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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1309–1311

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Homolka, Walter

Titel/Untertitel:

Übergänge. Beobachtungen eines Rabbiners. M. e. Vorwort v. M. Käßmann.

Verlag:

Ostfildern: Patmos Verlag (Schwabenverlag) 2017. 208 S. Geb. EUR 18,00. ISBN 978-3-8436-0924-1.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Walter Homolka ist Gründer und Rektor des Abraham Geiger Kolleg der School for Jewish Theology an der Universität Potsdam (daneben bildet das Abraham Frankel Kolleg für das konservative Judentum aus). H. ist Schüler und Freund von Walter Jacob, der 1939 in die USA emigrierte, in Pittsburgh/Pennsylvania zu einem führenden Rabbiner des Reformjudentums avancierte, nach dem Krieg mehrmals Deutschland besuchte und zusammen mit H. das Abraham Geiger Kolleg gegründet hat. H., Mitglied des Gesprächs kreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, nimmt, wie die Kritik an Benedikt XVI. Restitution des Karfreitaggebets zeigt, vornehmlich zum Problem Judentum – ka­tholische Kirche Stellung. In einer Reihe mit souveräner Kenntnis der Geschichte des Judentums geschriebener Texte, die aus Reden, Vorträgen und Zeitschriftenartikeln genommen sind (H. ist Ko­lumnist der österreichischen Wochenzeitung »Die Furche«), wird ein Bild des liberalen Judentums entworfen, wie es bisher in deutscher Sprache nirgendwo zu finden ist. Hinter H. steht Jacob, der geistige Vater des wiederentstehenden liberalen deutschen Ju­dent ums, das innerhalb des vom orthodoxen Zentralrat geleiteten deutschen Judentums immerhin 25 Gemeinden zählt. In diesem Buch wird an die Tradition des in Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg dominierenden liberalen Judentums angeknüpft.
Abraham Geiger und Leo Baeck sind die meistgenannten Autoritäten. »Pluralität des Judentums« ist der erste Abschnitt überschrieben (23–60). Auf Moses und den Empfang der Tora am Sinai, der schriftlichen (Tenach) und der mündlichen (Talmud) Tradi-tion, geht das mehr als dreitausend Jahre alte Judentum zurück. Die Erinnerung an den Holocaust stiftet ein zweites Einheitsband. Auch die liberalen Juden, die zunächst den Zionismus ablehnten, fühlen sich heute dem Staate Israel solidarisch verbunden, wenn sie auch wegen der fehlenden Trennung von Staat und Religion das in Israel dominierende orthodoxe Judentum äußerst kritisch betrachten.
Beim Judentum ist zwischen dem nationalen Judentum im Staat Israel und dem Diasporajudentum zu unterscheiden. Dieser Un­terschied ist fundamental. Da der Zentralrat der Juden vom orthodoxen Judentum geprägt ist, ist die Pluralität des Judentums der deutschen Öffentlichkeit ebenso wie den christlichen Kirchen kaum be­wusst.
Das Diasporajudentum hat seinen Schwerpunkt in den USA. Durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion bildet sich in Europa allmählich ein weiteres Zentrum des Diasporajudentums, für das die School for Jewish Theology in Potsdam eine besondere, erst in der Zukunft sich realisierende Bedeutung hat. In den USA fühlen sich nur wenige Juden der Orthodoxie zugehörig, die Mehrheit dem nichtorthodoxen Judentum, wobei das liberale Judentum (Reformbewegung) das konservative Judentum überwiegt. Bei einer Umfrage zur Jahrtausendwende bezeichneten sich zehn Prozent der Juden als orthodox, 26 Prozent als konservativ, 38 Prozent, also der größte Teil, als liberal und 20 Prozent sind als säkulare Juden zu verstehen (63). H.s gelegentliche Bemerkung, die Mehrheit der Juden sei liberal, bezieht sich auf die USA, nicht auf Deutschland. Die über 200.000 aus der früheren Sowjetunion eingewanderten meist säkularen Juden müssen in die jüdischen Ge­meinden erst integriert werden, worauf H. seine Hoffnung setzt. Da dies bei vielen nicht gelingt und die zehntausende Israelis, die in Berlin eine zweite Wohnung gefunden haben, sich dem Zentralrat und den jüdischen Gemeinden nicht anschließen, ist die Zahl der säkularen Juden in Deutschland höher als in den USA. H. macht hier keine Angaben. Nur die Hälfte der gegenwärtig in Deutschland lebenden Juden ist zur Mitgliedschaft in den jüdischen Ge­meinden bereit. Für die jüdische Gemeinde ist die Krise des religiösen Lebens viel dramatischer als für die beiden großen christlichen Kirchen durch den Mitgliederschwund.
»Religion und Moderne« – dieser Abschnitt (61–91) ist dem ge­widmet, was Jacob den Dialog mit der Tradition nennt. Das liberale Judentum ist kein Judentum »light«, das sich der Moderne an­passt, sondern zutiefst der Tradition verpflichtet, wie H.s ständige Berufung auf den Talmud zeigt. Doch gegenüber dem Tenach und dem Talmud ist das liberale Judentum nicht traditionsgebunden, sondern frei. Es gibt keine Offenbarung, an die der liberale Jude gebunden ist wie der lutherische Theologe an das Schriftprinzip. Eine jüdische Glaubenslehre gibt es nicht. Es gibt keine jüdische »Orthodoxie«, sondern nur eine jüdische »Orthopraxie«. Der in Potsdam ausgeschriebene Lehrstuhl für systematische Theologie kann nur ein Lehrstuhl für Ethik, nicht für Dogmatik sein. Das von H. nach protestantischem Vorbild entwickelte Modell einer akademischen jüdischen Theologie findet hier seine Grenze.
Der Abschnitt »Juden – Christen – Muslime« (93–152) handelt vom Verhältnis des liberalen Judentums zu den beiden anderen abrahamitischen Religionen. Ausgehend davon, dass dem religiösen Gottesglauben eine »zivilisatorische Kraft« innewohnt, wird die Gemeinsamkeit aller drei Religionen betont. Gemeinsam ist der Glaube an einen Gott, den Schöpfer, Offenbarer und Richter. Ge - meinsam ist das Gebet, die Sorge für die Schwachen und Armen, die Erwartung einer besseren Zukunft für die Menschheit. Dabei wird, Abraham Geiger folgend, die Nähe des Judentums zum Islam im monotheistischen Gottesglauben stärker betont als zum Christentum. Kritisiert wird am Christentum, dass dem christlich-jüdischen Dialog eine Sonderrolle zugemessen wird.
Die Betonung der Gemeinsamkeit stellt nicht in Abrede, dass es zwischen den drei Religionen religiöse Gegensätze gibt. Juden glauben daran: »Der Mensch kann in seinem Leben frei zwischen Gut und Böse entscheiden« (135). »Frei durch das Gesetz« ist ein Absatz überschrieben (39 f.), in dem im Anschluss an Leo Baeck das Judentum als eine Religion des »du sollst« gekennzeichnet wird. Wenn im Christentum der Glaube im Zentrum steht, betrachtet das Judentum die Taten des Menschen als wichtigsten Ausdruck des religiösen Lebens (43). Alles bestimmendes Zentrum im Judentum ist das Gesetz. Die biblische Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit eröffnet die Vorstellung, dass die Menschen »die Möglichkeit besitzen, die Vernunft als Mittel zur ethischen Vollendung anzuwenden« (41). H. spricht von einer »Kluft zwischen Judentum und Christentum«, die in der Anthropologie bestehe. H. zufolge macht der Apostel Paulus »aus dem Gehorsam gegen Gottes Gebot eine Schuld und raubt dem Menschen damit die Würde, sich aus eigener Kraft durch das richtige Handeln zu rechtfertigen« (129). Radikaler kann der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und lutherischer Rechtfertigungslehre nicht bestimmt werden.
Wenn Christen aus Begeisterung für das Judentum in der Karwoche Pessach feiern, hat das nach H. weniger mit Einfühlung als mit Vereinnahmung zu tun (131). »In der Differenz die eigene Identität aufzuspüren ist vielleicht der beste Weg zum Dialog.« (131) H. gibt den Christen die gleiche Mahnung, mit der in den Jahrzehnten vor dem Dritten Reich der Stuttgarter Rabbiner Rieger seine jüdischen Glaubensbrüder warnte, sich in der religiösen Praxis dem Christentum anzupassen (»Anpassung zwischen Christen und Juden ?« C. V. Zeitung vom 10. Juli 1927). Unwillkürlich zeigt H., dass heute in der Christenheit eine verblüffende Ähnlichkeit be - steht mit dem Klima der Anpassung, das zu Beginn des 20. Jh.s das deutsche Judentum bedrohte.
Für H. ist wichtig, dass der von Abraham Geiger erstrebte Zweck, dass jüdische Theologie durch ihre Integration in das Universitätssystem auf Augenhöhe der christlichen Theologie begegnen kann, heute erfüllt ist. Deshalb kann jüdische Theologie ohne Rücksicht auf christliche Theologie ihre Eigenart beschreiben. Man kann nur hoffen, dass die evangelische Theologie das Angebot, mit der liberalen jüdischen Theologie ins Gespräch zu kommen, annimmt.