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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1104–1106

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Anke, Hans Ulrich, Wall, Heinrich de, u. Hans Michael Heinig[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch des evangelischen Kirchenrechts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XXII, 1165 S. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-154606-8.

Rezensent:

Christian Grethlein

Dieses – erste – Handbuch des evangelischen Kirchenrechts präsentiert den gegenwärtigen Wissensstand und zugleich eine gewisse Konsolidierung des als juristische Disziplin verstandenen Fachs. Vorausgehende Lehrbücher bahnten den Weg hierzu. Der Band umfasst fünf Hauptteile, jeweils in insgesamt 31 Artikel untergliedert. Etwas genauer sei der das Handbuch systematisch und historisch begründende erste Hauptteil »Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts« vorgestellt:
Unter der Überschrift »Grundfragen des evangelischen Kirchenrechts« kartographieren H. de Wall und M. Germann einleitend in zwei Schritten das Fach. Dabei markiert im ersten Teil de Wall konzentriert grundsätzliche Problemstellungen und präzisiert mit der Fokussierung auf die staatsanalogen Institutionen der evangelischen Landeskirchen in Deutschland den Gegenstand. Er versteht Kirchenrecht als »das durch eine evangelische Kirche kraft ihrer Selbstbestimmung gesetzte Recht« (5). Es umfasst
»die Verfassung der Kirche im weitesten Sinne, die Ordnung der Kirchengemeinden sowie das Recht der kirchlichen Amtsträger und anderen Mitarbeiter der Kirche; der äußere Rahmen der kirchlichen Amtshandlungen wie Taufe, Konfirmation, Trauung, der Bestattung und allgemein die äußeren Bedingungen von Gottesdienst und Seelsorge […] Es regelt ferner die kirchliche Mitgliedschaft, die Pflichten und Rechten der Mitglieder, die Rechtsverhältnisse der kirchlichen Einrichtungen und Werke, die Verwaltung der Kirche unter Einschluss des kirchlichen Vermögens, die kirchliche Gerichtsbarkeit« (6).
Diese Themen finden sich in einzelnen Beiträgen der vier folgenden Hauptteile und werden unter Berücksichtigung gegenwärtig aktueller Fragen entfaltet. In der rechtstheologischen Grundlegung bemüht sich de Wall um die Aufnahme theologischer Unterscheidungslehren. Als »ius divinum« gilt ihm das »Predigtamt« (30.33.36). Hinsichtlich von »Kirche« ist bei ihm eine Präferenz für die Kirchengemeinde als »Grundeinheit« (25) zu erkennen. In einem weiteren Anlauf rekapituliert Germann die Versuche, evangelisches Kirchenrecht grundzulegen. Dabei werden die klassischen Konzepte – von Sohm über Barmen III bis zu Dombois – präzise referiert. Merkwürdig ist allerdings, dass der ethische Ansatz Hans-Richard Reuters fehlt (im Literaturverzeichnis aber berücksichtigt ist). Bei ihm ergäbe sich begründungstheoretisch im Begriff der Freiheit eine Anschlussmöglichkeit sowohl an den menschenrechtlichen Diskurs als auch die Rechtfertigungslehre. Positiv konstatiert Germann – in weiteren Artikeln mehrfach zitiert: »Das Vertrauen der Getauften auf die in der Taufe verheißene Gegenwart Gottes ›mit uns‹ wird im Kirchenrecht praktisch.« (75)
Die zwei folgenden, materialreichen und erfreulich differenziert argumentierenden Beiträge von A. Thier und M. Otto rekonstruieren das evangelische Kirchenrecht historisch. Die im eben genannten Eingangsartikel gesetzten Grundsatzfragen und -entscheidungen erscheinen hier in ihrem historischen Kontext. Dabei arbeitet Thier u. a. eindrücklich die – trotz aller programmatischen Ablehnung – bestehende Verbundenheit evangelischen Kirchenrechts mit dem kanonischen Recht heraus. Otto weist u. a. auf die nach wie vor bestehenden, sich durch neuere gesellschaftliche Entwicklungen (Stichwort: »religiöse Pluralisierung«, 161) noch verschärfenden Spannungen bei der Begründung von evangelischem Kirchenrecht hin, für die er gegenwärtig keine überzeugende Lö­sung sieht. Von diesen beiden Beiträgen her lohnte es sich, die vorwiegend rechtsdogmatischen Überlegungen von de Wall und Germann noch einmal kritisch durchzusehen.
Ebenfalls erfreulich problembewusst ist die den ersten Hauptteil abschließende Darstellung von »Rechtsquellen und kirchliche Gesetzgebung« durch H. U. Anke. Auch hier zeigt ein historischer Rückblick die lange Zeit bestehende engste Verbindung der »Landeskirchen« mit der jeweiligen Obrigkeit, die bis heute deutlich prägend wirkt. Zugleich macht Anke auf die erheblich größere Relativität – und Relativierbarkeit – der Rechtsquellen-Thematik für evangelisches Kirchenrecht im Vergleich zum staatlichen Recht – und zum römisch-katholischen Kirchenrecht – aufmerksam.
Unterschiedliche Themen werden im zweiten Hauptteil bearbeitet. Rechtspositivistisch – ohne kirchengeschichtliche oder in­ternational komparative Hinweise – stellt J. Kuntze »Mitgliedschaft und Mitgliedschaftsrecht« dar. Ähnlich konzentriert, wenngleich im Einzelnen ausführlicher erörtert de Wall »Pfarrer und Kirchenbeamte«, wobei die aktuelle pastoraltheologische Diskussion ausgeklammert bleibt. Juristisch differenziert führt J. Joussen in »Das Arbeitsrecht in der Kirche« ein. Nicht zuletzt die sogenannte Loyalitätsrichtlinie wird hier ausführlich erklärt. Abschließend erfolgt durch A. Schilberg eine kurze Skizze zum »Ehrenamt«.
Der dritte Hauptteil eröffnet differenzierte Einblicke in die nur historisch zu erklärende Vielfalt der Organisation evangelischer Landeskirchen und ihrer Arbeit in Deutschland. P. Unruh erläutert »Grundlagen und Grundzüge evangelischer Kirchenverfassung«, P. Hübner, Chr. Heckel und Chr. Goos skizzieren materialreich jeweils die Rechtsgestalten Kirchengemeinde, Landeskirchen und deren regionale Untergliederungen. Dies wird ergänzt durch Ausblicke auf kirchliche Zusammenschlüsse, Einrichtungen und Werke (A.-R. Wellert) und die Ökumene (K. Hatzinger/P.-R. Schnabel).
Im vierten Hauptteil kommen »Handlungsfelder der Kirche« und damit vermehrt staatskirchenrechtliche Fragen in den Blick. Die Auswahl der Themen orientiert sich offenkundig an der konkreten Praxis: »Gottesdienst und Verkündigung« (H. Musonius); »Seelsorge« (J. Ennusch); »Mission« (H.-T. Conring); »Kindertagesstätten und Jugendhilfe« (R. Koch); »Schulische Bildung« (M. Richter); »Hochschulbildung« (H. M. Heinig/V. Vogel); »Der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag« (G. Klostermann); »Diakonischer Dienst« (N. Manterfeld); »Bestattung und Friedhöfe« (R. Penßel). Dementsprechend finden sich in den konkreten Ausarbeitungen unterschiedliche Schwerpunkte, teils eher allgemeine Erwägungen, teils ganz konkrete Detailinformationen. Hinsichtlich des diakonischen Dienstes, konkret der vorgeschriebenen Kirchenmitgliedschaft von Mitarbeitern, werden die Spannungen zwischen der Realität in der Unternehmensdiakonie und bestehenden kirchenrechtlichen Regelungen deutlich benannt. Hier besteht grundsätzlicher Reformbedarf (814–817).
Den Abschluss bildet ein »Verfahren, Vermögen, Kontrolle in der Kirche« überschriebener Teil. Das Spektrum reicht hier ebenfalls weit: von Verwaltungsverfahren (H. Wißmann) und finanziellen Themen (A. Kupke bzw. M. Droege) über datenrechtlich gegebene Herausforderungen (A. Ziekow) und Bauangelegenheiten (M. Frisch) bis hin zu Fragen der Aufsicht (H. Munsonius/Chr. Traulsen) und Gerichtsbarkeit (M. Germann). Auch hier überwiegen Darstellungen der gegebenen Rechtslage, mögliche kritische Diskurse da­zu werden, wenn überhaupt, nur kurz erwähnt.
Insgesamt liegt mit dem Handbuch ein umfassender Blick auf evangelische Landeskirchen in Deutschland aus juristischer Perspektive vor. Für diese große – und im Format des Handbuchs erstmalige – Leistung sei den Herausgebern auch von theologischer Seite sehr gedankt! Die fachlich ausgewiesenen Autoren und Autorinnen rekonstruieren vor allem die kaum überschaubare, meist nur historisch erklärbare Pluriformität in den Rechtsgestalten deutscher evangelischer Landeskirchen eindrücklich und stellen sie in ihrer rechtlichen Logik dar. Dass es in den einzelnen Beiträgen zu etlichen Überschneidungen kommt und die Literaturverzeichnisse der einzelnen Artikel recht unterschiedlich sind, dürfte im praktischen Gebrauch kaum stören, weil hier wohl jeweils einzelne Artikel gelesen werden.
Sachlich gibt es für die mit der Arbeit in und an Kirche Beschäftigten zwei wichtige Ergänzungen zu dem vorliegenden Opus, und zwar in empirischer und international ökumenischer Hinsicht: Das vor zwei Jahren erschienene »Hand­buch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung« (hrsg. v. Kunz, R./Schlag, Th.; ThLZ-»Buch des Monats« April 2015) rückt die weitgehend ausgeblendete, alltagsweltliche Bedeutung von Kirche bzw. deren Rückgang in den Mittelpunkt. Dazu öffnet die gleichsam ökumenische Parallel-Publikation den Horizont zur Weltkirche und deren vielfältigen Innovationen (Dessoy, V./Lames, G./Lätzel, M./Hennecke, Chr. [Hrsg.], Kirchenentwicklung. Ansätze – Konzepte – Praxis – Perspektiven. Paulinus: Trier 2015; ThLZ 140 [2015], 698). Von beiden Impulsen kann evangelisches Kirchenrecht profitieren.