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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1093–1095

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Claudia

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule.

Verlag:

Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh 2015. 260 S. m. 21 Abb. = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 19. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-78098-0.

Rezensent:

Henrik Simojoki

Religionspädagogische Grundlegungen und Gesamtdarstellungen haben in der Regel eine pragmatische Intention. Sie zielen darauf, die prüfungsrelevanten Kernbestände des Faches in möglichst komprimierter und übersichtlicher Form aufzubereiten. Damit tragen sie einem Grundbedürfnis Rechnung, das in Zeiten der Modularisierung eher noch zugenommen hat. Angesichts be­grenzter zeitlicher Ressourcen wünschen sich Studierende Kompaktdarstellungen, die ihnen eine effektive Prüfungsvorbereitung ermöglichen. Kurzum: Hier geht es um Information, nicht um Unterhaltung, weshalb die Lektüre entsprechender Werke oft zwar mit Wissenszuwachs und Erkenntnisgewinn, aber nicht wirklich mit Freude verbunden ist.
Die vorliegende Einführung von Claudia Gärtner belegt, dass das eine das andere nicht ausschließen muss. Die Intention des Buches reicht weiter, als die Titelformulierung vermuten lässt. Es geht G. darum, in kritischer Auseinandersetzung mit der religiösen Gegenwartslage den spezifischen »Eigen-Wert religiöser Bildung« (13–15.220) zur Geltung zu bringen und auf diesem Weg einen Beitrag zur Plausibilisierung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zu leisten.
Das Buch gliedert sich in vier Teile und insgesamt 21 Kapitel, die allesamt nach dem bewährten praktisch-theologischen Strukturierungsmuster »Sehen – Urteilen – Handeln« aufgebaut sind. Jedes Kapitel beginnt mit einem Fallbeispiel aus dem religiösen Feld, das die jeweils einschlägige Fragestellung exemplarisch oder pointierend erschließt. Anschließend wird der induktiv gewonnene Problemzusammenhang im Kontext der aktuellen religionspädagogischen Debatte durchleuchtet, wobei die Diskursbestände in einer Weise entfaltet werden, die zu eigenständiger Urteilsfindung und kritischer Positionierung anregt. Abgeschlossen wird der Dreischritt durch einen handlungsorientierten Impuls, der bestehende Praxis(konzepte) kritisch in Augenschein nimmt und Konkretisierungsoptionen für einen am besagten Eigen-Wert religiöser Bildung ausgerichteten Religionsunterricht vorlegt.
Der erste Teil hat seine systematische Mitte im viel beanspruchten, aber weitaus seltener explizierten Begriff religiöser Bildung. Dieser Begriff wird von G. nicht definitorisch eingegrenzt, sondern dimen­sional entfaltet. Leitend für die Darstellung sind sieben Dimensionen religiöser Bildung: die philosophische, die hermeneutische, die ethische, die spirituelle, die symbolisch-ästhetische, die liturgische und die communiale Dimension. Während sich die ersten vier und die siebte bereits existierenden Modellen verdanken, handelt es sich bei der symbolisch-ästhetischen und der liturgischen Dimension um individuelle Schwerpunktsetzungen G.s, die religionshermeneutisch nicht zwingend sind, aber im religionsdidaktischen Kontext einleuchten.
Im zweiten Teil wendet sich G. den Rahmenbedingungen religiöser Bildung zu. Als Leitgesichtspunkt dient ihr die auf Bildungsprozesse vielfältig beziehbare Beschreibungskategorie der Heterogenität. Diese wird zunächst historisch eingebettet und mit traditionellen Konzepten religiösen Lernens kontrastiert. Danach richtet sich der Blick auf die für den Religionswandel in der Spätmoderne charakteristischen Pluralisierungsdynamiken und die fortschreitende Ausdifferenzierung von Lebenswelten, die anhand der aus gutem Grund kritisch rezipierten Sinus-Milieustudien veranschaulicht wird. Es folgen Kapitel zur Entwicklungspsychologie und zur Inklusion. Schließlich werden die heterogenitätsbezogenen Überlegungen auf ihre schulorganisatorischen Konsequenzen hin befragt, wobei sich G. für einen konfessionell und interreligiös kooperativen Religionsunterricht ausspricht. In jedem Kapitel wird die jeweils reflektierte Heterogenitätsebene mit einem – mal enger, mal weiter – auf sie zugeschnittenen Ansatz religiösen Lernens verbunden.
Im dritten Teil rückt dann die für das gesamte Buch leitende Frage nach der Legitimation religiöser Bildung in der Öffentlichkeit vollends in den Fokus. Zunächst kommen mit dem anthropologischen und der kulturgeschichtlichen Argument zwei klassische Begründungsmuster zum Tragen, allerdings in originellen Reformulierungen. So wird beispielsweise die – traditionell ja tendenziell affirmative – kulturgeschichtliche Begründungsspur mit der dezidiert nicht affirmativen Perspektive gendersensiblen Lern ens gekreuzt. Zu Recht weist G. anschließend auf die mit der funktionalen Begründung einhergehenden Instrumentalisierungsgefahren hin – ohne allerdings den Unterschied zwischen einem funktionalen Religionsverständnis und einer funktional-(istisch)en Legitimation von Religion und religiöser Bildung durchgängig zu wahren. Schließlich wird auf der theologischen Fundierungsebene der für religiöse Bildung konstitutive Zusammenhang von Wahrheitsbezogenheit und Perspektivität ausgewiesen und für interreligiöses Lernen an der öffentlichen Schule fruchtbar gemacht.
Besonders programmatisch und – aus meiner Sicht – zukunftsweisend sind die vier Skizzen, die den gedanklichen Faden des Buches pointiert abschließen und gleichzeitig Anschlussmöglichkeiten für Weiterarbeit bieten. Ihnen ist gemeinsam, dass sie den Abstand zwischen der erfahrenen und erhofften Lebenswirklichkeit zum Ausgangspunkt einer stärker eschatologisch dimensionierten religiösen Bildung machen. Während Bildung im landläufigen Sinne auf eine Optimierung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten zielt, kann der spezifische Beitrag religiöser Bildung darin liegen, die Grenzen und Kehrseiten einer solchen Sicht auf Mensch und Gesellschaft einzuholen und im christlichen Horizont zu deuten.
In den Kapiteln des vierten Teils kulminiert auch die besondere Stärke dieses Buches. G. gelingt es vorzüglich, religionspädago-gische Grundfragen und Gegenwartsdiskurse mit einschlägigen Erfahrungs- und Phänomenbeständen im vorfindlichen, oft wildwüchsigen Feld religiöser Bildung zu verweben. Daher ist auch die etwas defensiv formulierte Überschrift nicht ganz glücklich, leistet das Buch doch im Grunde mehr, als den zunehmend begründungsbedürftig gewordenen Platz des Religionsunterrichts an der öffentlichen Schule argumentativ zu unterlegen. Es sind vor allem die unter dem Oberbegriff »Sehen« entfalteten Exkursionen in die gegenwärtige Religions- und Bildungslandschaft, die mich wünschen lassen, dass möglichst viele angehende und bereits in der Praxis stehende Religionslehrkräfte beider Konfessionen dieses Buch in die Hand nähmen. An autobiographischen Zeugnissen, religionskritischen Lehrbüchern, missglückten Politkampagnen und zahlreichen Beispielen aus der zeitgenössischen Kunst, Literatur und Populärkultur öffnen sich ihnen Antworten auf die religionspädagogisch oft vernachlässigte Frage nach der Relevanz der an­schließend präsentierten Theoriegehalte und Handlungsperspektiven. Kurzum: Hier wird nicht nur der Religionsunterricht plausibilisiert, sondern darüber hinaus die von Studierenden oft als praxisfern erlebte Religionsdidaktik.