Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1116–1118

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wernsmann, Maria

Titel/Untertitel:

Praxis, Probleme und Perspektiven ökumenischer Prozesse. Ein Beitrag zur Theoriebildung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 440 S. = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 107. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04535-8.

Rezensent:

Jörg Bickelhaupt

Maria Wernsmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Münster. Mit der vorliegenden Arbeit wurde sie dort 2016 promoviert. Sie untersucht im vorliegenden Band Praxis, Probleme und Perspektiven ökumenischer Prozesse unter ständiger Bezugnahme auf Peter Lengsfelds Kollusionstheorie. Nach einer Einleitung (Kapitel 1) stellt sie in Kapitel 2 ihres Buchs diese Theorie sowie ihre Rezeption und erfahrene Kritik im Stil einer Relektüre vor. Lengsfeld ging es um den Hinweis auf ein Zusammenspiel oft »unbewusster Motive, Bedürfnisse und sonstiger Faktoren« (19) im ökumenischen Miteinander. Seine grundlegenden Begriffe der Beschreibung Ökumenischer Theologie als Theorie ökumenischer Prozesse waren »Wahrheit, Identität und Sozialität (Sozialgestalt)«. Mit ihrer Hilfe untersuchte er Probleme in ökumenischen Prozessen auf verschiedenen Ebenen (Ökumenische Theologie, Gemeinde, Kirchenleitungen) und problematisierte u. a. die scharfe Distinktion theologischer von sogenannten »nichttheologischen« Faktoren. Die Rezeption seiner Theorie blieb in den 1980er Jahren jedoch überschaubar. Neben positiv würdigenden Stellungnahmen wurde kritisch auf die Kontextgebundenheit von Lengsfelds Arbeitsbuch hingewiesen oder – etwa von Brosseder und Fahlbusch (vgl. 35.37) –, dass Lengsfelds Theorie ökumenischer Prozesse wie auch sein Ökumenebegriff bereits normative Bestimmungen enthielten und voraussetzten.
Auf dieser Grundlage skizziert W. in Kapitel 2.3. ihr weiteres Vorgehen in den folgenden Kapiteln und formuliert Leitfragen, die sie in Kapitel 4 aufgreift.
Ausgehend von der Leitdifferenzierung zwischen Ökumenischer Theologie sowie Ökumenik als wissenschaftlicher Disziplin, die sich u. a. mit den Grundlagen ökumenischer Theoriebildung befasst (53 f.), bestimmt W. in Kapitel 3 »Aufgaben, Methoden und Ansätze« der Ökumenik (Kapitel 3.1.), um danach Fragen der »Ökumenehermeneutik« (3.2.) zu erörtern sowie der »Theoriebildung und Bezugstheorien« (3.3.), die die Ökumenik anderen wissenschaftlichen Disziplinen entlehnt. Unter »Ergebnisse und Konsequenzen« (3.4.) beschreibt sie ihr weiteres Vorgehen: Die ökumenisch wohlbekannten Differenzierungen von »Sehen, Urteilen und Handeln« aus der katholischen Soziallehre und der Befreiungstheologie bilden (je einzeln) die hermeneutischen Zugänge in den Kapiteln 4–6. Lengsfelds Kollusionstheorie bestimmt W. »als ein Modell für Analysen auf der Makro-Ebene, das besonders auf die Multikausalität von Einflussfaktoren abzielt« (89) und von ihr »darum in dieser Arbeit als eine Art Metatheorie« (ebd.) eingeführt wird.
In Kapitel 4 analysiert W. auf der Basis der Kollusionstheorie zunächst das Zusammenspiel ihrer Grundbegriffe »Wahrheit, Sozialgestalt und … Identität der Kirchen in historischer Perspektive« (Kapitel 4.1.) anhand von vier Beispielen aus der Kirchengeschichte, um sich danach Entwicklungen und Prozessen aus der »Ökumenische(n) Praxis seit 1980« (Kapitel 4.2.) zuzuwenden.
»Einheit und Vielfalt in der Alten Kirche«, das »Morgenländische Schisma«, »Reformation, Gegenreformation und Konfessionalisierung« sowie die neueren Entwicklungen in »Freikirchen, pfingstlichen und charismatischen Bewegungen« werden unter der Fragestellung einer Interdependenz von Sozialgestalt (resp. sozialen Beziehungen) der Kirchen und deren Wahrheitsbewusstsein untersucht, sowie im Blick auf einen konstitutiven Zusammenhang von normativer Selbstbeschreibung der Kirchen und dem Gegensatz zu anderen Konfessionen.
Kapitel 4.1. erweist dabei »die unentwirrbare Verquickung von Identitätsbildung, Wahrheitsbewusstsein und Sozialgestalt bzw. Macht und Autorität« (238) in allen beschriebenen Beispielen als eine Gemengelage theologischer und zuweilen sogenannter nichttheologischer Faktoren.
Selbst wenn man diese Distinktion problematisierte, so öffnet W.s Hinweis, dass sich Trennungen – im Morgenländischen Schisma oder der Reformation – nicht schon dann vollzogen, »wenn unterschiedliche Wahrheitsvorstellungen vorlagen, sondern eher dann, wenn eine Sozialgestalt infrage gestellt oder von anderer Seite übergestülpt werden sollte« (239), für die Ökumene heute ungeahnte Möglichkeiten und Perspektiven. Eine Rezeption der von W. weiterentwickelten kollusionstheoretischen Perspektive erfordere natürlich, dass die rezeptive Hermeneutik der ökumenisch Handelnden und Entscheidenden nicht durch andere »Gründe« überlagert wird.
Beispiele für jene grundlegende Problematik beschreibt Kapitel 4.2., in dem W. ökumenische Dialoge, Formen ökumenischer Kooperation sowie ökumenische Prozesse und neue Realitäten aus der Zeit seit 1980 erörtert. Sie geht den Leitfragen (51) nach bzgl. der Rückwirkung eines Konsenses oder einer Konvergenz in Wahrheitsfragen, von Kooperationen sowie von Spiritualität und ökumenischem Lernen auf konfessionelle Identitäten und Sozialgestalten bzw. Lehren und fragt abschließend nach dem Zusammenhang von erzielten ökumenischen Fortschritten und den der eigenen kirchlichen Identität (Sozialgestalt, Lehre) geschuldeten Einschränkungen.
Als ein zentrales Gravamen erweist sich dabei die Beobachtung, dass bei Dialogergebnissen eher die eigene Identität im Text gesucht wird, als dass man aus ihm »Konsequenzen für die eigene Lehre und Praxis« (239) ableitete, also die Notwendigkeit, eigene Identitätsbildung als einen Prozess zu begreifen, in dem es u. a. um Transformation geht – ein Phänomen, das als retardierendes Element gegenüber der Notwendigkeit, eigene Strukturen zu verändern auch in den auf die Erklärung von Kirchengemeinschaft folgenden Prozessen beobachtet werden kann.
»Ökumenehermeneutische Reflexionen« (Kapitel 5) zur »Kollusionstheorie als Rahmen« (384) schließen sich an. Nacheinander greift W. Urteile und Theorien zu »Identität« (5.2.), »Sozialgestalt« (5.3.) und »Wahrheit« (5.4.) auf, bestimmt deren Grundverständnis und geht der Frage nach, inwieweit bei ihnen »wirklich von einem Zusammenspiel gesprochen werden kann« (48).
Die Erweiterung der bislang vorwiegend auf der Makro-Ebene (89) verwendeten Theorie Lengsfelds durch W. besteht dabei vor al­lem darin, dass sie mit ihrer Hilfe, sowie anderer Theorien und Urteile, Perspektiven erarbeitet, um auch die »Mikro- und Mesoebene ökumenischer Prozesse« (385) in den Blick zu nehmen. Wichtige neue Erkenntnisse bestehen dabei vor allem im Einbezug der Fragen nach Kontextualität sowie im Aufzeigen, dass heute »kollektive wie individuelle Identitäten höchst fluide« (385) sind, keinesfalls stabil und unveränderlich, was der Begriff immer noch konnotiert. Die Sozialgestalt der Kirchen und Konfessionen sei dabei der »Ort des ökumenischen Wandels« (386). Im Blick auf Einheit und Gemeinschaft als »orientierende Ideen« (ebd.) erweise es sich damit als entscheidend für den gegenwärtigen Einheitsdiskurs und dessen verschiedene Optionen, nicht dass, sondern »wie Wahrheitsfragen akzentuiert werden« (ebd.).
Die ökumenischen Dialoge bedürfen, so W. abschließend (Kapitel 6), nicht nur des propositionellen und semantischen Konsenses (388), sondern der Reflexion über Fragen der Sozialgestalt und der Identität. Genauso brauchten Kooperationen, die auf neue Sozialgestalten von Kirchen hinwirken, die gemeinsame Vergewisserung über Fragen des Glaubens und der Wahrheit, da sie sonst, hinsichtlich ihres ekklesialen Zieles, wirkungslos blieben (389).
Das hochkomplexe »Zusammenspiel verschiedener Faktoren« (9) auf den unterschiedlichen Ebenen ökumenischer Interaktion in einer solch profunden und kohärenten Weise zu beschreiben, wie es W. in ihrem Buch unternimmt, nötigt hohen Respekt ab. Sie liefert darin nicht nur einen grundlegenden Beitrag zur ökumenischen Theoriebildung, sondern auch zur Analyse ökumenischer Realitäten und Prozesse, an dem die in den unterschiedlichen Zusammenhängen ökumenisch Handelnden künftig nicht vorbeigehen können – und dies auch nicht tun sollten, etwa im Sinne eines in dem Buch selbst problematisierten Verständnisses von Identitätsbewahrung.