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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1204–1206

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Finnern, Sönke, u. Jan Rüggemeier

Titel/Untertitel:

Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch.

Verlag:

Tübingen: Narr Franke Attempto 2016. 330 S. m. Abb. = UTB, 4212. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-8252-4212-1.

Rezensent:

Philipp Betz

Mit diesem Buch haben Sönke Finnern und Jan Rüggemeier es sich zum Ziel gesetzt, die in den exegetischen Proseminaren vermittelten Methoden neutestamentlicher Exegese zu überarbeiten und sie um aktuelle Ansätze zu erweitern. Neben den etablierten Methodenschritten greifen sie dazu auch auf aktuelle sprach- und literaturwissenschaftliche Zugänge zurück, die sich vor allem der Narratologie des sogenannten cognitive turn verpflichtet fühlen, indem sie den Lektüreprozess und damit die Wechselwirkung zwischen Leser und Text als für das Textverständnis maßgeblich verstehen. Damit hebt sich das vorliegende Buch deutlich von den übrigen Methodenlehren auf dem Markt ab, in denen noch immer die aus literaturwissenschaftlicher Sicht eher veralteten, strukturalistischen und rein textimmanenten Ansätze dominieren. Das »Lehr- und Arbeitsbuch« macht es sich zur Aufgabe, diesen Zugang in ein auch für Studienanfänger brauchbares und praxisnahes Konzept zur Analyse neutestamentlicher Texte zu überführen, ohne dabei die »klassischen« Methoden historisch-kritischer Exegese auszublenden.
Im ersten von insgesamt 14 Kapiteln wird ein allgemeiner Einblick in Nutzen und Notwendigkeit von Methoden in der Exegese gegeben. Die Kapitel 2–12 behandeln als Teil I des Buches dann alle zur philologischen Textanalyse notwendigen Arbeitsschritte. Die letzten beiden Kapitel thematisieren als Teil II Ansätze exegetischer Fragestellungen, die über die eigentliche Methodenlehre bereits deutlich hinausgehen. Die im Aufbau angelegte Zweiteilung kann irreführend wirken, da sich hier keinesfalls zwei gleichwertige Abschnitte gegenüberstehen, sondern das Augenmerk schon dem U mfang nach deutlich auf den Kapiteln 2–12 liegt. Die beiden abschließenden Kapitel 13 und 14 dienen eher als Ergänzung, die die Studierenden zum weiteren eigenständigen Arbeiten anregen kann: Kapitel 13a thematisiert das Fragen nach der historischen Wahrheit hinter den biblischen Texten und berücksichtigt dabei besonders die Leben-Jesu-Forschung und ihre Methoden; Kapitel 13b forciert eine inhaltlich-thematische Auseinandersetzung mit den Bibeltexten; Kapitel 13c blickt auf die Möglichkeit eines gerade nicht wertfreien, sondern (z. B. ästhetisch oder ethisch) wertenden Umgangs mit biblischen Texten. Hier entstehen Anknüpfungspunkte auch für eine »engagierte Exegese« wie die feministische oder befreiungstheologische Exegese. Kapitel 14 schließlich rückt das praktisch-pragmatische Interesse in den Fokus und stellt Möglichkeiten vor, die methodisch erhobenen Erkenntnisse kreativ (z. B. im Rahmen eines Bibliodramas) oder wissenschaftlich (in der klassischen Seminararbeit) umzusetzen.
Während Kapitel 13 und 14 den Rahmen der meisten Proseminare aber sprengen dürften, sind die Kapitel 2–12 – wie für Methodenbücher beinahe schon üblich – so angelegt, dass die Erarbeitung eines Kapitels pro Semesterwoche zu bewältigen sein sollte. Die allermeisten dieser Kapitel haben einen Umfang von 15 bis 30 Seiten, lediglich Kapitel 11 zur Analyse von Erzähltexten, das ganze 62 Seiten umfasst, fällt aus diesem Muster deutlich heraus. Die Vf. selbst empfehlen die Erarbeitung dieses Kapitels im Rahmen eines Studientages. Die Unterteilung in vier Abschnitte (Perspektiven-, Figuren-, Handlungs- und Raumanalyse) dürfte aber auch eine Aufteilung des Stoffes auf mehrere Sitzungen ermöglichen.
Die Vf. verzichten bei ihren elf Arbeitsschritten auf die für die meisten Methodenbücher wesentliche, traditionelle Einteilung der Methoden (Textkritik, Literarkritik, Überlieferungsgeschichte etc.) und entwickeln stattdessen ein System aus fünf Textzugängen, denen jeweils verschiedene Arbeitsschritte zugeordnet werden. Einzelne dieser Textzugänge decken sich dabei durchaus mit den klassischen Methodenschritten: So entspricht die Textbestimmung in den Kapiteln 2 (»Äußere Kriterien«) und 3 (»Innere Kriterien«) sehr genau der Methode der Textkritik in den meisten anderen Methodenbüchern. Die Textentstehung in den Kapiteln 4 (»Entstehungskontext«), 5 (»Analyse der Vorgeschichte«) und 6 (»Re­daktionsanalyse«) dagegen behandelt Fragen, die üblicherweise (Teilen der) Literarkritik, Überlieferungsgeschichte und Redaktionskritik entsprechen. Im Rahmen der Textstruktur werden in Kapitel 7 (»Form- und Gattungsanalyse«) Aspekte der Formgeschichte, aber darüber hinaus in Kapitel 8 (»Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil«) auch solche der sprachlich-syntaktischen Textanalyse behandelt. Die Texterklärung versteht sich als Kombination traditionsgeschichtlicher Zugänge in den Kapiteln 9 (»Fragen stellen und Quellen finden«) und 10 (»Quellenauswahl und Interpretation«), sowie der narratologischen Textanalyse in Kapitel 11 (»Analyse von Erzähltexten«). Insbesondere mit Methodenschritten zur Raum- und Figurenanalyse liefert das Methodenbuch dabei wichtige neue Arbeitsgrundlagen für die oft noch zu stark in der strukturalistischen Textanalyse verhaftete exegetische Methodenlehre. In allen Abschnitten dieses Kapitels aber ist die Ausrichtung an kognitiver Narratologie deutlich erkennbar: So werden im Rahmen der Handlungsanalyse etwa Rezeptionserwartungen und Überraschungseffekte der Handlungsführung in den Blick genommen oder innerhalb der Figurenanalyse neben den klassischen Handlungsrollen auch die im Rezipienten hervorgerufenen Eindrücke thematisiert. Diesem Inter-essenschwerpunkt ist schließlich auch der letzte, in Kapitel 12 dargestellte Textzugang besonders verpflichtet: Die Textnachwirkung widmet sich ganz den (intendierten) Wirkungen der biblischen Texte auf ihre Rezipienten, also der Frage, ob Spannung, Emotionen, Mitgefühl beim Leser erzeugt werden sollen, oder aber auch, ob die Texte langfristige Wirkungen wie Überzeugungs- oder Verhaltensänderungen hervorrufen wollen.
Die Vf. haben ein äußerst empfehlenswertes Lehr- und Arbeitsbuch vorgelegt, das durchaus frischen Wind in die exegetische Me­thodenlehre bringen kann. Vorbehalten gegen das Vorgehen ohne die gewohnte Methodenaufteilung lässt sich entgegnen, dass viele der klassischen Methodenbezeichnungen wie Überlieferungsgeschichte, Traditionskritik oder Text-/Sprachanalyse ohnehin kaum (noch) die erwünschte begriffliche Eindeutigkeit aufweisen und für sehr unterschiedliche Zugänge stehen können. Vielleicht liegt darin auch tatsächlich, wie die Vf. gleich zu Beginn des Buches hervorheben, ein echtes Potential zur Anknüpfung etwa an die US-amerikanische Exegese, die teilweise ganz andere Methodenschritte kennt als die deutschsprachige. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, textanalytischen »Sonderformen« der neutes­tamentlichen Exegese wie dem Synoptischen Vergleich mehr Platz einzuräumen. Aufgrund seiner Bedeutung für die Quellenforschung des Neuen Testaments, aber auch für die Redaktionsana-lyse, hätte dieses Instrument zumindest in einem Exkurs eine eigene Behandlung verdient, auch wenn ihm von den Vf. zu Recht der Status einer eigenständigen Methode abgesprochen wird.
Insgesamt überwiegen m. E. jedoch deutlich die Vorteile dieses Methodenbuchs, das aktuelle poststrukturalistische und kognitionswissenschaftliche Zugänge aus Literatur- und Sprachwissenschaft in die exegetische Methodenlehre einbringt.