Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1110–1112

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, Spieß, Christian, u. Katja Winkler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2016. 324 S. = Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt, 2. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-77405-7.

Rezensent:

Stefan Muckel

Die Religionsfreiheit zählt zu den elementaren Grund- und Menschenrechten. Georg Jellinek sah in ihr sogar den Ursprung der Menschenrechtsidee. Die Belastbarkeit dieser Sichtweise wird heute zwar angezweifelt. Fest steht aber, dass Religionsfreiheit als gegen den Staat gerichtetes Grundrecht im politischen System deutlich früher anerkannt war als in der römisch-katholischen Kirche. Als Durchbruch muss insoweit die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit »Dignitatis Hu­manae« angesehen werden. Heute darf die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die katholische Kirche als gefestigt gelten. Die Enzykliken »Centesimus annus« Johannes Pauls II. von 1991, deutlicher noch die Enzyklika »Caritas in veritate« Benedikts XVI. von 2009, aber auch das Apostolische Schreiben »Evangelii gaudium« von Papst Franziskus aus dem Jahr 2013 belegen das deutlich. Franziskus spricht von der »Religionsfreiheit, die als ein fundamentales Menschenrecht betrachtet wird.« Sie »schließt die Freiheit ein, die Religion zu wählen, die man für die wahre hält, und den eigenen Glauben öffentlich zu bekunden« (Nr. 255). Ein »gesunder Pluralis mus«, der die anderen und die Werte als solche wirklich respektiere, beinhalte keine Privatisierung der Religionen mit der Zumutung, sie zum Schweigen zu bringen und auf die Verborgenheit des Gewissens jedes Einzelnen zu beschränken oder sie ins Randdasein des geschlossenen, eingefriedeten Raums der Kirchen, Synagogen oder Moscheen zu verbannen. Das sei, so Franziskus, eine neue Form von Diskriminierung und Autoritarismus. Der Re­spekt, der den Minderheiten von Agnostikern oder Nichtglaubenden gebühre, dürfe nicht auf eine willkürliche Weise durchgesetzt werden, die die Überzeugungen der gläubigen Mehrheiten zum Schweigen bringe oder die Reichtümer der religiösen Traditionen unbeachtet lasse. Religionsfreiheit und Pluralismus scheinen für die Kirche etwas Selbstverständliches geworden zu sein. Der Weg hierhin war aber verschlungen und steinig. Das im Einzelnen zu entfalten, unternimmt die vorzügliche Arbeit von Gabriel, Spieß und Winkler.
Das Werk besteht aus fünf Kapiteln, die die Schritte verkörpern, mit denen die Vf. ihrer Ausgangsfrage nachgehen. In einem ersten Kapitel geht es um die Textentwicklung der Konzilserklärung »Dignitatis humanae«. Hier stellen die Vf. nicht nur acht Textfassungen vor, die vor und während des Konzils erarbeitet wurden. Auch Einflüsse anderer Dokumente (u. a. der Enzyklika »Pacem in terris« von Johannes XXIII.), das eigentümliche Ringen kirchen- bzw. konzilsinterner Kräfte, ihre Argumentationsmuster und die Denkschulen, denen sie verhaftet waren, werden entfaltet (14–62). Hier wie an späteren Stellen des Buches wird deutlich, wie einerseits eine taktisch geschickte Minderheit sich bemüht, das Verfahren zu stören, um das Alte zu bewahren, aber andererseits auch innerhalb der Mehrheit, die für eine Neubestimmung der kirchlichen Position offen ist, schwierige Abstimmungsprozesse durchzuführen sind. Am Ende stand die Überwindung der Toleranzdoktrin zugunsten der Anerkennung von Religionsfreiheit als gegen den Staat (nicht die Kirche) gerichtetes Grundrecht im Sinne dessen, was Georg Jellinek mit dem Begriff status negativus umschrieben hat. Das jedenfalls ist, wie die Vf. herausgearbeitet haben, die Essenz der theologischen Diskussionen; eine rechtliche, auch kirchenrechtliche Betrachtung der Konzilserklärung wird dies zu­grunde zu legen haben.
Im zweiten und dritten Kapitel des Buches geht es um Begriffsklärungen. Das zweite Kapitel ist dabei den maßgeblichen staatstheoretischen und politik- sowie gesellschaftswissenschaftlichen Vorbedingungen der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit gewidmet (63–81), das dritte Kapitel dem Begriff der Religionsfreiheit selbst (82–112). So geht es zunächst um Säkularisierung, Individualisierung und Pluralismus, Liberalismus sowie das Verhältnis von Staat und Religion (auch um den Verzicht der Kirche auf einen katholischen Staat in der Moderne), bevor mit dem Begriff der Religionsfreiheit der zentrale Gegenstand der Konzilserklärung näher untersucht wird. Die »acht Dimensionen der Religionsfreiheit«, die das Werk auf S. 83 f. anbietet, sind zwar nicht ohne Weiteres in juristische Kategorien übersetzbar. Sie vermögen aber die Aspekte religiöser Freiheit aufzuzeigen, die in den Konzilsberatungen eine Rolle spielten (»mehr Freiheit«, »weniger Freiheit«, »Gleichheit extern«, »Gleichheit intern«, 84). Auch der Übergang der Kirche von ihrer vormaligen Toleranzdoktrin einschließlich der staatstheoretischen Ablehnung einer Trennung der Kirche von der politischen Ordnung hin zur Anerkennung religiöser Freiheit wird richtigerweise hier beleuchtet (91 ff.). Die berühmte Weihnachtsbotschaft Papst Pius’ XII. von 1942 und auch seine Ansprache vom 6.12.1953 über »Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft« deuten die Vf. als Zuspitzung der Toleranzdoktrin und damit als Ablehnung der Religionsfreiheit als Menschenrecht (98). Erst Johannes XXIII. leitet dann mit »Pacem in terris« die Wende von der Toleranz zur Religionsfreiheit ein. Zu Recht lenken die Vf. aber auch den Blick auf die Pastoralkonstitution »Gaudium et spes«, die gemeinsam mit »Dignitatis humanae« die »kopernikanische Wende« vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person und damit auch zur Religionsfreiheit vollzog (106).
Das vierte Kapitel des Buches zeigt verschiedene theologische und staatsphilosophische Versuche auf, die zur Erklärung der Neuausrichtung unternommen worden sind. Sie reichen von Arthur F. Utz, der eine Korrektur der kirchlichen Lehre zugunsten einer spezifischen Kontinuitätsthese in Abrede stellte, bis hin zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, der einen Bruch in der kirchlichen Lehre sieht und einen klaren Widerspruch der vorkonziliaren Staatslehre zu der des Konzils (113–196).
Schließlich werden im fünften Kapitel ausführlich Rahmenbedingungen aufgezeigt, die das Konzil beeinflussten und so auch die Entwicklung der Erklärung über die Religionsfreiheit (197–295). Hier werden u. a. so heterogene Phänomene wie der Nationalsozialismus, der wirtschaftliche Aufschwung der ersten Nachkriegsjahrzehnte im Westen, die Blockkonfrontation von Ost und West, der politische Katholizismus, aber auch das Charisma der beiden Konzilspäpste und seine Wirkung auf die Beratungen aufgezeigt. In einem resümierenden Schlusskapitel gelangen die Vf. zu einem differenzierten und nicht nur deshalb überzeugenden Ergebnis auf ihre Ausgangsfrage: Es gibt nicht die eine Antwort auf die Frage, wie die Kirche zur Religionsfreiheit gefunden hat. Es war vielmehr ein Geflecht von historischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (296). Die Vf. legen dar, dass aber selbst mit einem solchen Fazit den komplexen Zusammenhängen nur eingeschränkt Rechnung getragen wird. Gerade diese Komplexität und Differenziertheit zeichnen das Werk aus, das als wichtiges Buch zu einem epochalen Ereignis in der Kirchengeschichte, gelten darf.