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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1352–1354

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Witetschek, Stephan

Titel/Untertitel:

Thomas und Johannes – Johannes und Thomas. Das Verhältnis der Logien des Thomasevangeliums zum Johannesevangelium.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2015. 588 S. = Herders biblische Studien, 79. Geb. EUR 75,00. ISBN 978-3-451-31579-4.

Rezensent:

Enno Edzard Popkes

Seit den Anfängen exegetischer Auseinandersetzungen mit dem Thomasevangelium steht die Frage im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, in welchem Verhältnis die in diesem Werk überlieferten Traditionen zu weiteren frühchristlichen Schulbildungen stehen. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei die Frage, welches Verhältnis zwischen dem Thomasevangelium und dem Johannesevangelium besteht. Dieser Fragestellung widmet sich die Studie von Stephan Witetschek, die im Sommersemester 2013 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen wurde.
Die Einleitung (11–51) bringt zunächst zur Geltung, welche disparaten Erklärungsversuche die bisherigen Forschungen zum Thema prägten (11–15). Daraufhin werden die grundlegenden Herausforderungen exegetischer Auseinandersetzungen mit dem Thomasevangelium erläutert, insbesondere in Bezug auf die Quellenlage, Textüberlieferung und die Frage nach dem literarischen Charakter des Thomasevangeliums (16–33). Vor diesem Hintergrund werden die prinzipiellen Probleme einer Verhältnisbestimmung zwischen dem Thomasevangelium und dem Johannesevangelium skizziert, wobei wiederum die bisher vorliegenden Erklärungsansätze gewürdigt werden (34–51). Angesichts der skizzierten methodischen Probleme wählt W. einen Ansatz, der nicht nach einem generellen Verhältnis der beiden Evangelien fragt, sondern nach dem Verhältnis der einzelnen Traditionsbestände, die durch dieselben überliefert werden. In diesem Sinne werden in der »Durchführung« (53–503), dem exegetischen Hauptabschnitt der Studie, vierzig Lo­gien des Thomasevangeliums in Bezug auf ein Verhältnis zu johanneischen Traditionen untersucht (neben dem Prolog handelt es sich um die Logien EvThom 1; 3–4; 8; 11; 13; 17–19; 21; 24–25; 27–28; 30; 37–38; 40; 42–43; 49–52; 56/80; 58–59; 61; 69; 71; 76–78; 91–92; 108; 111; 114). Dies sind somit deutlich mehr analysierte Vergleichsgrößen als in bisherigen Arbeiten zum Thema berücksichtigt wurden. Dabei wird jedes einzelne Logion auf seine spezi-fische Gestalt hin gewürdigt und religions- und traditionsgeschichtlich profiliert. Nachdem W. bereits die einzelnen Analysen der seines Erachtens themenspezifisch relevanten Logien jeweils mit einem Fazit abgeschlossen hat, kommt er abschließend zur Formulierung eines Gesamtergebnisses (505–513). Auf das Literaturverzeichnis folgt ein Stellen- und Namenregister, welches die Arbeit mit der Studie erleichtert (557–584). Kritisch moniert werden muss freilich, dass die Anfertigung eines Sachregisters angesichts der Komplexität der Themenstellung ebenfalls sinnvoll gewesen wäre.
Im Rahmen der vorliegenden Rezension ist es nicht möglich, die einzelnen Analysen der von W. ausgewählten Bezugspunkte des Thomasevangeliums zum Johannesevangelium zu würdigen. Dies gilt sowohl für die Aufarbeitungen der bereits seit langer Zeit de­battierten Bezugspunkte zwischen dem Thomasevangelium und dem Johannesevangelium (vgl. u. a. EvThom 27/28 bzw. EvThom 77) als auch für jene Bezugspunkte, die in bisherigen Diskursbeiträgen kaum debattiert wurden. Angesichts dessen sollen im Folgenden jene Erträge betrachtet werden, die W. in seinem Gesamtergebnis formuliert und welche für weiterführende Diskurse von zentraler Bedeutung sein werden. Im positiven Sinn sei konstatiert, dass die Studien von W. einen Aspekt zutage treten lassen, der für viele Auseinandersetzungen mit dem Thomasevangelium gelten sollte, nämlich das Eingeständnis einer docta ignoratia, also einer gelehrten Unwissenheit, die W. selbst als ein »insgesamt […] ziemlich ernüchterndes Ergebnis« bezeichnet (506). Meines Erachtens zu Recht resümiert W., dass »eine Aussage über das ›Thomasevangelium‹ und sein Verhältnis zum Johannesevangelium eigentlich gar nicht möglich ist.« (506) Gerade angesichts des literarischen Charakters des Thomasevangeliums könne nur in Bezug auf jede einzelne Tradition erörtert werden, inwieweit zwischen diesen Überlieferungen und ihren jeweiligen Trägerkreisen Beziehungen bestanden haben könnten. Letzteres verdient besondere Aufmerksamkeit. Obwohl W. zufolge auf der Ebene der Verschriftlichung zwar nur schwer die jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisse der Traditionsbestände herausgearbeitet werden können, kommt er zu der Einschätzung, dass die »mehrschichtigen Kontakte zwischen den Texten […] einen direkten Kontakt der Träger dieser Texte vermuten« lassen (508). Diese Überlegung wird nochmals zugespitzt:
»Wir wissen nicht ob sie sich persönlich kannten, aber die engen Kontakte ihrer Texte auf verschiedenen Ebenen bzw. Entwicklungsstufen sprechen dafür, dass die beiden Texte – das Johannesevangelium als redigierte Erzählung, das Thomasevangelium als Sammlung – in einem Zusammenhang entstanden sind, der nicht nur intellektueller, literar- und tradi- tionsgeschichtlicher, sondern auch realer und sozialer Natur war.«
Diese meines Erachtens berechtigten Überlegungen eröffnen je­doch eine Diskussionsebene, welche in der Studie von W. zu wenig herausgearbeitet wird. Seinem methodischen Ansatz zufolge konzentriert sich W. auf jene potenziellen Bezugspunkte, welche auf einer stilistischen, literarischen und metaphorischen Ebene aufgewiesen werden können. Darüber hinaus sollte jedoch weitergehend gefragt werden, in welcher Weise auch jene konträren theologischen Konzepte miteinander verglichen werden können, für welche diese Traditionsbildungen stehen und die nicht unmittelbar miteinander verglichen werden können. W. führt derartige Überlegungen z. B. in Ansätzen in Bezug auf konträre Themenfelder wie die Auferstehungsvorstellungen bzw. das Motiv der Präexistenz der wahren Jünger Jesu im Thomasevangelium und die Präexistenz Jesu im Johannesevangelium durch. Entsprechend deutet er an, inwieweit die konträren Funktionalisierungen der Gestalten des Thomas und des sogenannten »Lieblingsjüngers« die Akzentunter schiede in nuce zutage treten lassen. Diese Aspekte aufgreifend sollte in der weiteren Forschung noch mehr beachtet werden, inwieweit derartige Diskurse in und hinter den Texten auch in der Wirkungsgeschichte dieser Zeugnisse aufgenommen wurden (vgl. u. a. die Adaption des sogenannten »Lieblingsjüngers« in der Rahmenhandlung des sogenannten Johannesapokryphons, welches seiner literarischen Ge­staltung nach eine Zusatzoffenbarung zum Johannesevangelium sein soll, die sicherlich nicht durch Zufall im zweiten Kodex der Nag-Hammadi-Kodizes unmittelbar vor der koptischen Fassung des Thomasevangeliums angeordnet ist. Ebenso ist in Bezug auf die chronologische Verortung der Anfänge der Thomastraditionen zu fragen, ob der Verfasser des Johannesevangeliums die von ihm literarisch stilisierte Thomas-Figur völlig frei wählt, oder ob dieselbe durch eine bereits mit diesem Namen verbundene Schulbildung inspiriert wurde. Derartige Zugangsperspektiven werden durch den von W. gewählten methodischen Ansatz, der besonders von den durch das Thomasevangelium überlieferten Traditionen ausgeht, zu wenig erfasst.
Diese Rückfragen sollen jedoch den prinzipiellen Wert dieser Studie in keiner Weise infrage stellen. Abschließend kann festgehalten werden, dass die Habilitationsschrift von W. einen wichtigen Beitrag zur weiteren Erforschung des Verhältnisses dieser beiden Zeugnisse bietet, der in den weiteren Diskursen seinen festen Platz einnehmen wird.