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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1081–1084

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ruhstorfer, Karlheinz

Titel/Untertitel:

Freiheit – Würde – Glauben. Christliche Religion und westliche Kultur.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. 249 S. m. 1 Tab. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-78278-6.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Der hier anzuzeigende Band enthält elf je für sich stehende Artikel, wobei die meisten auf Vorträge zurückgehen, einige wenige schon veröffentlicht wurden und der letzte, zusammenfassende Beitrag eigens für diese Veröffentlichung verfasst worden ist. Karlheinz Ruhstorfer ist seit 2014 Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Philosophischen Fakultät der TU Dresden. Die meisten der hier publizierten Vorträge sind aus Anlass der Pegida-Demonstrationen, die 2014/15 besondere Aufmerksamkeit in der deutschen Medienöffentlichkeit gefunden haben, an katholischen Akademien und Bildungseinrichtungen gehalten worden.
Thematisch recht unterschiedlich ausgerichtet, werden die elf Artikel dadurch zusammengehalten, dass sie mehr oder weniger alle zu einer Rückbesinnung auf das Christentum als der religiös-weltanschaulichen Prägekraft einer die Universalität der Menschenrechte und die Unantastbarkeit der Menschenwürde verteidigenden »westlichen Kultur« auffordern. Der erste Beitrag (15–30), der grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von »Christentum und Kultur« vorträgt, nimmt die Säkularisierungsthese auf, um diese im Geist des Christentums zugleich gegen sich selbst zu wenden. Danach ist die moderne bzw. postmoderne, aufgeklärte bzw. postmetaphysische Kultur zwar unverkennbar eine solche, die die Züge des Säkularen trägt, durch weltliche Freiheit, die Trennung von Kirche und Staat, aber auch eine ganz offenkundig mehr und mehr ihre Mitglieder verlierende Kirche bestimmt ist. Aber, das unternimmt der Vf. zu zeigen, genau diese Säkularität verdankt sich dem Christentum. Das Christentum, so sagt er, ist der Wurzelgrund der individuellen Freiheitsrechte, der Anerkennung der unverletzlichen Würde eines jeden Menschen und auch der universalen Menschenrechte. Diese Errungenschaften der modernen westlichen Kultur wären ohne das Christentum und seinen Glauben an den Mensch gewordenen Gott nicht zu haben gewesen – obwohl zugleich nicht vergessen werden darf, wie lange sich die Kirchen, die katholische bis in die 1960er Jahre, gegen die Anerkennung der Menschenrechte gesträubt haben. Sie werden – und darauf kommt es dem Vf. in erster Linie an, nur dann eine Zukunft haben, wenn ihnen die religiös-weltanschaulichen Grundlagen, die sie dem christlichen Glauben verdanken, auch erhalten bleiben bzw. diese in ihrer kulturellen Bedeutung immer wieder zum Zuge gebracht werden.
Könnte dies doch etwas allzu stark nach einem neuen christlichen Kulturimperialismus klingen, so versucht der folgende Beitrag (Der Gott, den wir brauchen. Christsein in neuen Konstellationen, 31–47) diesem Eindruck entgegenzuwirken. Es wird die Ökumene der Weltreligionen ebenso eingefordert wie die Versöhnung metaphysischen und postmetaphysischen, modernen und postmodernen Denkens. Das mag etwas abenteuerlich klingen. Aber zuletzt kommt der Vf. auch hier wieder darauf zurück, dass das Christentum, indem es von der Gottesoffenbarung in dem Menschen Jesus herkommt, alle diese unvereinbaren Gegensätze in sich aufzunehmen und zu überwinden, bzw. ein konstruktives Verhältnis zu ihnen auszubilden in der Lage ist.
Den zeitgeschichtlichen Hintergrund, der den Vf. zu diesem energischen Plädoyer einer Rettung des »Abendlandes« durch Rückbesinnung auf seine christlichen Grundlagen veranlasst, verdeutlich am stärksten der dritte Beitrag, der einer Auseinandersetzung mit den Motiven der Dresdener Pegida-Demonstrationen gewidmet ist (»Pegida« ausbuchstabieren. Oder Ist das Abendland noch zu retten?, 49–62). Hier schärft der Vf. erneut ein, dass von einer Verteidigung des Abendlandes nur dort die Rede sein kann, wo die Menschen- und Freiheitsrechte, von denen westliche Demokratien leben, Anerkennung finden und deren religiös-weltanschauliche Grundlagen im Christentum erhalten bleibt. Er besteht zudem darauf, zu sagen: »Wir verteidigen das (christliche) Abendland am besten dadurch, dass wir uns der Schwachen und Fremden annehmen. Für Menschen, die Asylanten nicht aufnehmen, verachten oder gar ermorden, für die ist das Abendland bereits untergegangen.« (57)
Was geschehen könnte, sollte der Wille zur Verteidigung der westlichen Kultur und ihrer christlichen Grundlagen immer weiter erlahmen, der christliche Glaube immer schwächer und der Wille zur Kultur immer müder werden, versucht der Vf. mit einer Bezugnahme auf Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« zu zeigen. (IV. »Unterwerfung« (Houellebecq) Wie der Islam das Abendland rettet, 63–74). Der Vf. liest Houellebecqs Roman als Warnung an die Adresse des westlichen Europas. Für ihn ist es eine offene Frage, ob Europa den Weg der Unterwerfung unter starke, religiös doktrinäre Mächte geht, wie er dies gegenwärtig etwa in der durch Putin vollzogenen Erneuerung der alten Verbindung von Orthodoxie und Zarentum geschehen sieht. Oder »ob sich das freie, aufgeklärte, christliche Europa noch einmal zu einer inneren Er­neuerung aufraffen kann« (74).
Die Chance des freien, aufgeklärten Europa, sich gegen das Er­starken autoritärer, religiös sanktionierter politischer Mächte zur Wehr zu setzen, Freiheit und Menschenwürde zu verteidigen, sieht der Vf. in erster Linie eben darin, sich der christlich-religiösen Grundlagen der säkularen, aufgeklärten Kultur bewusst zu werden und dann für die Erneuerung eines mutigen und selbstbewussten christlichen Glaubens einzutreten – gerade nicht als Bollwerk gegen die aufgeklärte Moderne, sondern als deren lebendiger Wurzelgrund. Das arbeitet der nächste Beitrag heraus (V. Werte – Bildung. Unterwegs zur Würde des Menschen, 75–82).
Doch kann diese Erneuerung des Glaubens wirklich erwartet werden? Dieser Frage stellt sich der Vf. im sechsten Beitrag, insbesondere auf die entkirchlichten Verhältnisse in Ostdeutschland eingehend. (VI. Martyria. Weltoffener Dialog und Mut zum klaren Bekenntnis, 83–97). Statt über die angeblich allseits verbreitete Gottvergessenheit zu klagen, macht der Vf. jedoch auch hier wieder seine geschichtstheologische Argumentation auf, wonach das Chris­tentum genau in Europa seine »eigene Transformation in menschheitliche Ideale, aber auch in eine scheinbar gottlose Weltlichkeit und schließlich in ein pluralistisches Spiel der Kräfte hervorgebracht hat« (83). Das sollte einen gelassenen Umgang mit dem in Ostdeutschland alltagsweltlich begegnenden Atheismus möglich machen, ohne in missionarischen Bekehrungseifer zu verfallen. Denn wenn kraft ihrer Christologie die Theologie in Anthropologie mutieren kann, »dann dürfen wir das Fremde unserer scheinbar so gottlosen Tage als unser Eigenes begreifen. Der stets neue Gott verwirklicht sich nicht nur in der Kirche und ihren Strukturen, sondern in der Welt und ihrer Geschichte. […] So ist denn die Säkularisation nichts anderes als die Fortsetzung des Christentums mit anderen Mitteln.« (95)
Gottlos zu sein, kann sich in Formen einer das Säkulare aufnehmenden »Spiritualität« artikulieren. Das zeigt der Vf. im nächsten Beitrag, indem er auf neuerdings entwickelte Konzepte einer Spiritualität eingeht, die auf den Gottesbezug auch verzichten können, aber doch eine moderne Form des Christentums realisieren (VII. Topologie der Spiritualität, Genese und Geltung eines gehypten Begriffs, 99–115).
Das kann man allerdings so auch wieder nur deshalb sagen, weil das Kreuz und damit die Gegenwart Gottes unter seinem Gegenteil das Grundsymbol des christlichen Glaubens ist, wie der folgende Abschnitt im Rückgang auf die neutestamentlichen Grundlagen ausführt. (VIII. Das Kreuz mit der Erlösung. Die notwendige Paradoxie des Glaubens, 118–125)
Die beiden folgenden Beiträge (IX. Unwandelbarkeit oder Freiheit. Zum Verhältnis von göttlichem Wissen und menschlichem Willen, 127–174, sowie X. Vom Einen reden oder schweigen. Überlegungen zu Apophatismus, Monismus und Theismus, 175–208) füllen zwar die meisten Seiten, stehen aber nur in einem lockeren Verhältnis zur zeitdiagnostischen und geschichtstheologischen Grundthese dieses Buches. Es ist dem Rezensenten jedenfalls nicht recht ersichtlich geworden, was sie zu deren weiterer Begründung beitragen, zumal die theologie- und philosophiehistorischen Bezüge, die dabei aufgemacht werden, weithin sich auf Debattenlagen beziehen, die noch keine Veranlassung sahen und auch nicht sehen mussten, mit der Säkularisierungsthese sich zu beschäftigen.
Das abschließende Kapitel XI. (209–224) stellt hingegen die Grundthese des Buches noch einmal prägnant heraus, wonach sich die zu Recht einen universalen Geltungsanspruch erhebenden sä­kularen Werte des Westens der partikularen Geschichte des Chris­tentums verdanken und insbesondere die »Sakralisierung der Person« (Hans Joas) eine Konsequenz der Säkularisierung Gottes im Sinn seiner Mensch- und Weltwerdung in Jesus Christus darstellt. Diese These lohnt die Diskussion! Sie würde m. E. noch an Plausibilität gewinnen, wenn die Rede von Säkularisierung, die ja so gar nichts mehr mit der Erwartung eines Verfalls der Religion oder des baldigen Ende des Christentums zu tun hat, ihrerseits noch einmal einer religiösen bzw. religionstheologischen Interpretation zu­gänglich gemacht würde. Denn sie lebt ja ganz und gar von theologischen bzw. christologischen Deutungsmustern, wird deshalb nur für solche überzeugend sein, die überhaupt einen Sinn fürs Religiöse und seine kulturelle Präsenz – auch und gerade in deren modernen Transformationen – haben.