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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1302–1304

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Krause, Christin

Titel/Untertitel:

Mit dem Glauben Berge versetzen? Psychologische Erkenntnisse zur Spiritualität.

Verlag:

Berlin u. a.: Springer-Verlag 2015. XIII, 204 S. m. 12 Abb. = Kritisch hinterfragt. Kart. EUR 14,99. ISBN 978-3-662-48456-2.

Rezensent:

Michael Utsch

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Belzen, Jacob A. van: Religionspsychologie. Eine historische Analyse im Spiegel der Internationalen Gesellschaft. Berlin u. a.: Springer-Verlag 2015. XI, 277 S. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-662-46574-5.


Die Religionspsychologie ist in Deutschland noch immer eine vernachlässigte Disziplin und nach wie vor ein dorniges Terrain. Als Kind zweier zerstrittener Eltern – Theologie/Religionswissenschaft und Psychologie – hat sie in Deutschland bislang keine Heimat in einer akademischen Disziplin gefunden. Allerdings ist auch hierzulande seit einigen Jahren ein »spiritual turn« in der sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Forschung und Ausbildung zu beobachten, der aufhorchen lässt. Denn obwohl deutschsprachige Theologinnen und Theologen viel beachtete und differenzierte religionspsychologische Lehrbücher vorgelegt haben (Anton Bu­cher, Weinheim 2014; Bernhard Grom, München 2007 [vergriffen], Susanne Heine, Göttingen 2005 [vergriffen]), fehlten genuin psychologische Zugänge zum Thema. In den letzten Jahren hat sich das durch einige Neuerscheinungen geändert, zwei davon werden hier besprochen.
Zwar sind beide Autoren Psychologen, aber ansonsten unterscheiden sie sich sehr. Jacob A. van Belzen ist international gut vernetzt und zählt zu den bekanntesten europäischen Religionspsychologen. Er ist Lehrstuhlinhaber für Psychologie an der Universität von Amsterdam und war einige Jahre der Vorsitzende der ältesten religionspsychologischen Fachgesellschaft, der Internationalen Gesellschaft für Religionspsychologie, die 2015 ihr hundertjähriges Jubiläum feierte. Dieser Geburtstag war auch Anlass für die historische Analyse des Vf.s.
Wer meint, der Blick in die Entstehungsgeschichte einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft müsse aus langatmigen Abhandlungen zu ermüdenden Einzelheiten bestehen, irrt sich gewaltig. Der Vf. setzt seine Gabe als begnadeter Erzähler ein, um den Rivalitätskampf zwischen theologischer und psychologischer Deutungsmacht anschaulich und mitreißend darzustellen. Als langjähriges Vorstandsmitglied der Gesellschaft verfügt der Vf. über das nötige Hintergrundwissen, die Konflikte und Richtungsstreitigkeiten ausgewogen darzustellen. Es gelingt ihm, das Ringen um die Identität einer neuen Einzelwissenschaft einzubetten in die wissenschaftshistorisch spannenden ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts, in denen sich die empirische Psychologie mühsam von der Theologie emanzipierte. Seine Analysen sind stets mit entsprechenden Quellen – zum Teil sind das Briefexzerpte – belegt. Dabei kommen spannende Details zum Vorschein, die tiefe Einblicke in die Machtstrukturen der Wissenschaftspolitik gewähren. Hilfreich und wohltuend wirkt sich dabei die beschreibende Zurückhaltung des Vf.s aus, der die Sache der Religionspsychologie fördern möchte, sich aber einer weltanschaulichen Positionierung enthält und besonders im Epilog für eine pluriforme Religionspsychologie als wertneutrale Sozialwissenschaft wirbt.
Der Hauptteil seiner Arbeit beschreibt differenziert das geistige Klima um 1900 als Nährboden der akademischen Religionspsychologie, die Konflikte um eine theologisch bzw. psychologisch orientierte Religionsforschung, den Streit um angemessene Methoden und den Verlauf richtungsweisender Kongresse. Wer sich näher für die Verwicklungen der komplizierten Entstehungsgeschichte der deutschen Religionspsychologie zwischen kirchlichen und akademischen Interessensverbänden interessiert, findet hier reichlich Quellenmaterial. Ein sechsseitiges Namenregister im Anhang des Buches ist ein weiteres sinnvolles Hilfsmittel, die gründlichen Re­cherchen des Vf.s zu nutzen.
Der Vf. datiert den Beginn der Religionspsychologie um 1900, als sich auch die Psychologie als eigenständige Sozialwissenschaft zu etablieren begann. Als einen »deutschen Herold« stellt er den Pfarrer Gustav Vorbrodt (1860–1929) vor, der zwar eine merkwürdige, aber immer an der zeitgenössischen Forschung orientierte »Psychologie des Glaubens« (1895) vorgelegt habe. Wenn man sich allerdings nicht wie der Vf. auf die Jahrhundertwende fixiert, kann man den Beginn empirisch orientierter Religionspsychologie deutlich früher ansetzen. Der puritanische Prediger Jonathan Edwards (1703–1758) führte bereits 1746 erste empirisch-psychologische Studien durch, um echte spirituelle Erfahrungen von falschem Enthusiasmus zu unterscheiden. Im Pietismus wurde später die Seele zum Gegenstand frommer Techniken wie Bußkampf und Bekehrung. Den Pietismus des 18. Jh.s erklärte man deshalb auch als den Übergang von der kirchlichen Seelsorge zur Psychologie. Die sich gegen Ende des 19. Jh.s konstituierende moderne Religionspsychologie erhielt von Edwards psychologischen Studien der Bekehrung und Heiligung und dem Pietismus wichtige Impulse, die in der Darstellung des Vf.s fehlen.
Dennoch bereiten die manchmal humorvollen und selbstironischen Bemerkungen des Vf.s Lesespaß, der in historischen Darstellungen selten anzutreffen ist. Sein Gespür für Details der Geschichte und die Facetten des Psychologie-Theologie-Dialogs, die er an Experten-Disputen verdeutlicht, machen die Lektüre dieses spannenden Essays lohnenswert.
Das Buch von Christin Krause hat den Anschein einer akademischen Qualifizierungsarbeit, weil systematisch und gründlich die psychologischen Erkenntnisse zur Spiritualität zusammengetragen wurden. Der Band erscheint in der Publikationsreihe »Kritisch hinterfragt«, deren Ziel darin besteht, »wissenschaftlich fundierte Inhalte nicht nur informativ, sondern unterhaltsam und humorvoll in leicht verständlicher Sprache« zu vermitteln, wie der Klappentext ankündigt. Dieses Versprechen löst der Band auf weite Strecken ein. Grafiken, Tabellen und Bilder lockern den Textfluss auf, und griffige Zwischenüberschriften binden die Aufmerksamkeit des Lesers für die kurzen Textabschnitte. Mitunter fallen diese Elemente aber sehr oberflächlich und seicht aus. Eine halbe Seite füllt etwa die Abb. 8.1 aus, ein Waldweg mit der Bildunterschrift: »Licht und Schatten begleiten uns auf unserem Weg«, einige Überschriften wirken suggestiv, z. B. »Kann Spiritualität bei Substanzabhängigkeit helfen?«.
Die einzelnen Kapitel behandeln dabei zentrale Aspekte und Ausdrucksformen von Spiritualität, Zusammenhänge von Spiritualität mit der Persönlichkeitsentwicklung, der Gesundheit und Krankheitsverarbeitung sowie den schädlichen Auswirkungen be­stimmter Glaubensformen. Die Systematik der Kapitel, die gliedernden Zwischenüberschriften, das referierende Zusammenfassen relevanter Studien, deren Quellen am Kapitelende zu finden sind, sowie ein Fazit zum Abschluss sind hilfreiche Gliederungselemente, um die Fülle des Stoffs zu bewältigen. Im Duktus dieser Reihe streut die Vfn. immer wieder psychologische Grundlagen ein, die sie auf religiöse und spirituelle Fragestellungen anwendet.
Das flott geschriebene Buch hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Als erste Einführung in das weite Feld der Religionspsychologie kann es Neugierige mit diesem spannenden Wissens-gebiet in Berührung bringen. Aus psychologischer Perspektive werden hier systematisch aufbereitet wichtige Studienergebnisse referiert. Allerdings können in den kurzen Abschnitten derart komplexe Zusammenhänge wie religiöser Fanatismus, Schuldgefühle, Vergebungstherapie oder spirituelle Selbstheilungskräfte nur oberflächlich beschrieben werden. Im abschließenden Resümee drückt die Vfn. die Hoffnung aus, dass durch zukünftige Forschungen besser verständlich wird, wie und warum Spiritualität wirkt. Dazu sei die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychologie, Religionswissenschaft, Medizin und Kulturwissenschaft nötig. Die Fülle der Studienergebnisse wird aber möglicherweise manche überfordern. Hier könnte eine theologische Reflexion auf die anthropologischen Vorannahmen dem Leser helfen, die persönlich passende Deutungsfolie für sich zu finden. Ohne die existen zielle Fragerichtung der Theologie bietet dieses Buch immerhin eine gebündelte Faktensammlung, die der Leser sich individuell er­schließen muss.