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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1332–1334

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Eck, Joachim

Titel/Untertitel:

Jesaja 1 – Eine Exegese der Eröffnung des Jesaja-Buches. Die Präsentation Jesajas und JHWHs, Israels und der Tochter Zion.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XVIII, 410 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 473. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-040293-3.

Rezensent:

Ulrich Berges

Diese Monographie ist als Promotionsschrift unter der Leitung von Burkhard M. Zapff in Eichstätt entstanden und wurde dort im Sommersemester 2013 angenommen. Die Arbeit ist klar gegliedert. Nach einer kurzen Einleitung (1–10) folgt die Übersetzung mit ausführlichen textkritischen Anmerkungen (11–27). Den Hauptteil bildet die Textexegese (28–365), wobei sich Joachim Eck fast ausschließlich auf die Überschrift (1,1) und die nachfolgende Perikope (1,2–9) beschränkt. Das Gesamtkapitel kommt nur auf wenigen Seiten als »Überblick über die synchrone Textstruktur« zur Sprache (81–90). Beschlossen wird diese Arbeit durch Überlegungen zum theologischen Ertrag (366–386), das Literaturverzeichnis und die üblichen Indizes (387–410).
Man kann dem Vf. nur zustimmen, wenn er betont, Jes 1 habe eine eigene ausführliche Untersuchung verdient. Nach dem einflussreichen Artikel von Georg Fohrer aus dem Jahre 1962 (»Jesaja 1 als Zusammenfassung der Verkündigung Jesajas«) ist das Anfangskapitel immer wieder analysiert worden, aber eben nicht auf mo­nographischer Basis. Hier setzt die Arbeit an, aber mit einem deutlich reduzierten Ansatz, denn angesichts der komplizierten und nicht konsensfähigen diachronen Modelle zur Entstehung von Jes 1 wird der Hauptakzent auf die sprachliche Gestalt und Theologie des Kapitels gelegt (7). Doch ist der theologische Ertrag kaum losgelöst von der literarhistorischen Entwicklung des Textes zu erheben. So bietet der Vf. am Ende seiner Arbeit auch eine »Zusammenfassung der literar- und redaktionskritischen Beobachtungen mit Datierungsrahmen« (364 f.). Darin werden Jes 1,5–7a.8 als ältester Kern aus neuassyrischer Zeit angegeben. Die »jüngste durchgehende Redaktionsschicht« bestünde aus 1,1b.2a.7b.9.10. 18–20.27–28.31; 2,1.5 und habe bereits das ganze Jesajabuch in nachexilischer Zeit vor Augen. Die Verse 1,29–30 seien dann noch ein wenig später hinzugefügt worden.
Die Frage ist unausweichlich: Wer hat denn in spätnachexilischer Zeit einen so fragmentiert entstandenen Text in seine Endform gebracht, mit welchem Ziel, auf welche Leserschaft hin? Eine erste Antwort liefert der Vf. durch seine detaillierten Beobachtungen zu allen prophetischen Überschriften (29–79). Die Überschrift in Jes 1,1 gehöre zum »visionären Überschriftentyp« (u. a. Jes 2,1; 13,1; Am 1,1), bei der die Person des Propheten als Offenbarungsmittler hervorgehoben sei. Demgegenüber unterstreiche der »Wortereignis-Überschriftentyp« (u. a. Joël 1,1; Hos 1,1; Zef 1,1; Mi 1,1) die Autorität des göttlichen Wortes, die in Übereinstimmung mit der mosaischen Verkündigung stehe (57). Die beiden Typen von Überschriften stehen laut dem Vf. »wahrscheinlich für zwei Herausgeberschulen, die lange parallel nebeneinander existierten« (58). In Jes 1,1 kommt der visionäre Charakter durch das entsprechende Nomen und Verb besonders zur Geltung, was nur als Reflex auf den Visionsbericht in Jes 6 verständlich ist. Der Prophet Jesaja sei durch die Überschrift als eine Person gekennzeichnet, »die über die göttliche Gabe visionären Schauens im Sinne der Fähigkeit, eine komplexe Offenbarungswirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen und zu verstehen, verfügt und diese Gabe im Bezug auf Juda und Jerusalem einsetzt« (78). Nicht nur die erneute Überschrift in 2,1, sondern auch die nachfolgende Vision vom endzeitlichen Zug der Völker zum Zion (2,2–5) beziehe sich vielfältig auf Jes 1, so dass eine Neuinterpretation in eschatologischer Perspektive vorliege (81). Die Einteilung des Anfangskapitels mit den Versen 1,1.2–9.10–17.18–20.21–26.27–31 kann als klassisch bezeichnet werden (90). In langen Ausführungen zur prophetischen Gerichtsrede (Rîb-Pattern) lehnt er diese in der Forschung etablierte Gattung völlig ab. Keiner der dafür ins Feld geführten Texte (besonders Jer 2, Hos 4, Mi 6, Dtn 32; Ps 50) könne eine solche Hypothese substantiieren. Da der Vf. die Gattung ablehnt, kann Jes 1 ebenfalls nichts damit zu tun haben (143).
Noch radikaler stellt sich der Vf. auf, wenn er die bundestheologische Konnotation in Jes 1 trotz der Nähe zu Dtn 32 (Anrufung von Himmel und Erde als Zeugen) gänzlich zurückweist (131.145 f.). Dies gilt auch, obschon H. G. M. Williamson in die gleiche Richtung geht (vgl. dessen Kommentar zu Jes 1–5 in ICC 2006, 25 ff.). Es zeichnet doch gerade prophetische Schriftgelehrsamkeit in nachexilischer Zeit aus, dass Motive und Vorstellungen aus den unterschiedlichen Bereichen der dtn/dtr Sprachwelt, der Weisheit, den Erzelternerzählungen, den Psalmen etc. in kreativer Weise zusammengestellt wurden. So kann es nicht verwundern, dass die alther gebrachte Gattungskritik zur Analyse solcher Textphänomene nicht mehr ausreicht. Aber muss man das Kind gleich mit dem Bade ausschütten und jegliche bundestheologische Färbung in Jes 1 in Abrede stellen? Diese Rückfrage wird dadurch gestützt, dass der Vf. bei der Analyse von 1,2a auf die eindeutige Übereinstimmung zum Beginn des Mose-Liedes in Dtn 32,1 hinweist, durch die Jesaja als legitimer Nachfolger des Mose dargestellt wird (162). Wenn dem so ist, wie kann dann eine bundestheologische Färbung gänzlich negiert werden?
Dass der Vf. letztlich nur die Überschrift und die Verse 2–9 auslegt, ist nach dem Titel des Buches überraschend. Für diese Perikope schlägt er die Einteilung V. 2–4.5–7.8–9 vor, die sich an inhaltlich thematischen Eindrücken festmacht (153). Dem Lexem עשפ »brechen mit/abfallen« in 1,2b widmet der Vf. besondere Aufmerksamkeit und verweist dabei zu Recht u. a. auf Jes 59,13 und 66,24. Aber die weiteren Einträge in 57,4; 58,1; 59,12.20 hätten ebenfalls bedacht werden müssen (vgl. Jes 53,5.8.12), denn dann wäre die bundestheologische Bedeutung unabweisbar geworden. Nach Jes 59,20 kommt JHWH nur zu denen als Löser an den Zion, die sich vom »Treubruch in Jakob« abwenden und somit nicht zu »Edom« – dem alter Ego des Erzvaters – gehören (vgl. Jes 63,1–6). »Treuebruch/Abfall« setzt ipso facto ein wie auch immer geartetes Bundesverhältnis voraus, was der Vf. auch implizit eingesteht, wenn er auf S. 233 zusammenfasst, Israel habe auf Gottes Erwählung und Zuwendung in negativer Weise geantwortet, da es JHWH die Treue gebrochen habe. In Jes 1,5–7a.8 sieht der Vf. ein altes jesajanisches Fragment aus neuassyrischer Zeit, das mit der Belagerung Sanheribs im Jahre 701 v. Chr. in Verbindung steht. Dass der Ausdruck »Tochter Zion« in Passagen, die dem Propheten Jesaja zugesprochen werden, sonst nicht vorkommt, spreche nicht dagegen, denn dieser Befund sei »durch die Geschichte der Überlieferung bedingt« (351). Das mag sein, muss aber unbewiesen bleiben. Der Ausdruck »Tochter Zion« spricht nicht automatisch gegen eine jesajanische Verfasserschaft, aber sicherlich auch nicht für eine solche! Das deutet der Vf. selbst an, da er den nachexilischen Einschub von Jes 37,22–29 in die Diskussion um die »Tochter Zion« mit einbezieht und den Eindruck erweckt, Jes 1,8 und 37,22 lägen auf einer sehr späten, wenn nicht gar der letzten Redaktionsebene des Gesamtbuches (359). Im Schlusskapitel »Theologischer Ertrag« (366–386) fasst der Vf. die Ergebnisse zusammen. Als Visionär sei Jesaja ein Prophet, der in der Nachfolge des Mose stehe (366 ff.). Das ist unbestreitbar richtig, aber die Tora vom Zion in 2,2 ff., die offen für die Völker ist, übersteigt die göttliche Offenbarung an Mose. Missverständlich ist die als Zwischenüberschrift platzierte Aussage, die »Tochter Zion« in 1,8 sei ein »zufälliges Überbleibsel« (380). Zion und ihre Kinder, die »Wir«-Gemeinde, sind keineswegs eine Zufälligkeit, sondern der notwendige und heilsrelevante Rest, der sich über den Knecht bis zu den Knechten durchs ganze Buch zieht. Auf den letzten Seiten kommt der Vf. dieser Sichtweise nahe.
Insgesamt hat der Vf. eine beachtliche Analyse der ersten zehn Verse des Eingangskapitels vorgelegt, die in den zukünftigen Untersuchungen eine wichtige Rolle spielen wird.