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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1106–1108

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Heckel, Martin

Titel/Untertitel:

Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den »Schwärmern«.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 988 S. = Jus Ecclesiasticum, 114. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-154211-4.

Rezensent:

Boas Kümper

Aus der Flut aktueller Publikationen über die Reformation und insbesondere über Person und Werk Luthers ragt die hier anzuzeigende Studie des Tübinger Staats- und Kirchenrechtlers Martin Heckel nicht nur aufgrund ihres Umfangs hervor. Sie wendet sich vielmehr auch einem Gegenstand zu, der im zumeist theologische oder historische Perspektiven einnehmenden Schrifttum unterrepräsentiert ist: den rechtlichen Implikationen und Folgewirkungen der lutherischen Theologie. Hierbei handelt es sich jedoch um einen ungemein wichtigen Zugang zur Lehre Luthers, denn der Reformator konnte als Theologe seiner Zeit rechtlichen Fragestellungen überhaupt nicht ausweichen.
Das Werk gliedert sich in einen ausführlichen Prolog sowie sechs Teile. Im Prolog arbeitet H. »Die Rolle des Rechts angesichts der Wahrheitsfrage« heraus: Eignet allen Offenbarungsreligionen ein Absolutheitsanspruch, so musste die konfessionelle Spaltung im Zuge der Reformation notwendig zu einem Zerfall der Einheit sowohl des kirchlichen als auch des territorialen Rechts führen. Dies erforderte eine reichsrechtliche Rahmenordnung zur Wahrung des politischen Friedens, die 1555 im Augsburger Religionsfrieden gefunden wurde. Sie ermöglichte die Entfaltung der verschiedenen konfessionellen Selbstverständnisse und überbrückte die Kluft zwischen theologischem und säkularem Freiheitsbegriff. H. sieht hierin bereits eine zentrale Weichenstellung für das mo­derne Religionsrecht.
Der erste Teil informiert über »Eigenart, Rahmenbedingungen und Anfänge der lutherischen Reformation«. Die Vielfalt der Luther-Bilder und die Schwierigkeiten beim Zugang zu Luthers Lehre werden aufgezeigt, Kirche und Reichspolitik, theologische, politische und soziale Rahmenbedingungen vor dem Ausbruch der Reformation skizziert. Sodann zeichnet H. die Entwicklung vom Ablassstreit bis zur Bannandrohung gegen Luther nach, wobei er die enge Verknüpfung von theologischen und rechtlichen Fragen im Rechtsdenken und Rechtsleben der Frühen Neuzeit mit Nachdruck hervorhebt.
Luthers Werdegang und Grundlegung der Reformation sind Gegenstand des zweiten Teils. Luthers biographische Prägungen werden in den geistes- und theologiegeschichtlichen Kontext eingebettet, Ausgangspunkte und Grundannahmen der lutherischen Theologie rekonstruiert. Obwohl die Reformation sich zunächst entscheidend nicht auf der Grundlage von Rechtsakten, sondern »durch das Wort und den Glauben« vollzog, war sie doch in doppelter Hinsicht auf das Recht angewiesen (141 ff.): Das evangelische Kirchenwesen und das evangelische Territorium bedurften einer am neuen Bekenntnis ausgerichteten rechtlichen Ordnung, nach außen mussten sich die evangelischen Stände gegen die katholischen und gegen den Kaiser rechtlich absichern. H. setzt die reformatorischen Hauptschriften Luthers aus dem Jahre 1520 in Beziehung zu diesen rechtlichen Herausforderungen und belegt damit seine These, dass Reformationsgeschichte zu einem wesentlichen Teil auch Rechtsgeschichte ist. Er betont jedoch zu Recht, dass Luther – namentlich in der Freiheitsschrift – nicht etwa ein soziales oder politisches Freiheitsprogramm entfalten wollte.
Der dritte Teil beleuchtet die Auswirkungen der lutherischen Lehre auf die Entwicklung der kirchlichen Institutionen, inbesondere den Streit um das Papsttum, um den Kirchenbegriff und die Frage nach der Kircheneinheit sowie die theologische Auseinandersetzung um das Konzilsverständnis und das politische Ringen um ein »frey christlich Concilium«, das als reichsständische Forderung automatisch eine rechtliche Dimension erhielt. Eingehend rekonstruiert H. aber auch die evangelische Neubestimmung des Gottesdienstes, des Geistlichen Amtes, des allgemeinen Priestertums sowie des Bischofsamtes und somit die theologische Begründung des Kirchenrechts.
Der vierte Teil behandelt unter der Überschrift »Klärung und Festigung der Reformation« einerseits die Verbreitung und Konsolidierung der Reformation mithilfe der Reichsstände, insbesondere der Fürsten, andererseits aber auch die Spaltung der reformatorischen Bewegung und die Auseinandersetzungen Luthers und seiner Anhänger mit den Spiritualisten, Täufern, Antitrinitariern und Antinomern. In der Abwehr insbesondere der Spiritualisten und Antinomer vertiefte Luther auch seine Lehre von Gesetz und Evangelium, deren Bedeutung für die Ordnung der Kirche H. anschaulich herausarbeitet: Die Rechtfertigung durch den Glauben äußere sich in der Freiheit vom Gesetz und in der Hingabe an das Gesetz zum Dienst der Liebe. Eine eingehende Analyse erfährt auch Luthers Verständnis des weltlichen Naturrechts, das in den Kontext der zeitgenössischen Naturrechtslehren gestellt und dessen Rezeption aufgezeigt wird.
Der fünfte Teil wendet sich »Luthers Haltung zu den politischen Kräften und Konflikten seiner Zeit« zu und beleuchtet Luthers Kämpfe gegen den römischen Papst, den Kaiser, die Türken, die »Schwärmer« und die Bauern. Hier beobachtet H. in den theologischen Grundpositionen Luthers Kontinuität, in den Stellungnahmen des Reformators als »politischer Berater zwischen Naturrecht und Bergpredigt« jedoch eher Zögerlichkeit und situationsbedingte Wechselhaftigkeit (489 ff.). Anschaulich arbeitet er etwa den Kontrast zwischen dem Aufruf zu Liebe und Geduld in den Invokavit-Predigten und der Haltung Luthers in den Bauernkriegen heraus. Mit dem Verhältnis des Christenmenschen zur Obrigkeit ist so­dann ein wichtiger Teilaspekt der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre aufgerufen. H. umreißt dieses Großthema der lutherischen Theologie mit großer Präzision. Zu Recht unterstreicht er, dass Luthers Lehre das Eigenrecht der weltlichen Obrigkeit zugleich begründet und gegenständlich begrenzt, und weist auf ihre Zeitgebundenheit, aber auch auf ihre bleibende Bedeutung hin.
Auf »Nachwirkung und Vermächtnis« der Lehren Luthers blickt als Epilog der sechste Teil. Hier verzeichnet H. einen Verlust der theologischen Dimension des Kirchenrechts unter den Bedingungen des protestantischen Episkopal- und Territorialsystems und des landesherrlichen Kirchenregiments. Die fehlende theologische Betrachtung führte im 19. Jh. zur Zuweisung des Kirchenrechts an die juristischen Fakultäten und zu dessen Qualifizierung als »Ne­bengebiet des öffentlichen Rechts«. Für die theologische Be­gründung des evangelischen Kirchenrechts schlägt H. unter Rückgriff auf die Zwei-Reiche-Lehre die Unterscheidung eines menschlicher Gestaltung entzogenen Kernbereichs und weltlicher Randbereiche kirchlichen Wirkens vor (804 ff.). Dieser Ansatz vermag insbesondere die Weltlichkeit – und damit Gestaltbarkeit – zahlreicher kirchlicher Handlungsfelder zu verdeutlichen; zu Recht wendet sich H. insofern auch gegen einen »amateurhaften Umgang mit dem weltlichen Recht« unter Berufung auf »fromme Phrasen«.
Trotz seines Umfangs und der immensen Stofffülle liest sich das Buch ohne Mühe, sondern mit Genuss. H.s kraftvoller Stil und die intensive Einbeziehung der Quellen, insbesondere der Schriften Luthers, machen die Darstellung lebhaft und eingängig. Mit He-ckels Studie wird die Literatur über Luther und das Reformationsgeschehen um eine wichtige Perspektive und um ein herausragendes Werk ergänzt.