf der literarischen Ebene des Vergleichs durchaus interessante sozialgeschichtliche Beobachtungen. Nach einer kurzen Erörterung der Kontroverse um die Relation der Reichtumsthematik in 1Tim im Vergleich zu anderen Bereichen des Neuen Testaments (1–10) widmet sich Kapitel 1 zunächst der in den fünf Büchern der Ephesiaca erzählten Liebesgeschichte: Antheia und Habrokomos, Kinder wohlhabender ephesinischer Bürger, verlieben sich während einer Prozession zu Ehren der Artemis, und nach einigen Wirren und Gefährdungen, die sie durch die halbe Mittelmeerwelt und bis nach Indien führen, nimmt ihre märchenhaft-rührselige Geschichte ein »happy end«. H. versteht den Roman als Illustration der »social and cultural world of the wealthy in Ephesus in the first century CE in a de-tailed manner not found in other ancient sources« (16).
Für die vergleichende Analyse wird die sozio-rhetorische Methodik von V. K. Robbins zugrunde gelegt. Diese geht von der Identifizierung verschiedener »Texturen« aus, die jedem Text inhärent seien: »inner texture, intertexture, social and cultural texture, ideological texture, and sacred texture« (21). Das ist hier nicht auszuführen; in der Sache sind diese methodischen Perspektiven nicht so ungewöhnlich, wie H. meint. Er konzentriert sich vor allem auf die Frage nach den interaktionalen Aspekten eines Textes in Bezug auf andere Texte, auf die materiale Kultur, historische Ereignisse, Sitten, Wertvorstellungen, soziale Rollen und Status, Institutionen, Kult- und Gottesvorstellungen etc. Ziel ist es, »to employ multiple lenses in order to discern more precisely how the terms and themes in these teachings may have been understood in an-tiquity« (25 f.).
H. identifiziert fünf Texte aus dem 1Tim, deren »Texturen« im Vergleich mit den Ephesiaca analysiert werden: 2,9–15; 3,1–31; 6,1–2a; 6,2b–10; 6,17–19. Unter Voraussetzung seiner Datierungen erhebt er »The Social Setting and Cultural Rules of the Wealthy in Ephesus in the First Century CE« (so die Überschrift des 2. Kapitels). Hierbei handelt es sich um den interessantesten Teil des Buches, weil an­hand von Inschriften, Münzen, Vereinstexten und anderen Quellen die Bedeutung des Wohlstandes für die ephesinische Stadtgesellschaft anschaulich wird (insbesondere im Zusammenhang des Artemiskultes) und dies als sozialgeschichtlicher Hintergrund der Texte des 1Tim erhellend ist. Freilich werden keine neuen Erkenntnisse geboten, sondern bekannte Quellen unter einem spezifischen Blickwinkel ausgewertet; die Ephesiaca haben hierzu eigentlich nichts Wesentliches beizutragen. Als Hauptaspekt bleibt die alte Weisheit »Reichtum verpflichtet«: Von wohlhabenden Bürgern werden Wohltaten für das Gemeinwesen erwartet, für die ihnen wiederum die Ehrung der Stadt und ihrer Bürger zuteilwird. Dabei spielt der Begriff der εὐσέβεια/pietas eine wichtige Rolle, und zwar in einer Weise, wie er auch im 1Tim bezogen auf das »bürgerliche« Leben (vgl. 2,2) verwendet wird. H. kann zeigen, dass Xenophons Roman diesem sozialgeschichtlichen Muster entspricht, reklamiert aber immer wieder, dass Ephesiaca zu diesen bekannten Mustern Einsichten vermittele, die in anderen Quellen nicht zu finden seien. Davon kann jedoch keine Rede sein. Der Roman bietet (vereinzelt) Beispiele, die bekannte Zusammenhänge illustrieren; sie entsprechen dem Genre, das sich idealtypischer Szenen bedient.
Für das öffentliche Auftreten von Frauen in der Gemeinde, wie es 1Tim 2,9–15 spiegelt, kann H. von den Ephesiaca her die bekannte Deutung veranschaulichen, dass es sich hier um wohlhabende Frauen handeln muss, die wie Antheia im Roman selbstbewusst am religiös-kulturellen Leben teilnehmen (Kapitel 3). Der Begriff für geflochtene Haare (1Tim 2,9: πλέγματα) werde in den Ephesiaca für diejenigen gebraucht, »who served and desired to imitate Artemis« (75). Daher laufe die »ideological texture« von 1Tim 2 auf die Mahnung an reiche ephesinische Frauen hinaus: »For Ephesian women, the ancient voices proclaim: ›Don’t mess with Artemis‹« (81). Als eine »countercultural« Referenz zum Artemiskult versteht H. auch die Forderung an die Frauen zum Lernen in Stille und Unterordnung (1Tim 2,11). Das Lehrverbot für Frauen interpretiert er als »demythologizing the Ephesians’ thinking« (91). Die Aussage der Rettung der Frau durch Kindergebären (2,15) mache gleichsam der Artemis das Terrain streitig. Doch werden die Parallelen interpretatorisch überstrapaziert; der Ausgangspunkt im 1Tim – die Vorstellung des αὐθεντεῖν der Frau über den Mann – wird in Ephesiaca ebenso wenig thematisiert wie Artemis als Göttin des Kindergebärens. 1Tim 2 als Gegenposition zur Artemisverehrung zu verstehen, liest also mehr in den Text hinein, als dieser tatsächlich hergibt: »Women who chose to serve God rather than the goddess of childbearing would put their lives at risk because of the possibility of the wrath of the goddess« (92). Warum aber sollten sich christliche Frauen vor dem Zorn der Artemis fürchten?
Kapitel 4 interpretiert die Qualifizierungskriterien für Führungspositionen in 1Tim 3,1–13 vor dem Hintergrund der Ephesiaca als subversiv bzw. erneut: »countercultural«. Während in der ephesinischen Stadtgesellschaft führende Ämter über »noble birth« erreicht würden, sei die Praxis der Gemeinde bewusst eine andere und insofern »consistent with the instructions of Jesus and other NT teachings« (130). Kapitel 5 schlägt eine neue Lesart der Sklavenparänese in 1Tim 6,2a vor: Sklaven wie Herren »should serve one another even better […]« (158). Das aber passt kaum zum Duktus der Paränese, die sich explizit nur an die Sklaven richtet. Kapitel 6 untersucht die Verbindung von falscher Lehre, Frömmigkeit und der Untugend der φιλαργυρία in 1Tim 6,2b–10. Doch geht insbesondere das Verständnis von εὐσέβεια in den Ephesiaca nicht über das Bekannte hinaus. Jedenfalls ist es kaum gerechtfertigt, aufgrund der Parallelen zwischen 1Tim 6,2b–10 und den Ephesiaca zu schlussfolgern, 1Tim habe insbesondere mit den »Irrlehrern« wohlhabende »leading advocates of Artemis« im Blick. Kapitel 7 schließlich behandelt den für das Thema wichtigsten Text 1Tim 6,17–19. H. legt großen Wert auf den »lexical overlap« der Texte, was aber auch nicht über bekannte lexikalische Einsichten hinausführt. Die Ephesiaca partizipieren in ihrem romanhaften Charakter an sozialen Konventionen, die auch für 1Tim maßgeblich sind, wenn auch auf eine anschaulichere Weise, die durch das spezifische Genre des Romans lebendiger erscheint als so manche Inschrift.
So überwiegt am Ende die Skepsis. H. hat mit seiner Fokussierung auf die Ephesiaca noch einmal auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Setting des 1Tim in der Verbindung mit Ephesus (vgl. 1,3) ernst zu nehmen und nach einer Verankerung der Paulustradition in diesem Umfeld zu fragen. Insbesondere Kapitel 2 ist hier als eine gelungene Darstellung der Bedeutung des Artemiskultes für das gesellschaftliche Leben in Ephesus hervorzuheben und bietet einen Überblick über eine Vielzahl relevanter Quellen, die sonst nur verstreut begegnen. Ob Xenophons Werk dabei mehr Beachtung verdient als bisher, bleibt fraglich. Die Frage nach dem Ort des 1Tim innerhalb der Paulustradition kommt zu kurz, und auch die so-zialgeschichtlichen Referenzen des Briefes müssen in einem weiteren Horizont ausgewertet werden. Das betrifft z. B. die Identifizierung der »falschen Lehre« unter dem Vorzeichen der »fälschlich so genannten Gnosis« (6,20), ein Aspekt, den H. in der Engführung auf die Artemisthematik in den Ephesiaca nicht hinreichend beachtet. Gleiches gilt für die Identifizierung der wohlhabenden Adressaten des 1Tim sowie für die pauschale Behauptung, 1Tim sei hinsichtlich seiner Vorstellungen von Reichtum konsistent mit dem Neuen Testament insgesamt. Abgesehen von den problematischen Datierungen, die für den 1Tim die Autorschaft des Paulus stillschweigend voraussetzen, sind die inhaltlichen Verbindungen zwischen dem 1Tim und den Ephesiaca keineswegs so signifikant, dass sich H.s These als tragfähig erweisen würde. Dazu gehört schließlich auch, dass der Genreunterschied zwischen 1Tim und Ephesiaca (eine normative Gemeindeordnung einerseits und ein märchenhafter Roman andererseits) methodisch nicht hinreichend zur Geltung gebracht wird.
Abgesehen von gelegentlichen Druckfehlern im Griechischen und in Stellenangaben ist ein entscheidender Mangel des Werkes, dass die neueren Forschungen zu den Pastoralbriefen vor allem auch deutscher Provenienz seit 1990 bis auf wenige Ausnahmen ignoriert werden.