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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1257–1259

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hamilton, Nadine

Titel/Untertitel:

Dietrich Bonhoeffers Hermeneutik der Responsivität. Ein Kapitel Schriftlehre im Anschluss an »Schöpfung und Fall«.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 447 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 155. Geb. EUR 85,00. ISBN 978-3-525-56450-9.

Rezensent:

Kinga Zeller

Das vorliegende Werk ist die geringfügig überarbeitete Fassung von Nadine Hamiltons Dissertation, die sowohl mit dem Bonhoeffer-Promotionspreis als auch mit dem Staedtler-Promotionspreis ausgezeichnet wurde. H. ist seit 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie I (Dogmatik) der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie 2014 promoviert wurde.
Die Bedeutung der Schrift für Bonhoeffers Theologie ist unbestritten; der Umstand, dass er selbst es nicht mehr schaffte, eine entsprechende Hermeneutik zu schreiben, bekannt. Hieraus ergibt sich das wertvolle Anliegen H.s, eine solche aus Bonhoeffers Schriftgebrauch sowie aus expliziten Aussagen zur Schrift und relevanten Aspekten seiner Theologie zu deduzieren und in Abgrenzung zu anderen Ansätzen zu profilieren.
Hierzu übernimmt sie aus der bisherigen Forschung als Grundannahmen vor allem die Christozentrik in Bonhoeffers Auslegung, außerdem die Rede von einer »Vergegenwärtigung des Wortes Gottes in Raum und Zeit« (26), die existenziell auf den je individuellen Leser wirke, und einen darauf basierenden Blickwechsel, gemäß dessen »nicht mehr vom Leser als dem Subjekt der Auslegung zu reden ist, stattdessen aber von Christus selbst, der den Menschen in seiner Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes ganz in das fremde Evangelium hineinführt […]« (27).
Methodisch verfährt H. so, dass sie zunächst Bonhoeffers Schriftverständnis im Gegenüber zu anderen Zugängen erarbeitet, um anschließend die so erkannte, implizite Hermeneutik in ihrem positiven Gehalt darzustellen. Hierzu kontrastiert sie zunächst Bonhoeffers formale Bibelbetrachtung mit der historisch-kritischen Methode einerseits und einem Biblizismus altprotestantisch-orthodoxer sowie pietistischer Fasson andererseits.
Im Hinblick auf Ersteres sei Bonhoeffer durchaus auf der Höhe seiner Zeit, sich darüber hinaus aber auch der Begrenzungen dieser Methode bewusst. Entgegen seinen Lehrern gehe es ihm um eine Endtextexegese, weil er die Bibel in ihrer vorliegenden Form als Wort Gottes betrachtete und jeder Zurücksetzung dessen durch eine Höhergewichtung der zugrunde liegenden Quellen wehren wollte. Bezüglich Letzterem sei festzustellen, dass Bonhoeffer zwar von Gottes Urheberschaft der Texte ausgehe (und damit zunächst nah an einer altprotestantischen Verbalinspirationslehre sei), allerdings die Bindung des Gotteswortes an das Menschenwort behauptet und berücksichtigt wissen wolle.
Durch die Schrift ereigne sich die Offenbarung im Sinne eines lutherischen sacra scriptura sui ipsius interpres: »Weder Buchstabe noch Ausleger sind es dann, welche der Schrift ihren Sinn geben oder diese verständlich machen können; im Gegenteil will Bonhoeffer dem Text die Fähigkeit zugestehen, das zu sagen, was er zu sagen hat« (83). Hierzu dürfe nach Bonhoeffer kein hermeneutisches Prinzip vor eine Auslegung gesetzt werden, sondern müsse das Prinzip aus der Schrift selbst stammen (womit die Christozentrik begründet ist). Auch betrachte er eine wissenschaftlich-sachliche Herangehensweise an die Texte als verfehlt, weil in einer solchen die Aktivität beim Menschen liege. Stattdessen sei mit einer »inneren Bereitschaft, das Wort Gottes zu hören« (122) an die Bibel heranzutreten. H. erkennt hierin Ähnlichkeiten zu pietistischen Ansätzen und arbeitet heraus, dass sich Bonhoeffer insofern von solchen unterscheide, dass Erstere den Menschen selbst und sein Frommwerden ins Zentrum stellten, wohingegen letzterer gerade das vermeiden wolle: Die Schrift lege sich eben selbst aus und wirke hierzu existenziell in ihrem Leser. In dieser Zuspitzung ergibt sich konsequent die nächste Kontrastierung H.s, diejenige Bonhoeffers zu Bultmann. Sie extrapoliert, dass sich beide bezüglich ihres Existenz- als auch bezüglich ihres Erkenntnisbegriffes unterscheiden, sowie in ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Philo sophie und Theologie, was sich u. a. darin ausbuchstabiere, dass Bultmann sein Entmythologisierungsprogramm entwickele, um dem modernen Menschen ein Verstehen zu ermöglichen, wohingegen Bonhoeffer im Mythos gerade die Sache selbst erkenne und sich für diese auch vor einem sacrificium intellectus nicht scheue.
In der Systematisierung ihrer Ergebnisse, in der H. der Schärfung halber »mit Bonhoeffer über Bonhoeffer hinaus[…]« geht, zeigt sie schließlich, dass dieser eine responsive Hermeneutik vertritt und sich seine Schriftauslegung als ein sakramentales Geschehen verstehen lässt: »Die Bibel als Wort Gottes ist die Person Jesus Chris­tus, sie ist damit in ihrer Selbstvergegenwärtigung als Wort Gottes an sich eine Art und Weise des Ursakramentes […]« (394). Subjekt der Schriftauslegung sei der sich mitteilende Christus, Auslegungsobjekt der so zum Respondieren angesprochene Rezipient. Ort der Auslegung sei die Kirche, die ihrerseits mit der Schrift durch einen sakramentalen Zirkel verbunden sei, »führt doch Schriftauslegung nach Bonhoeffer unweigerlich in die Kirche, weil das Wort in seinem Vollzug die Gemeinschaft schafft, und von der Kirche zur Schrift, weil die Gemeinschaft die Schrift erst als Wort Gottes erkennt« (396).
Neben den Profilierungen Bonhoeffers, vor allem gegenüber Bultmann, lässt sich zudem als ein weiterer, wichtiger Ertrag der Arbeit hervorheben, dass H. zeigen kann, dass und inwiefern »[sich] Dietrich Bonhoeffers Werk […] auf hermeneutischer sowie materialdogmatischer Ebene wesentlich einheitlicher [erweist], als dies bisher oft wahrgenommen wurde« (338).
Kritisch anmerken ließe sich, dass eine explizite Erarbeitung der Bonhoefferschen Lutherrezeption in Hinblick auf dessen sola scriptura fehlt, obwohl H. selbst festhält, dass »Bonhoeffer sich ausdrücklich in der lutherischen Nachfolge und dessen Hochhaltung des sola scriptura sieht« (132) und Luther, nach Bultmann, die Person ist, die laut Namenregister die häufigste Nennung erfährt. Entgegen dieser qualitativen wie quantitativen Relevanz erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Reformator in der Regel nur am Rande und erscheint zumindest einem Lutherforscher verkürzt. Eine kritische Erörterung hätte hier wertvolle Klärungen bringen können und vermutlich geholfen, Bonhoeffers Position weiter zu profilieren.
Offen bleibt zum einen H.s eigene Positionierung zu ihren Er­gebnissen; Wertungen ihrerseits treten allenfalls als implizite auf und in einer Kritik Bonhoeffer gegenüber bleibt sie in der Regel verhalten. Entsprechend fehlt ein Aufzeigen bestehender Probleme oder Schwierigkeiten des Bonhoefferschen Konzepts einer responsiven Hermeneutik. Zum anderen und damit zusammenhängend die Verortung der Ergebnisse in aktuellen hermeneutischen De­batten. Die Nähe zu rezeptionsästhetischen Ansätzen ist augenfällig und H. baut selbst Aussagen entsprechender Vertreter in ihre Erörterungen ein: Sie rekurriert auf Wolfgang Isers Konzept des Leseaktes und auf sein Verständnis der Wirklichkeitserschließung (321 f.). Ebenso bezieht sie sich in diesem Kontext auf Paul Ricœurs Verstehensbegriff. Hier werden Theorien herangezogen, deren Passung untereinander und mit Bonhoeffer einer eigenen Diskussion bedürften. Angesichts des Umfangs der Arbeit und dem Anliegen, Bonhoeffers Hermeneutik herauszuarbeiten, ist dies allerdings keineswegs als inhaltliches Versäumnis zu beanstanden, allenfalls als Denkimpuls für Interessierte mitzugeben.
H. arbeitet sehr sauber und klar strukturiert. Ergebnisse werden regelmäßig summiert, auf bereits Erarbeitetes wird an entsprechenden Stellen hingewiesen. H.s Methode und das damit verfolgte Ziel sind ebenso durchweg transparent wie die behaupteten Grundannahmen. Damit gestaltet sich das Werk als sehr leserfreundlich und es ist H. zu wünschen, dass ihre hier grundgelegten Einsichten in Bonhoeffers Hermeneutik nicht nur Eingang in Diskussionen der Bonhoefferforschung finden, sondern auch in gegenwärtige hermeneutische Debatten.